Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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72.

Rahel an Marwitz.

Freitag Nachmittag sechs Uhr vorbei, schneeig, hell, etwas blau am Himmel, d. 9t. April 1812.

Sittliche Menschen, die keine Narren sind, gestellt wie wir (das bißchen Modifikation rechne ich nicht), werden rein vom Tod berührt. Ich habe mich längst gewundert, keinen solchen Brief von Ihnen zu erhalten; die Gründe dieses Wunders und meiner Behauptung sind zu oft, zu lange dargelegt in allen meinen Briefen an Sie! »Grau in Grau.« Dies sind meine Worte schon vor Jahren an Varnhagen. So sollen die frischesten, biblischten, ich meine frömmsten, lebendigsten Gemüter ausdauern müssen? Mit mir ist es nur noch schrecklicher! Sie wissen, wo ich mit meinem Vergehen, meinem Verzweiflen hielt; nun hat grenzenlose Angst und Sorge den Fuß auf mich gesetzt. Angst vor Exzessen – von denen welche, einige, vorfallen, und Sorge, wie ich es nur bestreiten soll. Diese beiden niedrigsten Affekte, oder was es sonst ist, steht meine Seele, wie sie ist, lebendig nicht aus, sie schrollt in Untätigkeit zurück, und dies nur fühl' ich. Die edlern Klagen, das gerechte Vermissen schweigen; und wenn ich auch jetzt für Ruhe Glück und Seligkeit dem Himmel verpfände, so weiß ich von allem doch, wie es ist. Wie mir ist, ist keinem Gefangenen und keinem König im übelsten Zustand; entwickelt, dies nur mündlich! Ich habe einen Kommissär und einen Bedienten als Einquartierung; der Herr aber durch das größte Ungefähr wohnt wo anders! Reines Glück, welches sich in jeder Viertelstunde ändern kann. Ich sehe niemand, gehe nicht aus und fürchte mich unvernünftig. Sie haben mir vortrefflich geschrieben, und das Gefühl darüber wend' ich dazu an, daß es mir wenigstens die Kraft geben soll einen Brief zu schreiben, wenn auch nicht zu antworten. Ja, mein teurer Mitmensch – mehr noch als zufälliger Freund –, Sie drücken es aus, wie man über Gott nicht sprechen kann. Wenn der Begriff eines solchen Daseins nicht die Grenze des unsrigen ist, was ist er denn? Eine grenzenlose Unterwerfung muß es sein jedesmal, von etwas Unendlichem erzeugt, was in uns vorgeht, was wir auffassen! – Schneidende Messer sind es mir, wenn sie so dreist weg von Gott sprechen wie von einem Amtsrat und grade den Stummen, Übererfüllten von ihm ( ihm!) abwendig glauben. Diese Empfindungen machen mir auch jetzt wieder in der Bibel alle Reden und Gesetze in der Wüste. Ich werde meiner Nation ganz abgewandt; wenn ich auch Moses die Gerechtigkeit muß widerfahren lassen, daß er's mit sechsmalhunderttausend Jungvolk nötig hatte. Gräßlich geschrieben und vorgetragen ist es gewiß. Nur bis nach Josephs Geschichte ist es schön; so weit ich bin.

Diese Woche wollte ich einen Morgen Madam Schleiermacher besuchen: sie hatte Klavierstunde, und Nanny, die aus der Küche kam, führte mich mit Gewalt zu ihm, wo ich aus der reinsten Bescheidenheit weder hinein noch bleiben wollte. Er las in einem neuen Buche eines hiesigen Menschen, der die lutherisch-evangelische Vereinigung will, ich brachte ihm einen Teil von Heinrich Kleists Erzählungen wieder und wollte von ihm ein Buch und griff Spinoza. Ich lese ihn. Den habe ich mir zeitlebens anders gedacht. Ich verstehe ihn sehr gut. Fichte ist viel schwerer. Es ist sonderbar, mir kommt immer vor, als sagten alle Philosophen dasselbe, wenn sie nicht seicht sind. Sie machen sich andere Terminologien, die man ehrlich gleich annehmen kann; und den Unterschied find' ich nur darin, daß sich ein jeder bei einem andern Nichtwissen beruhigt, entweder aus einem solchen seine Deduktion anfängt oder sie dahin führt oder weniger streng es mit drunter laufen läßt. Spinoza gefällt mir sehr; er denkt sehr ehrlich und kommt bis zum tiefsten Absolutesten und drückt es aus, und hat den schönen Charakter des Denkers, unpersönlich, mild, still, in der Tiefe beschäftigt und davon geschickt. »Von den Gemütsbewegungen« ennuyiert mich, weil das Wichtige im »vom Geiste« schon vorkommt, und wie sich's weiter fortbewegt mir und uns allen genug bekannt ist, den abstrakten, einsamen Mann aber unterhielt, wie es scheint. So viel ich von Spinoza.Die Ethik des Spinoza, die die angegebenen Traktate enthält, erschien erst nach seinem Tode 1677. Ich lieb' ihn aber sehr, den Mann. Wissen Sie, was Faust Gretchen antwortet, als sie ihn fragt: »Glaubst du an Gott?« Das schönste Gebet! Welch schöne Gebete strömten schon durch eine Seele, die dies antwortet; wie wälzte da der Geist schon Gedanken empor! – Über Gerlach haben Sie Recht. Ich bin es überzeugt, Sie haben ihn göttlich beschrieben; wie unschuldig, wie ehrlich und wie wirklich gesehen, das erfindet man noch schwerer, als man's sieht. Das Abspeisen neumodischer Art mit dem Glaubenswesen ist meiner tiefsten Seele zuwider. Einzeln steht dieser Befehl, auf keinem Grund und Boden erwachsen, nicht auf Güte, nicht auf keuschem Auffassen der Geschichte, nicht auf Enthusiasmus des göttlichsten Exempels, nicht auf kinderhaftem Glauben an das, was Eltern und Lehrer meinen und lehren; auf schlechte Weise, wie Theater und Galerien besucht werden, hausen sie und disputieren und verschanzen sie sich gegen les ennuis (den »großen Verdruß«) in's neuerfundene Glaubenswesen hinein und herum! Und kaum paßt dies zur Wahrheit, die Sie mir von Gerlach loben, und die ich glaube. Sie lieb' ich doppelt wegen Ihrem Brief und Ihren Gebeten darin. Es giebt nichts anders! Wer nicht in der Welt wie in einem Tempel umhergeht, der wird in ihr keinen finden.

Ich kann Ihnen nichts schreiben, – als: trösten Sie mich! Machen Sie mir Hoffnung zu Sommer, zu Luft, zu »Grünem!« Zu anderm, als ich sehe, was mich ganz erdrückt. Leben Sie wohl! Varnhagen hat mir wieder einen Liebesbrief geschrieben, mit einer Einlage von Hrn. von Nostitz an mich, recht artig in jeder Art. Antworten könnt' ich dem aus Unseligkeit nicht. Varnhagen nur wenig, damit er nicht denkt, ich sei böse. Was ihm Graf Goltz geantwortet hat, weiß ich nicht, da Neumann seit zehn Tagen bei Fouqué ist und erst morgen wiederkommen soll. Zu Herrn von Winterfeld werd ich schicken, ich danke Ihnen. – Ich wünsche Sie wohl zu sehen! – aber nicht zum Zeugen meiner Angst. Kommen Sie! Adieu! Ach, wär' ich auf einem schönen, ruhigen Berg und sähe glückliche Familien! Adieu!

R.R.

Sch[leiermacher] fragte mich gleich höchst freundlich nach Ihnen, pour me plaire glaub' ich.


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