Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.

Marwitz an Rahel.

Bilenz, d. 10t. Mai, Donnerstag [1810].

Heute erhielt ich Ihren Brief, liebe Rahel, und will gleich antworten, wiewohl ich fürchte, daß nichts Gescheutes herauskommen wird, wegen Stimmung, Wetter, Ungemütlichkeit der ganzen Lage, Tatenlosigkeit nach innen und nach außen. – Ich wohne hier recht angenehm, auf dem Lande, drei Stunden vom Gebirg. Die Gegend ist frisch, das Dorf liegt an einem kleinen rauschenden Bach, der in mehrere Arme zerteilt zwischen lebendig grünen, reichlich getränkten Wiesen hinschlängelt und von mancherlei Buschwerk umgeben ist, Weiden, hohen Rüstern, Pappeln, Obstbäumen dazwischen, das alles mehrere Stunden weit, den Bach entlang, bald dicht daran, bald entfernter, in Gebüschen versammelt, ganz wie in einem Englischen Garten, und täglich frischer, grüner, blütenreicher. Viel schöner und anmutiger wäre dies alles, wenn wir das echte Frühlingswetter hätten, aber es ist bald drückend warm, und dann wieder wird alles plötzlich und auf mehrere Tage erkältet durch ein Gewitter oder einen Regen, der aber den Staub nicht bezwingt; ein rauher Wind fährt dann über die Gegend weg, und es ist, als ob all das Grün und all die jungen Blüten wieder vergehen und tot von den Bäumen und Gebüschen herabfallen müßten. So heute. Nichts von der heilsamen Frühlingsluft, die frisch und lebenskräftig, nicht heiß aber gelinde warm und von Kühlungen durchhaucht die Lungen erweitert, während die Erde weder dürr noch feucht ist; keine warmen Regenschauer am späten Nachmittage, nach denen die Sonne kurz vor dem Untergange wieder hervorbricht, den Regenbogen erscheinen läßt, während der Geruch von Gebüsch und Wiesen aufsteigt. Kalte Tage nach Gewittern deuten immer auf einen schlechten Sommer, und wir haben sie hier. Ich bin gar nicht wohl, auch physisch nicht; mir fehlt nichts Bestimmtes, aber die Lebenskraft, das frische Gesundheitsgefühl mangelt. Das Wetter ist daran schuld und die toten Formen des militärischen Lebens, in denen ich gezwungen bin mich herumzutreiben, und die mir den Sinn vernichten für die großen, innig begeisterten Regungen der Natur und das stille Bilden des Landlebens. Ferner die Gesellschaft, die ganz ohne Phantasie, ohne Wissen ist, die beste gutmütig und brav und nach der Seite des Herrschens und Befehlens hin gebildet, ohne Nahrung für Geist und Gemüt. Klarheit und Richtigkeit in äußern Lebensverhältnissen für die Darstellung sowohl wie für das Betragen ist das Höchste, wozu sie es gebracht haben, von intellektueller Bildung keine Spur. Was nicht Militär ist, ist gar unter aller Kritik, feig und ohne Selbstgefühl, durchaus gemein und sinnlos. Der Landmann ist ohne Charakter. Ich beschäftige mich wohl, treibe Mathematik, lese die Histoire des republiques italiennes du moyen age von Simonde Sismondi (die Sie auch lesen können; er ist begeistert für seine Nation und den Republikanismus und hat dabei eine Fülle der schönsten Geschichten), aber das alles ist unfruchtbar, weil es in dem Leben keine Haltung findet, weil es, wenn es wirken, wenn ich lernen sollte, ganz andre Stimmungen voraussetzt, als die ich in meiner Gewalt habe. O, die Einheit des Lebens zu finden, in der Beruf und Trieb in einander aufgehn, das Innre von dem Äußern und das Äußere von dem Innern rege getrieben wird, das ist so unendlich schwer. In mir stoßen und treiben sich die beiden Sphären, und diese Reibung macht mich oft verwirrt, fast immer leer, gelangweilt und abgeschmackt. Denken Sie, liebe R., sogar jetzt, indem ich Ihnen schreibe, ist mir nicht ganz festlich zu Mute, es ist als ob eine Wolke mir im Gehirn läge, die mir die frische Regung des Innern hemme und nichts in den Gedanken und Gefühlen recht sonnenbeglänzt hervortreten läßt. Alles, was ich Ihnen geschrieben habe, habe ich wohl gesehn, aber wie durch einen Flor, wie abgebleicht, nicht mit der Energie des gesunden, ungetrübten Auges. Kennen Sie den Zustand? Ich glaube nicht; er ist für Sie zu schlecht, Sie haben mehr geistige Gewalt. In mir ist er häufig, war es auch in bessern Zeiten.

Noch muß ich Ihnen meine Wohnung beschreiben. Ich habe den obern Stock eines großen, wohlgebauten Bauernhauses, zwei Zimmer, die an einander stoßen, das eine sehr geräumig mit vier Fenstern, die nach zwei Seiten hinausgehn, das andre kleinere mit einem. Die Fenster sind hoch, mit großen Scheiben, die Türen gebohnt und mit messingenen Schlössern. Aus jenem größern Zimmer weist die eine Aussicht gegen Abend. Bauerhäuser liegen vor mir, über die ich hinwegsehe nach höheren Feldern; rechts ist die Kirche, klein und einfach, dicht neben ihr geht die Sonne unter über dem Gebirg. Die andre Aussicht weist gegen Mittag und Morgen, auch auf Bauerhäuser und höher liegende Felder, weiter links auf eine kleine Wiese an jenem Bach, die reichlich mit hohen Baumgruppen bepflanzt ist. Auch zwischen den Häusern stehn Weiden und Pappeln. Die Zimmer sind ausgeweißt und sehr rein; in dem kleinern stehn ein paar Tische, an denen ich schreibe, eine Kommode und ein Stuhl, im größern mein Bett, einige Schemel, ein Spinde. Ich hatte dies Quartier anfangs sehr lieb gewonnen und habe es zu Zeiten noch lieb. Wie phantastisch ist es; was für eine wohl eingerichtete, mäßige und gesunde Existenz ließe sich darin führen! Jetzt aber macht es mir Langeweile; es verliert mir das harmlose, schon wegen des Korporalen, der täglich mit unzähligen Meldungen hereintritt über Sättel, Ställe, Rekruten und andre massive Dinge. Gleich nach meiner Ankunft war ich in Prag und sah Varnhagen. Seine äußere Lage ist ziemlich bequem.

D. 14t. Mai.

Dieser Brief, liebe Ralle, hat vier Tage gelegen. Ich habe ihn nicht abschicken wollen, weil ich Ihnen noch so vieles zu sagen habe, das ist aber unsinnig, denn ich habe ja ohne Ende mit Ihnen zu sprechen, und es muß daher jedes Abbrechen willkürlich sein. – Noch immer kein Frühling, keine Zufriedenheit. Ich gehe in einigen Tagen nach Töplitz, um vorläufig für Sie ein Quartier zu suchen; es soll schwer halten, weil der Kaiser auf einige Zeit hinkommt und mit ihm vieles Volk; auch vom Auslande her muß es in diesem Jahre stark besucht werden. Wann kommen Sie, liebe Ralle? Ich bin nur vier Meilen ab und kann Sie jede Woche wenigstens zwei Tage sehn, auch wochenlang da bleiben. Wie leben Sie jetzt in Berlin? Wen sehen Sie? Keinen intim. Vieles sollte ich Ihnen über Ihren göttlichen Traum sagen; ich habe die einfach wunderbare Gegend, das harmlos stille Haus deutlich gesehn; es ist ein wenig wie die Gegend am Ende des blonden Elbert von Tieck, nur reeller, weniger fabelhaft. Schade, daß wir die Landschaft nicht noch einmal im Mondschein gesehn haben, denn gewiß schien der Mond recht hell, und da wäre der dunkelgrün glänzende Berg göttlich gewesen; tiefgestreckte Schatten drüberhin und daraus die dicht belaubten Baumgipfel im Silberglanz hervortretend. Der Abbé war gewiß ein recht angenehmer Mann von einer verständigen, bewußten Herzensgüte, nicht auffallend geistreich, aber gescheut; seine Knaben muß er recht lieb haben, aber mehr wohlwollend als enthusiastisch. Den Brief von Paulinen behalte ich, bis Sie kommen. – Adieu, liebe Ralle. Antworten Sie mir gleich.

A.M.

Ich schreibe Ihnen ein andres Mal besser, gescheuter. Sagen Sie mir, ob dieser Brief nicht gar unter aller Kritik dumm und leer und abgeschmackt ist. Sie wissen, daß ich dies im heiligsten Ernst ohne Affektation frage. Ich möchte es wissen, weil die Briefe an Sie mir Dokumente für eine bestimmte Zeit sind und Urteile darüber auch die ganze Zeit beurteilen.

Bilenz bei Kommotau in Böhmen. – Simonde de Sismondi, Histoire des républiques italiennes du moyen age erschien 1807-18 in neun Bänden. – Der blonde Ekbert. Volks-Märchen von Tieck. 1796.


 << zurück weiter >>