Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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64.

Marwitz an Rahel.

Potsdam, Montag d. 3t. Februar 1812.

Ihren Zettel, liebe Rahel, habe ich heute früh erhalten. Ich werde an Willisen schreiben und den Brief hier einlegen. Meyer wird wohl die Gefälligkeit haben, ihn mit einer Anweisung auf 100 Gulden Konventionsgeld, welches ich Sie bitte ihm zu geben, an ein Bankierhaus in Wien zu schicken. Dort müssen Sie den Brief mit der Anweisung an Willisen besorgen, der auf der Zeichnungskanzlei zu erfragen ist. Ich glaube zwar nicht, daß er gefährlich krank ist, da er mir von kaltem Fieber schrieb, indes tue ich es auf allen Fall. Ich selbst bin nicht ganz wohl, d. h. nicht ganz frisch. Der Kopf ist mir ein wenig eingenommen, und ich fühle eine gewisse Seelenmüdigkeit. Ich habe viel gearbeitet, besonders viel gelesen, an den Vormittagen das ganze Pack Hardenbergscher Gesetze, am Nachmittag und Abend Aristoteles, an einem müden Tage, als Münster von hier weg ging, Duclos größtenteils; er gehört zu den durchaus subordinierten Geistern, alles charakteristische hat er von St. Simon; dabei weiß er nicht, daß er, der nichts selbst gesehen und erlebt hat, nicht Memoiren, sondern Geschichte schreiben muß. Die Zeit, die er schildert, ist traurig; überall die größte Erschöpfung, bigotte Superstition und ruchlose Lüderlichkeit matt kontrastierend; Alberoni ist der stärkste Kopf, er leistete nichts, weil ihm eine edle und herzhafte Persönlichkeit fehlte. Er war frei, brutal und umfassend, aber zugleich niederträchtig, daher imponierte und begeisterte er nicht, wurde auch noch mehr gehaßt und verachtet als gefürchtet. Charakteristisch für ihn ist, daß ihn der gichtische Marquis im Zimmer der Königin vom Stuhl aus prügeln konnte. Wem so etwas geschehen kann, der richtet nichts Großes aus. Den Regent charakterisiert die Geschichte, daß, als die Spanische Verschwörung entdeckt war, Dubois ihm am Abend die entscheidenden Papiere nicht mehr vorlegen konnte, weil seine Orgien anfangen sollten. Wäre das bei Louis möglich gewesen? Ich glaube wohl, wenn er in einer so welken, ruhigmatten Zeit aufgetreten wäre, wie die des Regenten war. Doch hatte Louis mehr Gemüt; die Talente des Regent drangen alle nur bis dicht ans Herz, sonst eine gräßliche Ähnlichkeit. Die nämliche Unfähigkeit zu einer ernsten, strengen, geordneten Tätigkeit, die nämliche innere Zerstörung durch ein unglückliches Verhältnis zu der herrschenden Linie und durch die daraus entsprungene übermäßige Lüderlichkeit, in der alle Seelenkraft mehr und mehr unterging, die nämliche Schwäche gegen schlechte Umgebungen, der nämliche Mut, dieselben gefälligen Gaben. Sie sahen es mit Schrecken und sagten es mir, wie sehr das fanfaron de crimes auf Louis paßt.

Ich las noch kleine lateinische und deutsche Schriften von Wolf, die lateinischen größtenteils kleine Vorreden zu den Lektionskatalogen der Universität Halle, vortrefflich geschrieben, mit den geistreichsten Wendungen und alles auf eine gediegen und großartige Ansicht des Lebens zurückführend. Vorn ist eine Gedächtnisrede auf Friedrich II., bei dessen Totenfeier in Halle für die Universität geschrieben, vortrefflich mit tiefster Veneration. Die deutschen Aufsätze bringe ich Ihnen mit. Viele seiner Schwächen und Schlechtigkeiten kommen darin hervor. Auch von Marheinecke (Professor in Berlin, der jetzt vielen Ruf hat unter den Theologen) las ich über Orthodoxie und Heterodoxie in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche, fleißig, aber kleinlich und aus ziemlich nüchternem Gemüt.

Nun noch die Chronik, liebe Rahel. Mittwoch Abend um acht nach schneller Fahrt hier angekommen. Ich ging mit Münstern aufs Kasino, war gräßlich müde, amüsierte mich aber doch an allerlei Lustigkeiten, die vorfielen. Bis Donnerstag Nachmittag blieb Münster, ich mußte mit ihm gehn und reden, am Abend las ich Duclos. Ich war sehr müde, konnte nach neun nichts mehr verstehen und gegen halb zehn die Augen nicht mehr aufhalten. Ich schlief lange; Freitag früh nahm ich die Gesetze vor (lose Ware, ein Gewebe von modern eleganter Dummheit, Unwissenheit, Lügenhaftigkeit und Schwäche; was Albernheit und was Gesinnungslosigkeit ist, kann man nicht unterscheiden). Gegen Mittag ging ich auf die Regierung; Salemon wollte bei mir essen, ich schlug es ihm ab. Nachmittag war der kleine Gerlach ein paar Stunden bei mir. Abend war Pikenik der Offiziere, ich da; Wiederholung der alten Bemerkungen; allgemeine Nichtigkeit, Frivolität, die halb aus innerer despondency hervorgeht; bei Tisch saßen sie in großen Haufen beisammen, sprachen aber nicht ein Wort, – ein gräßlicher Beweis, wie sehr aller esprit de corps unter ihnen untergegangen ist; ich habe Ihnen wohl erzählt, wie in Östreich über die beschränktesten Gegenstände ewig gesprochen wurde, weil Interesse für einander und für diese Gegenstände da war. Ich sprach mit der Bassewitz und einer andern hübschen Frau; sie ennuieren mich. Sonnabend war ich bis auf die Klavierstunde den ganzen Tag zu Hause und saß fest bei den Gesetzen, Aristoteles und Marheinecke. Der kleine Gerlach war Nachmittags einige Stunden bei mir; wir redeten lebhaft; er stritt gegen die Philosophie als eigne und von der Poesie streng geschiedne Wissenschaft und gegen die Würde des Denkens rasch und gewandt. Auch gestern und heute war ich den ganzen Tag zu Hause. Ich werde summarisch, liebe Rahel, weil ich nach dreitägigem Einsitzen heute ausgehn will zu Redtel, und es ist schon spät, acht Uhr vorbei; sonst sollten Sie noch einiges über Ihren Zettel hören. Also adieu, Liebe.

A. M.

Ich habe Willisen geschrieben, daß er die Anweisung durch den Überbringer des Briefs erhalten wird.

Karl Wilhelm von Willisen, kämpfte mit Schill, dann in österreichischen Diensten, 1809 in die Heimat beurlaubt, 1811 bei Halle durch westfälische Gendarmen verhaftet und zu Kassel gefangen gehalten, bis es ihm 1813 gelang, zu entkommen. Später als General-Gouverneur von Posen. – Charles Pinot Duclos, Historiker; sein Hauptwerk sind die Mémoires secrets sur la règne de Louis XV. 1791. – Louis Herzog von St. Simon: seine Mémoires 1756 ff. sind die Hauptquelle für die Geschichte der Zeit Ludwigs XIV. – Giulio Alberoni, Kardinal und seit 1717 allmächtiger Staatsminister unter Philipp V. von Spanien. – Elisabeth Farnese war die zweite Frau Philipps. – Der Marquis ist der frühere Minister Del Giudice, an dessen Stelle Alberoni trat. – Guillaume Dubois, unter der Regentschaft des Herzogs von Orleans Staatsrat, dann Minister des Auswärtigen, vereitelte die hochfliegenden Eroberungspläne Alberonis und stürzte ihn 1719. – Louis ist Prinz Louis Ferdinand von Preußen. – Philipp Konrad Marheineke, Prediger an der Dreifaltigkeitskirche in Berlin: sein Werk System des Katholicismus in seiner symbolischen Entwicklung erschien seit 1810 in drei Bänden.


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