Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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21.

Marwitz an Rahel.

[Friedersdorf, d. 2t. und 9t. Juni 1811.]

Alles, meine teure Freundin, habe ich überlegt, ehe Ihr Brief kam, und reiflicher, vielseitiger seitdem. Elend leben will und kann ich nicht; der Augenblick, in dem Herzensfülle und Geisteslebendigkeit auch für immer verlassen, ist für mich der, ou la vie est un opprobre et la mort est un devoir, der Augenblick, in dem sie mich für eine bestimmte Situation verlassen, der, wo ich unter jeder Bedingung, allen Gefahren, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mich aus ihr herausreißen muß! Es fragt sich, ob ich jetzt so gegen mein Vaterland gestellt bin? Noch nicht. Noch ist es also vergönnt zu beratschlagen, auf welchem Wege, ob auf dem einheimischen oder dem ausländischen, ich mich am besten dem Ziele nähere, welches meine Natur mir aufgesteckt hat, nämlich alles Menschliche und Geschichtliche verstehen zu lernen und verstehend daran zu arbeiten. Die Reise nach der Insel hat für den Augenblick viel Bequemes und auch jene Zwecke Förderndes. Reisen beruhigen das Gemüt und wecken die Lebenslust, indem sie das neue Fremde und Edle zeigen, der tätige Müßiggang, welchen sie herbeiführen, würde meine Nerven bald und sicher heilen. Den Staat, der grade jetzt mein nächstes und größtes Problem ist, finde ich dort in höchster Blüte, und wie in diesem Zustande der vollkommnen Gesundheit seine einzelnen Funktionen sich äußern, würde ich mit heiterm Fleiße beobachten. Von der andern Seite fehlt mir die Kenntnis so manches einzelnen, so mancher kleinen bedeutenden Triebfeder, und vor allen Dingen bin ich der Sprache gar nicht mächtig für das Gespräch (dort, wenn man Menschen, Sitten, Verfassung, Institute will kennen lernen, ein wohl unüberwindliches Hindernis). Und bin ich am Ziele, wie dann? Der Krieg dort ist mein Element nicht, das fühle ich wohl. Er fordert im allgemeinen robuste Naturen, nicht sinnige, und sollen diese daran Teil nehmen, so müssen sie von Freunden und Stammesverwandten umgeben sein, durch die ihnen jedes Gefecht, jeder Marsch, jede durchwachte Nacht zu einem Abenteuer, zu einer eigentümlichen, anregenden Lebenserscheinung wird. Stehn sie allein, so löst sich die ganze glänzende Erscheinung in lauter kleine Quälereien auf, und hohle und gemeine Stimmungen zehren an ihrem Gemüt. Jahre vergehen so in unnützer Tätigkeit, und ist es dann endlich vorüber, so sind auch die besten Kräfte zerrieben, die liebsten Regungen des Herzens erstorben. Besser also, ich versuche zu bleiben. Aber nach Töplitz komme ich fürs erste nicht. Ich muß mir beweisen, daß ich Kraft und Sinn genug habe, um die unscheinbare Tätigkeit des bürgerlichen Lebens zu beseelen (meine Gesundheit erlaubt den Versuch). Ich gehe also in vierzehn Tagen von hier nach Potsdam, arbeite, und gelingt es, so reise ich auf jeden Fall in der Mitte des August Ihnen nach und bleibe den September in Töplitz (ich habe mich so eingerichtet, daß nichts mich hierin hindern kann). Gelingt es nicht, so ist mir das ein Zeichen, daß ich fort muß, und dann zögere ich nicht länger.

Montag, d. 9t. Juni.

O Verzeihung, meine teure Freundin, daß dieses Blatt Sie so lange hat warten lassen. Das einliegende war vor acht Tagen geschrieben und sollte fort in dem Augenblick, da ich Ihren gewaltigen Brief erhielt. Wie sinnlos, wenn ich jene Kleinigkeit Ihnen gesandt und auf die große lebensentscheidende Frage nicht geantwortet hätte. An jenem Tage selbst war nicht mehr Zeit dazu, an den folgenden fühlte ich mich zu unwürdig. Wie Gentz muß ich sagen: Was soll ich mein armes Wort gegen die donnernde Musik Ihres Innern austauschen? So blieb ich stumm, bei vielen innern Vorwürfen. Mit mir wird es besser. Zwar will mir das Herz noch zuweilen erkranken, aber ich gebiete ihm Ruhe; Wille und Tätigkeit bändigen es. Sie gehen nun, liebe Rahel. O seien Sie ja glücklich, machen Sie sich meinetwegen keinen Kummer. Untergehen kann ich, aber mir zum Ekel, andern zur Last leben oder auf eine unanständige, gemeingrausame Art endigen, das kann ich nicht, und das ist doch noch sehr glücklich. Ich habe in dieser Zeit zuweilen an den Selbstmord gedacht, und immer ist es mir vorgekommen wie eine verruchte Rohheit, das heilige Gefäß so blutig, so überlegt zu zerstören. Auch die kann unvermeidlich werden durch Übermaß der Not, das fühle ich wohl. Wunderlicher Zustand. Indem ich dies schreibe, wird es mir klar, wie bei jeder nicht gemeinen Natur der Körper nach muß, so wie die Seele erstorben und er eben dadurch entheiligt ist, und wie es bloß ein Glück dieser Zeiten ist, daß andre, äußerlich anständigere Wege offen stehn, die einen ablenken von dem gewöhnlichen grausamen. Ich lese viel, fast den ganzen Tag, aber sehr durcheinander. Einsame Spaziergänge erquicken mich, und einen göttlichen Jungen habe ich täglich vor mir, den ältesten meines Bruders, von 4 ½ Jahren. Wie ein kleiner Löwe ist er, in seinen kleinen Bewegungen fast kolossal, ernst, sanft, gehorsam; wenn er weinen will, und das geschieht sehr selten, so verbeißt er es sich mit der größten Macht, sowie man ihn einen Augenblick ernst und mißbilligend ansieht; er schreit nie, auch jetzt nicht, ungeachtet er seit acht Tagen an den Zähnen leidet, wenig schläft und fast gar nicht ißt (gefährlich ist es nicht). Kommt Varnhagen nach Berlin? Grüßen Sie ihn, wenn Sie ihn sehen, und sagen Sie ihm bei Gelegenheit, daß ich ihm keineswegs grolle. Er glaubt das vielleicht. Ich hatte nämlich in frischem Ärger über seine ersten Zeilen aus Kommotau einen, übrigens ganz besonnenen, gehörigen und motivierten Brief an Selby geschrieben; da fand sich denn, was ich hätte voraussehen und wissen können, daß Varnhagen die schon schiefe Ansicht von Selby aufs unmäßigste gespannt und übertrieben hatte. Selby hat ihm deshalb einen Brief geschrieben, der ihm vielleicht unangenehm gewesen ist. Wird er den ganzen Sommer mit Ihnen in Töplitz sein?

Die Bäder tun mir sehr wohl. Sie erinnern sich der Mauer zwischen mir und der Natur, die mich an dem übrigens göttlichen Abend beim Hofjäger ängstete. Die ist zerstört, meine Nerven sind rein und empfänglich gestimmt, und die Kämpfe gegen die Herzensmorgue werden seltener. Ich verstehe die Dichter, Mirabeau, Goethe, Winckelmann, Pindar, freue mich an ihnen, nur der strengen Wissenschaft bin ich noch nicht gewachsen. Adam Müller ist mir widerwärtig, doch werde ich ihn wieder vornehmen; er selbst weiß zwar nichts recht, der hohle, gemachte Gesell, doch regt er in schöpferischen Momenten des Lesens vieles an. Halbgesehen hat er vieles. Die Wanderjahre las ich vor vierzehn Tagen und hätte Ihnen damals viel darüber sagen mögen.

Mögen Sie denn meine Briefe? Ich begreife es nicht. Mir kommen sie unendlich schlecht und unkräftig vor. Besonders, scheint mir, sind sie auf eine unerträgliche Art unstät. Das Leben soll überall, bis in seine kleinste Erscheinung hinein, ein Ganzes sein, eine Idee soll es regieren, und hier liegt alles massenartig, lose, unverknüpft durcheinander. Die ernste, große, stete Tätigkeit fehlt, die jedem Lebensmoment zum Grunde liegen sollte, und die den einzelnen Stimmungen allein Würde und höheren Gehalt geben kann.

Schreiben Sie mir womöglich noch aus Berlin. Haben Sie Schleiermachers gesehn? Die Wucherer öfter? Wahr und erschöpfend ist, was Sie mir über die schreiben. Der unselige Harscher? Er kommt wohl nicht mehr zu Ihnen? Paulinens Brief ist göttlich. Die Wendepunkte des Lebens berührt er wahr und tief. Sie bleiben doch gewiß bis zum September in Töplitz. Gott weiß, was die Zukunft zubereitet. Meiner sicher bin ich nicht. Aber ich meine gewiß, daß ich Sie dann sehen werde. Adieu denn!

A.M.

Der älteste Sohn des Bruders von M. war Gebhardt, der 1833 starb. – Baron von Selby war M.s Schwadronchef im österreichischen Kriege. – Von Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren erschien das erste Buch im Taschenbuch für Damen, bei Cotta 1810.


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