Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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14.

Rahel an Marwitz.

Berlin, Donnerstag Abend nach halb elf, d. 16t. Mai 1811.

»Mehr und Besseres kann Ihnen mein beunruhigtes, zerrüttetes Gemüt nicht geben.« Diesen Schreck muß ich von Marwitz haben, das von meinem geliebtesten Freund erleben! Wie oft könnte ein von Wunden zerrissenes Herz heilen, genesen, zum Leben berührt werden in seiner Not; von einem einzigen Blicke, von einem Worte, von einer Bewegung, einer Inflexion der Stimme des geliebten Menschen, auf den der Ringende harrt, nicht aus Schwäche, aus Menschenelend harrt und harren muß. Vergebens! Nicht Blick, nicht Wort, nicht Ton kommt zu uns, wir verschmachten, vergehen, leben nicht, und Welt und wir selbst manchmal wähnen uns getröstet. »Die Menschen verstehen einander nicht«, sagt Werther. Sogar die Jammertöne werden nicht erkannt, die aus eines jeden Brust geschlagen werden, vom andern nicht! Dies ist wahr und schrecklich! Das andere Schrecknis besteht darin, daß wir auch nicht heilen, nicht helfen können, wenn der von uns Geliebte leidet! Wir verstehen ihn ganz; sein Leid reißt in unserer Brust, und einsam ist er, einsam sind wir. Diese Klause, worin jede Menschenseele haftet, und wo Liebe dann und wann Leben und Leben vermählt, wie Licht, vom Himmel geschenkt nur, hinüber trägt, – dies ist der Graul, wovor der Mensch erstarrt (des Denkers Geschäft in Gebet übergehen muß), und ich verzweifle. Mit mir ist es aus. Sie erscheinen mir, den ich lieben kann. Jung und gut dotiert, wie ich es nur wünschen mag, stehen Sie vor mir; ich lerne Sie auch genau kennen. Sie erkennen mich, ich bin Ihre Freundin; das Meiste und Beste der Welt, des Lebens sehen wir mit gleichen Augen, mit gleichem Geiste an; fühlen, sind überzeugt, jeder vom andern, daß er ein lebendiges, unschadhaftes Herz im Busen trägt; besitzen und lieben unsere fünf Sinne. Ich tröste mich – wie man sich an einem Kinde etwa trösten kann – eine ähnliche Natur in ihrem besten Vermögen, in ihren geheimsten, feinsten Nuancen [zu kennen], auf der Erde zu wissen, der es glücklicher gehn soll als mir; kurz, die Worte sind alle dumm und drücken plumpe Gedanken und Absichten und Verhältnisse und Regrets aus! – Ich kenne, durchschaue und empfinde Sie so, daß mein Glück und Ihr Glück Einen Strom geht! Sie wissen, ich halte nur auf Beieinanderleben; aber Sie sind der Erste, den ich nie wieder sehen, wieder hören noch besitzen will, wenn es Ihnen nur gut geht, wenn Ihre Natur mit ihren Bedürfnissen sich nur deployieren darf! Eins wissen Sie nicht, Marwitz, wie über alles zu fassende Maß dies bei mir viel ist. Wissen Sie dabei, daß Ihre Gegenwart mir wie das Auge der Welt geworden ist? Ich sehe Sie, auch wenn Sie nicht da sind; aber in die Augen sehe ich ihr nicht; ich weiß auch nicht, ob sie mich sieht. Ich habe viel geliebt, aber nie einen Menschen wie Sie. Und mußte auch mein wahnsinniges Herz mich bis zu den Grenzen meines eignen Seins reißen, so war mein Geist nie irre, und einem wirklichen Gegenstande war es aufbewahrt mich zu lehren, daß das Maß nicht in mir, sondern in ihm abgesteckt ist. (So habe ich Goethe geliebt in seinen Werken.) Von diesem Freund, dessen Wohlsein ein neues, anderes Lebensziel für mich werden müßte, hör' ich nun auch die trüben, zerstockenden Klagetöne, mit denen ich die Atmosphäre durchdringen müßte, und kann ihm gar nicht helfen. Fühlen Sie das? Begreifen Sie's? Das wollte ich Ihnen sagen, und so viel mußte vorhergehen. Einsam steht jeder, auch liebt jeder allein, und helfen kann niemand dem anderen. Halten Sie kein Wort, keinen Unmut, keine Stimmung zurück, beehren Sie mich damit, ich will Ihr Leben wie meines ertragen, doppelt leben ist ja schön; sowie es dem Menschen möglich ist, will ich es gerne annehmen, dahinnehmen. Auch weiß ich wohl, lieber Marwitz, daß solche Stimmung nicht permanent ist, wechselt, sich beim Schreiben an Intime mehr entwickelt, mehr aufbraust; ich weiß alles hierbei zu stellen, zu würdigen; es ist, als ob Sie zu sich selbst sprächen, sprechen Sie zu mir. Ich danke Ihnen für die Beschreibung Ihres Hauses; ich weiß, daß Sie sie zu Anfang für mich imaginierten, aber wie einzig richtig sah ich dadurch Ihren Zustand, Ihre Denkungsart und die Veranlassung zu den vielfältigen Stimmungen in der einen Grundansicht! Ich kann mir Vorfahren und alles denken (Sie wissen es), wovon ich entfernt bin, wenn es edel, wenn es natürlich, einfach und groß ist. Mir tut der Frühling auch vielfach weh. Ich kann nicht allein leben und bin es, nicht ohne Beziehung und habe keine. Reger und reger nur wird mir Sinn und Herz, bestimmter und schärfer der Geist; und dieser Frühling zaubert mir, zieht mir alle verflossenen durch's Herz, macht es mir erklommen still stehen vor Angst, vor allem künftig! Auch nur Worte! Gott weiß, wie bange, erstockende, zum Tode erstarrte, betrübte Momente ich durchfühlen, durchleben muß. Schreiben Sie mir nur! Wenn auch nur noch so wenige, noch so trübe Worte. Um sechs Uhr, als ich mit Fanny zu ihren Eltern nach dem Tiergarten gehen wollte, kam Harscher; ich hatte soeben Ihren Brief erhalten und las ihn; er bat mich Sie freundlich zu grüßen. Ich zeigte ihm und zeige ihm Ihren Brief nicht. Er brachte mich hinaus. Schedens sind hier, er hat sie noch nicht gesehen. Gute Nacht! Es war heiß, ohne Regen, und ist jetzt ziemlich kühl.

Fanny Robert, später verehelichte von Lamprecht, Tochter des Bruders der Rahel Marcus Theodor. – Major im Garde-Kürassier-Regiment von Heister oder dessen Bruder, Major im Ersten Garde-Regiment, beide Söhne des Generals v. H. – Zwischen Harscher und Nanny Schleiermacher bestanden eine Zeit lang vertraute Beziehungen.


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