Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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1.

Marwitz an Rahel

Nicolsburg, Sonntag d. 26t. Juni 1809.

Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, Ihnen hier einen Brief zu schreiben, liebe Rahel. Alles einzelne, die ganze kleine, mannigfaltige, bunte Gegenwart verschwindet mir, wenn ich an meine Freunde denke; es ist immer nur ihr und mein ganzes und volles Leben, was ich dann sehe und fühle, nichts Besonderes, was hervorspringt, was erscheint. Darum ist es mir so schwer, ja zuzeiten so höchst widerwärtig zu zerlegen, langsam nach und nach zu erzählen; und was ich mir vorher als einen Genuß vorstelle, wieder einmal mit Ihnen zu sein, zu Ihnen zu reden, wird mir in der Regel zur albernsten Langenweile. Ich bin seit Dienstag hier bei meinem Bruder, der schwer verwundet ist und erst seit einigen Tagen aus der tödlichen Krisis gerettet. Heute, da einer seiner Freunde hergekommen ist, der bei ihm bleiben will, gehe ich ins Hauptquartier. Varnhagen ging am Dienstag voraus, allein. Ich habe mich mit ihm erzürnt, nicht direkt, aber so ganz allmählich haben wir uns durch stündlichen kleinen Ärger verbittert. Sagen Sie mir ein Wort über ihn, liebe Rahel, welches mich tröste und meine frühere Meinung über ihn herstelle oder die gegenwärtige bekräftigt. Er erscheint mir, ungeachtet aller äußeren Bildung, innerlich höchst gemein, kleinlich in der Ansicht und gering die Energie seines Wollens, der inneren Tat, in der sein Leben gewurzelt ist. Und dabei ist diese Gemeinheit so widerwärtig, so ärgerlich. Mein frühestes Urteil über ihn, als ich ihn zuerst vor drei Jahren in Halle sah, war eben dieses; ich haßte die Dürftigkeit dieser Natur, die durch Gewandtheit und allerlei kleine Künste sich auf eine viel höhere Stufe gestellt hatte, als die ihr gebührte. Später glaubte ich ihn besser, viel besser, und jetzt auf der Reise, wo seine geselligen Fertigkeiten zurücktreten und er so ganz sich gehen ließ, tritt mir mit einem Male das alte gehaßte Bild lebendig und wieder vor Augen, dieselbe widerwärtige Persönlichkeit, der Mangel an Mut, der sich durch dummdreiste Indolenzen zu decken sucht, und endlich die gänzliche Blindheit und Verschlossenheit gegen alles Höchste. Ich weiß es wohl, er hat Sinn, aber immer nur Sinn für Miniaturen, für ein Blatt, nicht für eine Landschaft, für ein gelegtes Haar, nicht für ein Gesicht, für ein geschicktes und kluges Wort, nicht für die inneren Tiefen einer göttlichen Natur. Das Kolossale sieht er nirgend, und Sie wissen, liebe Rahel, das ist doch das einzig Reelle. Aber er ist Ihr Freund, wie ist das? Ich könnte das wohl verstehen; Sie nehmen ihn, wie er ist. Sie sehen das Negative in dem Positiven und umgekehrt, und das Negative ist Ihnen lieb, weil es das Positive ist. Das ist Ihre große Lebenskunst, ich weiß es wohl. Aber sehen Sie ihn anders als ich, habe ich Unrecht? Ist er edel, denn darauf kommt am Ende doch alles an? Nein, er ist es nicht.

Die Natur hier ist wunderschön. Herrliches Gebirg zwischen Schlesien und Mähren, nicht wild, aber von einer göttlichen Vegetation bekleidet, dem frischesten, tiefsten Grün an Gras und Laub, und Wald, wie sie nur ungeheurer Amerika hat, so dicht ist alles verflochten. Äste und Zweige und Blätter, nirgend eine Durchsicht, die üppigste Fülle. Dazwischen hin und her die reizendsten Täler, wohl angebaut in langen Dörfern, meist mit einer türmenden Gebirgsgegend zur Seite oder im Hintergrunde. Und wie soll ich Ihnen dieses kaiserliche Land beschreiben, dieses Mähren? Wir fuhren von einem hohen Berg in die unabsehbare Fläche hinunter, die wieder wie ein Gebirg vor uns lag und weit in den Horizont hineinstieg; da zum ersten Male habe ich gesehn, daß eine Landschaft unendlich sein kann, eine Ebene riesengroß. Unten die größte Wohlhabenheit, alles angebaut, vortreffliches Korn, reiche Dörfer, die größte Unbefangenheit, nirgend Spuren des nahen Kriegs, das heißt in dem innern Leben nicht; denn sonst sind die Rüstungen ungeheuer; Städte und Dörfer sind voll von Rekruten, die Wege damit bedeckt, überhaupt ist Nerv in diesem Staate, oder wohl mehr in diesem Volke, denn die Regierung tut weniger, als sie könnte, das Volk dagegen viel mehr, als es muß. Adieu, liebe Rahel, ich hätte gern länger zu Ihnen gesprochen, aber eben jetzt packt mich die Langeweile des Briefschreibens, die ich wie den Teufel fliehe, denn sie führt mich allemal in die ödeste Leere, die gänzlichste Gemütlosigkeit und Dummheit hinein. Sie werden sie den letzten Zeilen wohl schon angemerkt haben, ich wurde gestört. Gehen Sie fleißig auf der großen Terrasse vor dem Schloß auf dem Steinwege und genießen Sie den Mittag und den Abend.

A. Marwitz.

Ich bitte Sie, wenn Sie schreiben wollen, Ihre Briefe hierher zu adressieren an meinen Bruder, an Herrn v. M., Lieutenant im k. k. Regiment Graf Klenau Chevauxlegers in Nikolsburg über Troppau und Brünn. Unter dem Couvert meine Adresse an Alexander v. M. – Ich lege das Ende eines Briefes von Müller bei, dessen Anfang Sie haben. Sehen Sie Schleiermacher?

Eberhard von der Marwitz, der bei Aspern am 21. Mai 1809 schwer verwundet worden war, starb nach schweren Leiden am 9. Oktober. – August Varnhagen von Ense, seit 1809 bereits heimlich verlobt mit Rahel, später ihr Gemahl, war nach medizinischen und philosophischen Studien in österreichische Kriegsdienste getreten und bei Wagram schwer verwundet worden. Nach dem Waffenstillstande traf er mit M. erst in Ungarn, dann in Mähren zusammen. Beide haben sich nicht gut gestanden, eine gewisse Rivalität wegen Rahel war vorhanden. Vielleicht hat M.s Brief an R. dazu beigetragen, auch das freundschaftliche Verhältnis der letzten beiden zu stören, denn fast ein Jahr lang scheinen sie sich nicht geschrieben zu haben. – Adam Müller, politischer Schriftsteller, Freund von Gentz und Heinrich von Kleist, mit dem er die Zeitschrift Phöbus 1808 herausgegeben hatte. Besonders wurden seine Schriften »Von der Idee des Staates« und »Die Elemente der Staatskunst«, beide 1809 erschienen, viel gelesen. Seit Mai 1811 lebte er dann als politischer Schriftsteller in Wien.


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