Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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23.

Marwitz an Rahel.

Friedersdorf, Dienstag Vormittag ein Uhr, d. 11t. Juli 1811.

Gestern erhielt ich Ihren lieben Brief, liebe R., am Nachmittag, an dem ich aus Berlin zurückkam. Hören Sie erstlich meine Widerwärtigkeiten, ehe ich Ihnen antworte. Ich war recht wohl bis auf einige heimlich lauernde Schwäche, konnte fühlen und denken und wollte nun von hier fort. Freitag wollte ich abreisen, am Donnerstag wird mein Bruder arretiert (weil er sich frei und kühn und im allgemeinen großartig betragen und derb gesprochen hatte). Man führt ihn nach Spandau. Hier hinterläßt er alles in der größten Unsicherheit, eine Menge von Dingen angefangen, die unter strenger und genauer Aufsicht fortgeführt werden müssen, wenn sie ihn nicht ganz ruinieren sollen, dabei keinen Aufseher, denn er tut alles selbst mit sehr untergeordneten Instrumenten. Nun mußte ich also hier bleiben, wenigstens so lange, bis die Sache eine entschiedene Wendung wird genommen haben. Wahrscheinlich wird sie in vier Wochen vorüber sein, aber auch die zu verlieren ist unangenehm, widerwärtig die eigne Bahn zu verlassen und ganz fragmentarisch und sinnlos in eine fremde Tätigkeit hineingreifen zu müssen. Dabei tut mir die gar viele Bewegung und zumal das viele Rechnen gar nicht wohl. Ich sehe zwar blühend aus, werde stärker. Wie gar keine Mattigkeit vom Gehen oder Reiten, wohl aber (ein böses Symptom) vom Schlafen. Alle Morgen erwache ich müde mit roten, zuweilen tränenden Augen und mit Dummheit und Dumpfheit im Kopf, die oft erst gegen Mittag verdunstet (denn wie ein schwerer, dicker Nebel liegt sie mir im Gehirn). Dabei ist mein Herz jedoch wohl auf, denn in den erst gesunden Tagen, die ich gehabt, habe ich es gefühlt, daß meine Natur ganz unschadhaft und [un]angegriffen, und daß alle moralische und intellektuelle Schwäche, an der ich gelitten, nur physische Krankheit ist. In Berlin war ich ein paar Tage, vom Donnerstag bis gestern (Dienstag, d. 6t. Juli), um meinen Bruder zu besuchen und andrer Angelegenheiten wegen. Marcus sah ich zufällig am ersten Tage bei Dallach, so bleifarben, so ohne Funken eines höhern Lebens wie je. Dann Harscher, ganz elegant, glaubend aus tiefsten Verstandesgründen und ganz gemäß seiner Lage sich in die neuen Röcke gesteckt zu haben, aber gar nicht einheimisch darin und daher sehr stark mit dem plis eines Kaufmannsburschen. Und so ist es überall mit ihm. Nichts kleidet ihn von allem, was er tut, außer hin und her ein flüchtiger Humor, denn alles andre ist absichtsvoll und erzwungen, ist fremdes Leben, womit er die erstorbene Seele umsonst aufzuwecken strebt. Nun ist auch das vorüber, was seine Erscheinung zu Anfang des Winters mir wenigstens tief rührend machte, die verzweifelnde Klage über sich selbst, denn nun hofft er wieder, glaubt, es werde werden, und es kann nicht werden, wie ich zu meinem Schrecken nun eingesehn habe, denn alle Kraft zu einem bestimmten Leben fehlt ihm. Von allem, was da ist, trägt er ein hohles, allgemeines Schattenbild in sich, von nichts die lebendige Blüte oder den frischen Keim. Darum rührt ihn nichts, darum packt ihn die unsägliche Angst, wenn er Dichterwerke vornimmt, von denen er weiß, daß sie herrlich und begeisternd der Trost und die Freude jedes echten Gemüts sind, und bei denen ihm keine Saite seines Innern erklingen will. Armer! Zeigen Sie dies über Harscher an Varnhagen nicht, sonst begeht mir der eine Perfidie, wenn nicht grade zu, doch mittelbar und ohne es zu wollen. Wenn H[arscher] kräftig genug wäre und nicht zu zerknickt und zerknirscht, so würde und müßte er Sie hassen; jetzt staunt er ihre Natur an, meint aber, daß sie ganz nach der sinnlichen oder (wie er denn dies Höhere zugiebt) der antiken, plastischen Seite hingewandt sei und daher nicht zureiche, um die höchsten sittlichen Anschauungen zu fassen, das offenbare sich ihm zumal in der Musik, deren Bestes Sie nicht anerkannten, ganz zugetan der frivolen, modern italienischen Manier; über diese stritt ich einst mit ihm, erinnerte ihn aber an Ihre Verehrung für die alten strengen Bach, Händel p. p. Dagegen konnte er nichts sagen und auch nicht nach seiner Art erklären, doch machte es keinen Eindruck auf ihn, wie Sie denken können. Bei Schleiermacher aß ich zweimal.

Mittwoch d. 12t., Abends um 6.

Diese schlechten Zeilen schrieb ich Ihnen gestern, liebe Rahel, in größter Eil vor dem Essen. Heute fahr' ich fort an einem schönen, kühlen Tage, an dem wilde Regenschauer und warmer milder Sonnenschein miteinander wechseln. Sie wissen, wie lachend, wie über alle Maßen jugendlich frisch und in heiterm Glanze dann das Tal erscheint. Auch bei Ihnen, wenn das Wetter Sie ebenso begünstigt, muß es göttlich sein; wie duftend und dunkel der Park; am Gebirg ziehn eilend die Wolken hin; große Risse drein zeigen den Tannenwald, und wie hoch scheinen die Gipfel oben, wenn sie über das kämpfende Gewölk hinausragen. Nie sieht man jene Gegend so schön, so wunderbar mannigfaltig, als eben an solchen schaurigen Tagen. Meine lieben Spaziergänge haben hier leider ein Ende, da sie nun alle einem äußern Zweck dienen müssen. Und wie leben Sie, liebe R.? Rührt Sie innig die schöne Gegend, ist Ihnen das ganze Herz zu stiller Freude, ruhigem Genusse bewegt? Ich frage darum, weil einem auch sehr hohl und leer werden kann in Töplitz wegen des Unzusammenhangs in der Gesellschaft, wegen ihres gänzlichen Mangels an Religion, wegen der städtischen sinnlosen Verrücktheit, mit der alle die Masken durch die wundervolle Natur hindurch rennen, um zum Spieltisch oder sonst einer albernen Beschäftigung zu gelangen. Sehen Sie Rühle öfter? Ist er beim Herzog? Grüßen Sie ihn recht herzlich und sagen Sie ihm, daß mit diesem Briefe zugleich einer an ihn (ein sündenabbüßender, versprechenerfüllender, NB es sind große Kleinigkeiten) nach Dresden abgeht, und daß ich hoffe, daß er ihn bald erhalten wird. Ich liebe ihn sehr.

Er hat etwas Dürftiges, wie Sie sagen, aber er ist ein liebenswürdiger Mensch von der offensten, jugendlichsten Freundlichkeit, einer so milden, anspruchslosen und doch nicht schwachen Persönlichkeit, wie ich kaum einen andern kenne, dabei weiß er viel nach einigen Richtungen hin (Krieg, Mathematik) und kann scharf und eigentümlich denken, nur hin und her, besonders über menschliche Verhältnisse etwas hölzern. Sprechen kann er leider gar nicht. Wir haben uns kaum vierzehn Tage gesehn, und er hat mir mit der größten Zutraulichkeit alle Begebenheiten seines Lebens erzählt, auch die, die man sonst einer langen Bekanntschaft ausspart, seine Liebe, die frühern unglücklichen Verhältnisse seiner Braut p. p. Schon das wird Ihnen gefallen. Ich kenne niemanden, der durch ein militärisches Leben hindurch und nach einer militärischen Erziehung (er war Kadett) sein Herz so frisch, so rührbar erhalten hätte. Warum kommt Goethe nicht? Marcus sagte mir, Sie hätten ihn citiert. Wie kommt das? Er ist unmäßig unbedeutend, unerträglich zerstreut, hat dabei etwas Vornehmes. Ich bin sehr tätig mit Lesen, Schreiben, Wirtschaften. Adieu, liebe R. Tausend Dinge sollte und könnte ich Ihnen noch schreiben, aber der Brief muß heute fort, und nun muß ich noch an Rühle, an Winterfeld (der die Briefe in Berlin besorgen soll) schreiben. Antwort hierher über Berlin, Müncheberg und Dölgelin.

A. M.

½ 12 Uhr.

Weh und wund komme ich hier an, liebe Rahel. Busch war heute morgen noch einmal bei mir, der Jude hatte sich auf nichts einlassen wollen, und ich mußte ihm nun sagen, daß ich ihm die 700 Rtl. nicht geben konnte. Die Tränen traten ihm in die Augen, er küßte mich und ging. Ich zweifelte, ob ich ihm nachlaufen und ihm alles geben sollte, und zweifle noch. Er sah mich so an, als ob er es für mich getan haben würde. Freilich kann er so etwas leichter, weil er unbesonnener ist. Und doch! Eine Wolke von Zweifel, Unmut und Unschlüssigkeit hat sich über meine Seele gesenkt. Dazu die Szenen von gestern. O wie die besten Menschen zu einander stehn! So viel Reines, Gutes und Richtiges, ja so viel Liebe war in allem, was mir geschehn ist, und doch scheide ich unbefriedigt, mit verwirrter, verwundeter Seele. Besonders quält mich, wie Sie denken können, das Verhältnis zur [Schleiermacher]. Ihr liebes verehrtes Bild ist mir verwirrt durch die affektvolle Spannung, die sich nicht rein lösen läßt, ich finde keinen Standpunkt, keine Worte für sie, dies geht so weit, daß, indem ich Ihnen dies schreibe und so daran denke, meine Gedanken und Empfindungen schwanken und in einander stießen und es mir Mühe gemacht hat, dies wenige zu fixieren. Was sagen Sie dazu? Sie, die Sie alle meine Fasern kennen. Wie gut oder wie schlecht ist dies? Es ist grade so, wie ich es schreibe, ich darf nur an das Verhältnis denken, um ängstlich, unbestimmt und unsicher zu werden. Der reine heilige Brief hat nichts gefruchtet. Que ne suis-je assissé à l´ombre des forêts! – Die Fahrt hierher war merkwürdig. Die beiden konnten mir allerlei Interessantes über jetzige Handelsangelegenheiten und einzelne Kaufleute erzählen. Übrigens gehören sie zu den letzten Sterblichen; alle Sinne fehlen ihnen, alles Ursprüngliche, Großartige, Vornehme in der Seele. Ich wurde hier unterbrochen durch Gerlach und muß nun den Brief siegeln. Ob ich Ihnen den Goethe schicken kann, weiß ich noch nicht. Sie erhalten den Novalis. Antworten Sie mir gleich.

A. M

Der Bruder Alexanders v. d. M., Friedrich A. Ludwig, war wegen der scharfen Kritik an den Hardenbergschen Reformen fünf Wochen in Spandau eingesperrt morden. – Levin-Marcus, Bankier, der Vater der Rahel, starb 1789, sein Sohn führte das Geschäft weiter. – Dallach war eine bekannte Weinhandlung hinter dem Gießhause. – von Winterfeld, damals Referendar, später Oberlandesgerichtsrat. – Busch, vielleicht der spätere Assessor in der Prinzlichen Domänenkammer. – M. verkehrte in Schleiermachers Hause; es entspann sich zwischen dessen Frau und ihm ein zartes Liebesverhältnis, das später bedenkliche Formen anzunehmen drohte, bis Schleiermacher in überaus gütiger Weise die Angelegenheit regelte. – Leopold von Gerlach, der spätere General und Vertraute König Friedrich Wilhelms IV., ein intimer Freund M.s in Potsdam. – Novalis, Friedrich von Hardenberg: seine Schriften, von F. Schlegel und Tieck 1802 herausgegeben.


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