Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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70.

Rahel an Marwitz.

Dienstag Abend sieben Uhr, d. 17t. März 1812.

»Allgegenwärtiger Balsam allheilender Natur.« Auch dem menschlichen Geiste muß so etwas beigegeben sein, ein seliges Vergessen, ein nur auf ein Maß Zeit gegebenes Fassen des Unheils; und auch ich habe schon öfters empfunden die Unzulänglichkeit in mir des Verzweifelns und Unglückaufnehmens. Denn soeben wollt' ich losschreien über der Franzosen Vergeßlichkeit! Sie machen, so lange die Revolution währt und besonders die in Frankreich, und in ihren Büchern seit der Zeit, als hätte es dergleichen noch gar nicht gegeben. Und was war diese Revolution gegen Karls des Sechsten Regierung! Chauffeurs, Septembriseurs, Verräter an Bürger und König gab's aus allen Klassen; Mord, Mordenlassen, falsche Eide, wozu die Religion und ihre ersten Diener in Anspruch und zu Zeugen genommen waren, war Tagessitte, Hunger und Tod nur von denen gescheut, die nicht raubten und totschlugen. Frankreich ist das bewunderungswürdigste Land. Erstlich begreife ich nicht, wo in einer ganzen solchen Zeit nur eine Ernte, eine Aussaat, eine Fabrikation zu Stande kam; und dann, wie in wenigen ruhigen Regierungsjahren sich eine so freundlich feine Sitte bilden konnte, die das Muster der übrigen Erde wurde. Das sind wahrlich echte Menschen, sehr bös, sehr vergeßlich und leichtsinnig, sehr religions- und ehrbedürftig, geschickt und zerstörend, geistreich und roh und ganz unbegreiflich. Und solche unbegreifliche Unsinne gehen vor! Oder ist das nur der Verfasser der mémoires? Welch entsetzliches Aufheben wird von Johann von Burgund seiner Ermordung gemacht, als wenn er ein unschuldig Täubchen wäre, und der Herzog von Orleans von seinem Girren umgefallen wäre? Als Johann den vor oder hinter, kurz beim Ausgang einer Kirche, morden ließ und es drei Tage nachher selbst gestand, geschah nichts, als kriegen, welches immer seinen Gang hatte, und als Mörder, Mörder eines königlichen Prinzen, eines Verwandten, war nicht von ihm die Rede. Wissen Sie, was ich bemerke, woraus großenteils das Unglück der Zeiten besteht? Daß eine immer in die andere greift, und nicht die neue in die alte, sondern die alte noch in die neue. Frankreichs Unglück zum Exempel hätte damals gar nicht so wachsen können, wären nicht so viele feste Schlösser dort, so viele kleine Gebiete, so verflochtene Herrschaften vorhanden gewesen, und der Sinn und die Meinung all der Besitzer davon, daß sie teils eigenmächtig und wehrständig sind und teils das Recht haben, einen Lehnsherrn nach Belieben zu wählen. Von den vilains war nur beiläufig die Rede, und das durch die frömmsten, weisesten Leute, deren immer nur wenige sein können. Was ich hier gesagt habe, heißt nur mit andern Worten: Schade und Jammer, daß der Geist unserm Ausüben auf Erden immer vor ist, welches sich ewig von neuem zu unserer Qual und Schmerz wiedererzeugt. Ich kann gar nicht räsonnnieren, wie Sie sehen, weil ich immer bis zum Erdball, der Menschen Geist und dem lieben Gott komme und dann an dem Berg stehe, und ein Räsonnement soll schreiten. Aber ich wollte meinem Geschichtsprofessor mich doch auch einmal produzieren und ihm zeigen, daß ich mir Gedanken bei Lesung derselben mache, welches mir mit Gedächtnis noch schwerer gelänge. – Nun warte ich auf einen Brief von Ihnen, bis mir etwas einfällt. Sehr schön ist es, wie König Heinrich von England unter allen Graueln Michette von Frankreich in Troyes heiratet, die Hofleute, deren sich aus Trümmer und Schutt fanden, ein Tournier geben wollten, welches er sich verbat und ihnen sagte, die Tapferkeit könne übermorgen bei Einnahme einer Stadt – den Namen weiß ich nicht – gezeigt werden, worauf sie losgehn wollten, um endlich dem armen Volk und den leidenden Bürgern Frankreichs Brot und Ruhe zu verschaffen. Aus einer Note.

Dienstag, d. 24t. März, Vormittag um sieben Uhr.

Wer weiß, ob man mich so lange allein lassen wird, bis ich Ihnen ein paar Zeilen werde geschrieben haben! Sie sehen, Undankbarster, wann dieser Brief angefangen ist. Sie sind stumm und schicken mir auch kein Buch, und nun muß ich mit meinem Lesen warten. Dazwischen lese ich, wenn sie mich nicht stören, ein altes Buch, den Streit von Mendelssohn und Jacobi betreffend, den ein gradgesinnter, vernunftrechter Mensch darlegt; Mendelssohn hat Unrecht. Dieser letztere aber hat, welches dabei gedruckt ist, die Schrift eines englischen Juden übersetzt und eine Vorrede dazu geschrieben, die meine Bewunderung ausmacht, so elegant und besonnen ist sie geschrieben; auch das Buch könnte, nein sollte, den jetzigen Übersetzern ein Muster abgeben. Des Juden Buch betrifft seines Volkes Zustand in Europa und die Auseinandersetzung der Gründe an die englische Regierung, aus welchen sie sie bei sich aufnehmen sollte; es ist im Original englisch, der Verfasser lebte zu Cromwells Zeit in Amsterdam und bekam die Erlaubnis nach England hinüber zu gehen. Er schreibt einen sehr schönen Brief an einen vornehmen Engländer. Ich, die unter Friedrich Wilhelm dem Zweiten von Preußen lebt, schrieb vorgestern einen großen original-deutschen Brief an Frau von Fouqué, welches mich abhielt, dem Ritter von der Marwitz, meinem Freunde, zu schreiben. Unter einem Usurpator, wie man's nennt, regt sich die Menschheit, es sei unter ( entre heißt dies unter) welchen scheußlichen Larven und Gestalten es wolle, immer, dünkt mich. Könnt' ich doch einmal ganz aussprechen, wie die Geschichte vor meinem Geiste liegt. Ist es nicht Jammer und Schade, daß ich die Geschichte nicht weiß, wie Sie? Nein, so viel wie bei und an mir, ist lange nicht verwahrlost worden! Sind Sie noch zerstreut, lieber Hamlet? Hamlet wegen »Zweifle, ob die Wahrheit lüge«.

Ich habe den Sonnabend den allernichtswürdigsten Brief von Varnhagen erhalten, den er noch fabriziert hat. Viermal las ich ihn, und er hat mich jedesmal so progressiv geärgert – ich dachte das Gegenteil –, daß ich ihm den bündigsten, kürzesten, beinah ärgerlichsten antwortete; Sonntag aber schickt' ich ihm auch den nicht, sondern einen Zettel, der ihm sagte, daß ich wohl auf Kränkung und Beschämung – er verschwieg ja so viel, um mich nicht zu kränken – gefaßt gewesen sei, aber nicht auf Ärger. Ich schickte ihm den Brief der Gräfin zurück, und es wäre am besten, ich antwortete nicht, da ich mich so wenig verständlich machen könnte. In meinem ganzen Zettel kam weder das anredende Wort Sie noch Du vor, ohne Vorbedacht, was es mir aber angenehm war, als ich es bei Durchlesung bemerkte, das glauben Sie nicht, und doppelt, weil es unwillkürlich richtig geschah. Ich würde Ihnen seinen Brief mitschicken, wenn er, ohne von mir kommentiert zu werden, nicht an Nichtigkeit, Ausgelassenheit, Präsumption, Unsinn, Eitelkeit, Mikroskopie und Auseinandergehn des ganzen Denkens verlöre. Dieses schöne Produkt kam auf den, den ich Ihnen zur Hälfte gelesen hatte, und der wahrlich Ernst, Gesammeltsein, Trost erheischte nämlich, in jeder menschlich gebildeten Seele hervorgerufen hätte. Seiner ist dagegen wie ein Nürnberger schlechtestes Spielzeug, auf den Puff gemacht, inwendig ganz ohne Absicht und verabsäumt; denn ist das tolle Häuschen auch klein, so könnte doch auch das Größenverhältnis beibehalten, kein Geschöpf hinein, noch darin sich aufhalten. – Ich scheine ärgerlicher, als ich jetzt über ihn bin; der große Unsinn des Machwerks ruft nur die doppelte Schärfe aus dem beurteilenden Geiste hervor. Aber der – Varnhagen – zeitigt sich mit und durch eigene Gewalt in mir. Ich sehe nun wirklich ein, ich muß ihn gebrauchen, wozu er gut ist, und sonst nichts. Kluge Leute tun das mit der größten Gelassenheit mit allen Menschen. Sie zu einer Höhe zwingen und haben, wo sie sich nicht halten können, ist wahrlich schülerhaft. Aber nichts ist schwerer wieder mit aus der Welt zu nehmen, als der Drang nach Bewunderung, Liebe, Wohlwollen; die Reich- und Weichherzigen übereilen sich diese Schätze auszuschütten, und nur sehr wenige, auch mit Maß und großer Stärke zu jenen Gaben Begabte sind weise vor dem großen Defizit. Ich bin es mit und während der größten Einsicht nicht. Da steh' ich wieder. Fest hatt' ich mir vorgenommen nicht mehr von mir zu sprechen, wie von einem ausgegangenen Baum, an dessen Stelle endlich neue Pflanzungen kommen müssen. Mein Geist lebt aber noch, und wie soll sich der anders nennen als ich? Mit mir steht es höchst elend. Meine innerste Gesundheit scheint erschüttert, und außer meinen Geschwistern merken's alle Menschen an meiner Haltung und Weise; auch ich fühle es auf alle Weise, von der stumpfesten Eitellosigkeit bis zum konvulsiven Schmerz – Schrei der Tränen – Cochinsky bemerkte mir erst gestern sehr gescheit diese Veränderung, ich sehe ihn dann und wann mittags, wenn ich esse –, und in wahrer Verzweiflung bin ich, wenn ich glaube, ich würde nicht wieder gesund und so hingepeitscht bis in's taube, stumme Grab, ohne Gesundheitsgefühl vorher; jedoch lodert mein Geist immer von neuem wieder auf, als schüttete man große Behälter voll Schwefel auf eine Flamme, der sie zu dämpfen scheint und furchtbar nährt. Dies kann ich denn den Freunden nicht, nicht einmal jeder Umgebung verbergen. Immer noch einmal überdenke ich das Überdachte, kombiniere es zu andern Gegenständen des Denkens, und es muß passen. Teils bin ich dazu gezwungen, teils geht das in meinen Kopf wie in einem Gebiete vor, wo ich nur das Hinsehen habe, wie große Vegetationen, die sich die atmosphärischen Kräfte unter einander selbst verleihen, in dem einmaligen zum Leben gezauberten Dasein. Mein unschuldigster und auch leidenlosester, fast amüsanter Moment ist, wenn ich ganz neugierig werde, wie das noch mit mir und allem werden wird.

Ich war auch in der Komödie, wo ich Madam Bethmanns ihre Tochter aus Prag habe im Opferfest spielen sehen. Dies ist doch die größte Marter, die man sich antun kann, sich durch schmerzbringende Töne und Verkehrtheiten stillsitzend und zur Bewunderung einer Masse von Menschen, die doch alle acht Groschen haben, beweisen zu lassen, wie entfernt unsere Nation von aller Kunst ist; durch zehnfach mißverstandene Ausübung einer, die die meisten gebraucht und wie jede von ihnen alle in sich begreift: einer Kunst, die den Menschen so natürlich ist, daß sie durch eine Schule von verrenkten Ein- und Ansichten erst aus ihnen muß ausgerottet werden, von welcher Schule – wie selten gelingt dergleichen! – Rebenstein ein lebendiges Ideal ist, zur sichtbaren Glorie des großen Meisters. Amen! Ich brauche Luft! Denn ich schöpfte nicht Atem vor Disgust. Leben Sie wohl! Und verdienen Sie solche lange Briefe durch eben so lange.

Heinrich V. von England (1387–1422) heiratete Katharina (Michette), Tochter Karls VI. von Frankreich, in der Absicht, daß nach Ableben des letzteren ihm und seinen Nachkommen die französische Krone zufallen sollte, starb aber, bevor der Vertrag zur Ausführung kam. – Johann von Burgund, der Gegner des verschwenderischen Herzogs Louis von Orleans, ließ diesen 1407 in Paris ermorden und erlangte dadurch die Leitung der Staatsgeschäfte und der Erziehung des Dauphins Karl, trat mit Heinrich V. von England in Verbindung und wurde auf Anstiften des Dauphins 1418 ermordet. – F. H. Jacobi hatte in seiner Schrift »Über die Lehre des Spinoza« Lessing angegriffen; Mendelssohn antwortete, um die Ehre seines Freundes zu wahren, mit einer Gegenschrift »Moses Mendelssohn an die Freunde Lessings«, deren Druck er nicht mehr erlebte: er war 1786 gestorben. – M. übersetzte das Buch des jüdischen Schriftstellers Manasse Ben Israel (1604–1657) Conciliador, worin eine Klarstellung sich widersprechender Bibelstellen versucht wird, über den Zustand der Juden in England. – Das Unterbrochene Opferfest von Peter Winter 1796. – Rebenstein, Schauspieler und Sänger.

R. R.


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