Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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17.

Rahel an Marwitz.

[Berlin,] Dienstag Morgen neun Uhr, d. 28t. Mai 1811, bei der anhaltendsten Hitze ohne Regen.

Ich habe Ihren Brief vor mir und will darauf antworten, als ob Sie mit mir sprächen. So sollten Sie es auch machen! Dann ist und bleibt eine Korrespondenz lebendig, – und ist nicht so viel Tod im Leben, ist es selbst nicht eigentlich das Ringen mit ihm, das man es verbreiten, vermehren soll, wo nur möglich? Gestern Abend um zwölf Uhr kam ich mit Neumann – den ich nie sehe – aus dem Ephraimschen Garten zurück, wo Schleiermachers, Harscher und ich Schedens besucht hatten, die dort ein Absteigequartier haben und alle Abende dort sind. Der Abend verging mir ganz angenehm; alles war natürlich und gut – außer dem unseligen Harscher, der wahrlich keinen, ja natürlichen Augenblick hat. Die Menschen waren sich lieb unter einander; eine Demoiselle Reil war auch da, ein junges Blut, die aussieht, als habe einer der modernen Pfuscher ein griechisch Gesichte und Mädchen gemalt; sie spricht hübsch nehlend ausländisch. Sie kennen sie gewiß. Die Schleiermacherschen Frauen waren gekommen, weil ich es ihnen hatte sagen lassen; le nouveau marié äußerst graziös gegen mich. Und Madame Wucherer gefällt mir sehr gut. Sie sieht in den Augen zwei Cousinen und einer Tante von mir ähnlich. In den Augen sieht sie aus, als könnte sich ihr Kopf recht was vornehmen, eine Arbeit, denkend, lebendig, scharf, fest, arbeitend mit einem Wort, und dabei hat sie die sanfteste Stimme, die feinste Aussprache; dieser Kontrast ist ihr größter Reiz und deutet gewiß auf ein schönes inneres Verhältnis von Eigenschaften. Ich weiß und sehe, daß sie nicht hübsch ist; man möchte aber beinah sagen, sie hat es nicht nötig, sie macht alles geschickt und fein erzogen, ist sehr angenehm, aufmerksam, neugierig, empfänglich für Gespräch und sanft und doch behaglich in der Annäherung. Ist aber Schede mit einiger Unruhe gut und hat eine Art von Eifersucht und Aufmerksamkeit auf ihn, die mich z. B. genierte. Gemerkt hat dies niemand, denn sie selbst war gut gegen mich, goutierte über Erwarten mein Wesen (ich sprach oft und lustig) und glaubte nur das Lachen verbergen zu müssen, wenn sie mich zu putzig fand. Unangenehm zeigte sich diese Unruhe auch nicht, denn sie kam liebenswürdig und sogar naiv hervor; sie kam z. B. jedesmal, wenn etwas gesagt wurde, weit her und wollte es auch wissen, frug oft nach einem Wort oder Ausdruck ein paar Mal, wenn es ihr die andern nicht sagen wollten und es Bezug auf Schede hatte; ich sagte es ihr jedes Mal. Und im Nachhausegehen, als die Rede von Mademoiselle Klein gewesen war, und sie mit Schede hinter mir ging, und man zuletzt gesagt hatte, sie käme her, so machte sie nach andern lebhaften Fragen noch die, ob sie komme, worauf Sch[ede] zuletzt es ihr bekräftigte. »Nun, da werde ich sie ja sehn«, sagte sie, noch ein paar Worte, die ich nicht verstand, und dann, alles zu ihm besonders: »Bin ich nicht recht tolerant?« Diese Worte bestärkten mir mehr, als ich es mir vermuten konnte, alle Bemerkungen des ganzen Abends. O meine liebe Seele! was die merkt, ist immer wahr. Dies von Mademoiselle W[ucherer], weil sie der Arbiter Ihres Freundes war, weil sie ihn auch soll geliebt haben, und weil solche Unruhe über einen Menschen, wie ihre über Sch[ede] viel Neigung und keine Überredung, wie ich mir einbildete, voraussetzt. Auch wollte ich Ihnen zeigen, wie sie mir das erste Mal vorgekommen ist, ob ich mich wohl irren werde, oder ob mein Sehn sich zur Wahrheit schlagen wird.

Als ich gestern nun beim Zuhausekommen Ihren dicken Brief fand, getraut' ich mir vor Lust beinah nicht ihn zu erbrechen; ich las ihn doch hastig – und noch einen von Paul[ine] – aber er freute mich nicht. Im Gegenteil, das Herz sank mir, und so ist es noch. Warum soll ich es nicht sagen? Nein, Lieber! So trübe können Sie nicht blicken. In Friedersdorf nicht. Ich sage es Ihnen noch einmal, wüßt' ich Sie gut, ich ginge es ein, auf immer einen andern Planeten als den zu bewohnen, wo Sie sind, und Sie einen andern, als wo ich bin. Ich kann Ihr Leben nicht in der Luft erhalten, das ist ausgemacht, dazu gehört einmal ein anderer Wurf, ein anderes Ereignis. Aber so dürfen Sie nicht vereinsamen, auch ein halbes Jahr nicht, auch keinen Sommer durch. In Friedersdorf ist keine Gesellschaft für Sie, und die müssen Sie haben, lebendig alles anregenden Umgang. Könnten Sie irgend ein strenges Studium vollführen, auch gut, ein Geschäft abmachen, das dem künftigen Leben Luft macht wieder! Aber was in Himmels Namen wollen Sie so dort abwarten? Als ich es nur wünschte, daß Sie in Töplitz seien, schlug ich es Ihnen nur einmal wie nicht vor; ein kleiner Ekel vor dem Müßigsein von Ihrer Seite, ein leiser Plan zu einem Amte, ein weitsichtiger zum studieren machte mich mit Recht bis im innersten Gewissen schweigen. Jetzt aber bin ich ganz überzeugt, ist Töplitz, was Sie bedürfen. Ein ländlich schönes Tal und eine solche Lebensart mit der jetzt möglichen belebendsten Gesellschaft. Mit der Möglichkeit bei Ihrer Denkungsart – grade nach Ihren beiden letzten Briefen – und so viel, als Sie wollen, auszuweichen. Bäder können Sie ja da nehmen, von welcher Sorte Sie wollen, auch solche wie in Friedersdorf. Sie finden Goethe, Gentz, den Herzog, Varnhagen, Adam Müller, also Sprecher. Eine Menge umgänglicher Bekannten von meinem Gehege, mich als Salz und Quirl aller dieser Dinge, als Bequemlichkeitsrat. Leben Sie doch dort, wie Sie nur wollen, sich für krank, für bizarrer auszugeben, schelten zu lassen kostet Sie gar nichts! Leben Sie, wenn Töplitz Sie ekelt, auf dem Weg nach den Steinbädern. Göttlich! Da lebte mal ein fränkischer Graf, den ich kannte. Nur daß Sie mir nicht so vergehen, verharschern! Je länger Sie bleiben, wo Sie sind, je weniger Kraft und Grund finden Sie in sich auf weg zu kommen. Es wird himmlisch in Töplitz sein, wir sehen eine Unmenge von Menschen, behandeln, bereden, belachen, studieren sie. Wer hindert Sie zu lesen, zu baden, zu tun, was Sie wollen? Erst nach drei großen Krankheiten verspürt ich in der vierten den Krampf im Herzen, von dem Sie sprechen. Sie sollen ihn durchaus nicht haben bei Ihrer Jugend! Sie sind ja eigentlich gar nicht gekränkt, vergehen wie eine Blume sollen Sie nicht. Jetzt müssen Sie wirklich mir nahe leben. Soll ich Sie auf einen Irrtum aufmerksam machen? Sie wollen in einem Bade, in einem äußerlich müßigen Leben nicht das Ansehen haben, als verweichlichten Sie sich in Untätigkeit, und unterdes geschieht das in der Wirklichkeit in Friedersdorf! Sie gehen da in Ihrer eignen Stimmung wie in einem Zauberwald umher und werden bald nichts mehr vernehmen können. Kaum, Lieber, entschließen Sie sich, mir zu antworten auf Punkte der lebendigen Mitteilung, und möchten mir reine Stimmungen schicken, die ich gewiß alle in mein Herz aufnehmen möchte und mit meinen Augen und eigener Seele erahnen. Diese aber müßten die Dekoration Ihres Lebens nicht werden, diese müssen von der lebendigen und lebendigmachenden Sonne hervorgerufen, modifiziert werden. Von den Sonnen anderer Geister. Überlegen Sie dies, Lieber, und erwägen Sie genau, wie meine Lust Sie in Töplitz zu haben hier mitwirken kann; ich bin nicht ganz im Stande es zu unterscheiden. Nur dies weiß ich, wüßt' ich diese Menschen, dies Tal bei Wiesbaden z. B., so sagte ich, gehn Sie dahin oder irgend in geliebten, belebenden Kreis von Freunden von Ihnen. Ich kenne nur den, der in Töplitz sich versammelt, und rechne viel auf mich. Ich bin geschaffen das zu verlebendigen, was da ist, ja manches nur im Keim Daseiendes zu schaffen. Ich habe schon oft gut auf Sie gewirkt. Varnhagen wird auch sehr gut sein. Ihnen sei es als Geheimnis gesagt. Er kommt vielleicht mich abzuholen. Ist er aber den 10ten Juni nicht hier, so reise ich allein ab, das weiß er. Überlegen Sie alles. Wollen Sie, müssen Sie in Friedersdorf bleiben, so beschwör' ich Sie, schreiben Sie mir, wie Sie getan haben, jede Stimmung, jede Nuance des Befindens, jede krankhafte Laune, und schreiben Sie überhaupt. Denn im Kriege war Ihre Freundin nicht aufmerksamer, nicht besorgter um Sie als jetzt. Bleiben Sie in dem Winkel dort, so wird mir in Töplitz, und ginge es mir noch so gut – ginge es mir, als ob ich dies Maß, dies Ziel nicht kennte! –, so blieb mir ein Stein auf dem Herzen, ein Gewissen, ein guter Teil von mir selbst zurück. Hierüber sprechen Sie nicht, dies waschen Worte nicht aus. Warum haben Sie mir nicht geschrieben, wo Ihre nièce ist? So hätte ich sie doch erkannt, wenn sie mir begegnet wäre. Warum ist das Kind mitten im Sommer hier? Es müßte Ihnen leid sein, daß es weg ist. Für mich war es sehr tröstlich, die liebe, lebenverbreitende, innige Kreatur Ihnen nah zu wissen. Fanny und Hanne prosperieren sehr im Tiergarten. Sie haben angenehme Nachbarinnen, junge Fräulein, die auch Gesellschaft haben, und ich führe ihnen auch Menschen hin; Luft, Blüten, Bäume und eine Schaukel, die das agrément des ganzen Quartiers – wie es die Franzosen meinen: Viertels – macht. Mit Hanne spreche ich von Ihnen, weil sie den bon esprit hat sie sehr zu lieben und zu distinguieren, das Beste, was ich von ihr weiß. Die gestrigen Freundinnen frugen auch alle nach Ihnen. Stünde doch in einem von den hundert gelesenen Journalen, was Sie mir über Müller geschrieben haben! In einem Worte haben Sie sich nur geirrt. Talent grade hat er nicht, Eingebung zu Vergleichen, er weiß sie aber nicht zu beherrschen, dies ist Talent, und bröckt, wie Sie es beschreiben, alle Welt und Systeme unter einander. Mich reizt er recht, weil er doch das Höchste anrührt mit diesen Einfällen, und man in einem ewigen Rektifizieren bei ihm bleibt; auch macht er mich und eben daher denken, wiewohl er einen in diesem Geschäfte auch sehr stört. Kompletten Unsinn sagt er. Seit Sonntag lese ich seinen zweiten Band. Dreimal nennt er Rom, wenn er ihm grade alles Ewige abschwatzt, die ewige Stadt, und ebenso lügenhaft, furchtsam, flagornierend Ad. Smith den großen Mann, Hobbes den gewaltigen etc. Wessen Titel der ist, daß er vor dem Prinzen Bernhard und einer Anzahl Diplomaten las; – ich denke, ich rase, wie ich das vorne lese – der muß, wenn er radotiert, schon meinen, er weissagt der Natur ihre Künste und läßt das kommende Menschengeschlecht hinter sich. Was der der Natur alles für Geschäfte aufträgt und für Absichten absieht! Die Stellen, die Sie anmerken, sind mir akkurat aufgefallen. Nun bitte ich Sie, lesen Sie im zweiten Bande von Seite 265 bis 267 vorbei; nein, 68 steht es erst recht, was sich da wieder die Erde vorbehält. Zwanzigtausend Gesichtspunkte hat er. Und 69, was da die Natur wieder mit den Menschen anstellt. Lauter Einfälle, die ihm après coup, nach dem Resultat entfahren. Gewiß fünf unsinnige Stellen habe ich gefunden, ich hatte aber kein Papier bei der Hand. Die Sie notiert, ist göttlich. Olympischer Unsinn, sagten wir immer als Kinder; das glaub' ich. Mirabeaus Briefe aus dem Donjon sind göttlich. Der soll schlecht gewesen sein? Nie hab' ich es geglaubt. An mir hat er in der Nachwelt die Freundin, den Freund, der ihm vielleicht bei der Mitwelt fehlte; wie oft dacht' ich dies bei diesem Manne. Er ist einer meiner liebsten Menschen in der Welt. Ich bin ewig sein Freund; ich weiß, was in dir lebt, ich kenne dich ganz. Hätte einmal ich ihm dies sagen können, wie Goethe die Wahrheit vor sich sah. Wie oft habe ich es Mirabeau nachgerufen! Es ist mein Freund, träfe ich ihn draußen. Schiller, die Jungfrau: O gäb' ein guter Gott, daß wir dem Wurme gleich in ein besonntes Tal etc. O wäre nur Zeit da, das erlittene Unrecht gut zu machen. Das Verschwinden in nichts ist in dieser Betrachtung schrecklich. Dies eine Anknüpfen, Erinnern wünsche ich nur. So lange ich lebe, schließe ich Mirabeau ernst in meinem Herzen.

Wenn der Frohberg ihre kranke Mutter nicht einen besonderen Querstrich macht, so reisen wir in verschiedenen Wagen denselben Tag; ich gedenke den 11ten Juni gewiß. Sie antworten, und genau, und benehmen mir meiner Furcht immer aufs neue weg meine Volume. Sie antworten hübsch gleich. Eigentlich müssen Ihnen meine Briefe lieb sein, sie enthalten so vielerlei, und in Ihrer Wüste dort! Munter, nicht so altklug getan! Überlegen Sie alles, und suchen Sie aus reinem, stillen Gesichtspunkt zu antworten, wie ich mich bemüht habe zu schreiben. Neumann war ganz munter und gesellig, Harscher blind und eitel. Schlecht, schlecht! Den habe ich ganz weg; unheilbar ist er, alle Naturgaben glaubt er nur verkrümelt zu haben. In wenig reinen spekulativen Momenten stellt er sich anders dar, und die sind abgeschnitten von ihm und seinem Benehmen. – Ei, ei! So mächtig muß das Herzensmeer sein, wenn Handel und Wandel oben getrieben werden soll, werden darf! Adieu.

R. R.

Paul[ine] hat mir einen göttlichen Brief geschrieben. Sie müssen ihn haben; dieser ist nur zu dick.

Friedrich Wilhelm Neumann, zuerst in einem großen Handelshause tätig, 1806 mit Varnhagen auf der Universität Halle, dann Erzieher der Kinder des Grafen von Redern, literarisch tätig, später Intendanturrat. – Fräulein Reil, die Tochter des Mediziners Reil. – Es ist nicht bekannt, daß von der Schleiermacherschen Familie damals jemand in Teplitz war. – Karoline Wucherer war die Tochter des Fabrikbesitzers Matthäus W. in Halle, später vermählt mit dem Regierungsrat Schede in Berlin. – Hanne, Tochter des Bruders Marcus der Rahel, später verehelicht mit dem Arzt und Professor Johann Ludwig Casper in Berlin. – Die Steinbäder, eine der vielen Badeanstalten in Teplitz. – Thomas Hobbes, der englische Philosoph (1588 –1679), dessen Moral and political works 1793 auch in deutscher Übersetzung erschienen waren. – Auf einem besonderen, später geschriebenen Blatte sind noch eine Anzahl Zitate aus Ad. Müllers Staatslehre vermerkt. – Adam Smith (1723–1790), bekannter Nationalökonom, dessen auch in deutscher Übersetzung erschienenes Hauptwerk Inquiry into the nature and cause of the wealth of nations 1776 Aufsehen gemacht hatte.


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