Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

53.

Marwitz an Rahel.

Potsdam, Sonntag d. 1t. Dezember 1811, Abend sechs Uhr.

Sie werden heute einen sehr äußerlichen Brief von mir erhalten, liebe Rahel, denn ich denke und fühle oberflächlich. Ursach davon ist, daß ich vom vielen Arbeiten seit vorgestern an den Nerven leide; der Kopf ist angegriffen, nicht sowohl positiv schmerzlich wie ohne vigueur, und die Augen tränen mir viel, besonders am Morgen auf eine unangenehme Art, doch wird es wahrscheinlich, wenn ich mich heute Abend schone, morgen vorüber sein, und im Ganzen ist es noch nicht arg, denn ich arbeite dabei fort, nur leichtere Sachen. Gestern war hier großer Ball, in dem Saal des Komödienhauses, unzählbare Offiziere von der Garde und den Gardeducorps, viele hübsch, einige mit kräftigen Gesichtern, die meisten gut angezogen, viele gut tanzend; Regierungsräte in ihrer Uniform, die an sich recht anständig ist, sie aber alle nicht kleidet, weil keiner eine ausgebildete Persönlichkeit hat. Nur Franzosen und Engländer nehmen sich gut aus in Ziviluniformen. Einige hübsche Frauen waren da, Frau von Hünerbein, recht konserviert, Frau von Bassewitz, die wirklich hübsch ist, nur daß sie in ihrem Gesicht einen nicht ansprechenden Zug hat, der übrigens nicht auf gewöhnliche Bedeutungslosigkeit oder gar Gemeinheit hindeutet, aber doch mit nicht idealen Gemütseigenschaften (so vornehm muß ich mich ausdrücken) zusammenhängen muß. Ich werde ihre genauere Bekanntschaft machen, um dies Rätsel zu lösen. Es war gestern belebt, der Saal ist groß und schön, nur hat er das überaus unbequeme, daß keine Nebenzimmer dabei sind, daher doch alles sich drängt, es an Sitzen fehlt, man zuweilen während des Tanzes auf einzelne Flecke gebannt ist etc. Ich sprach viel mit vielen Offizieren und erfuhr manches mir Interessante über die politische Lage der Dinge. Das oft Geschehene begegnete mir auch hier wieder, daß sich mir jemand, von dessen moralischen und intellektuellen Fortschritten man mir viel Rühmens gemacht hatte, in seiner ganzen alten Armseligkeit und Beziehungslosigkeit darstellte, ein Mensch, der ohne große Eitelkeit und ohne Heuchelei beständig wichtige und herzliche Mienen macht, während gar nichts in ihm vorgeht – ich nenne ihn mündlich. Woher kommt es doch, daß die Welt zuweilen ganz albern und grundlos anfängt jemanden zu preisen; ein allgemeines Lob erschallt plötzlich von allen Seiten ohne irgend eine Veranlassung. Ist Ihnen dies auf Dummheit und Unselbständigkeit beruhende Phänomen schon aufgefallen? Ich tanzte einigemal und war um vier Uhr der letzte im Saale. Redtel mit seiner Frau und Schwägerin war auch da. Er erscheint mir immer unbedeutender, jede Gemütskraft, jedes Vermögen des Herzens und des Geistes fehlt ihm; streift man die Hülle gewandter und ungewandter Phrasen ab, mit der er sein Denken und Wissen umgiebt, so bleibt nichts übrig; er gehört auch zu den scheinbar geistreichen Schwätzern, von denen wir in Dresden redeten und deren Meister Sie übervortrefflich mit einem Polnischen Juden verglichen, der Lause im Pelz hat. Auch hält er nichts fest, beim leichtesten Angriff reißt er aus. So war ich Donnerstag Abend bei ihm, wir kamen auf die Aufführung des Tasso zu sprechen, er lobte erst, ich schimpfte, d'abord il battoit en retraite, gab zu, gab auf, erst die Bethmann und bald ihn, von dem er denn schließlich nur behauptete, daß er bei seiner absoluten Unfähigkeit und Ungeschicktheit doch das Mögliche geleistet habe. Über Redtel, sagte die naive und wirklich überaus gute Frau halb lachend, widersprich Dir doch nicht, gestern hast Du uns ja das alles ganz anders gelobt. Du warst ja ganz enthusiastisch; mir tat es schon sehr leid, nicht da gewesen zu sein, nun aber ist es mir recht lieb. Seine Verlegenheit wuchs; um seine Person geltend zu machen, nahm er denn auch zuletzt einen philosophischen Streit gegen mich auf, wobei er eigentlich nichts recht meinte noch sah und nur verlegen und unbequem hin und her redete. Aus Humanität und Langeweile erlaubte ich ihm einen geordneten Rückzug zu nehmen. Wären seine Frauen nicht, so würde ich wohl ganz mit ihm brechen, so aber gehe ich von Zeit zu Zeit hin. Ich halte ihn für perfide und glaube gar nicht, daß er mich im Ernst gegen Sie gelobt hat.

Gestern Vormittag war ich bei Ternite, der hier für den König in einem Schloßzimmer malt. Alle seine übrigen Gemälde sind flach, bedeutungslos, oberflächlich ausgeführt, ohne Leben; aber das Bild der toten Königin ist furchtbar wahr; erinnern Sie sich der Augen, wie darin der Tod ausgedrückt ist. An diesem Bilde und an Kleinigkeiten sah ich, daß er Talent (Geschick zum Treffen und Ausführen) hat; an Künstlergenie, an dem idealen Fassen der Natur fehlt es ihm in einem solchen Grade, daß ich nicht begreife, woher ihm die Lust und jene Fertigkeit kommt. Er ist dumm und hat dabei die plumpe meklenburgisch-pommersche Herzlichkeit, der man doch ein wenig gut sein muß. Nun von den Studien. Ich lese das Landrecht durch, ein Ding in den kleinlichsten Gesichtspunkten abgefaßt, ja nicht einmal von allgemeinen leitenden Begriffen ausgehend, die in das Chaos einzelner Bestimmungen Faßlichkeit und Ordnung hineinbringen könnten, sondern nur ein Aggregat von Einzelheiten liefern, in dem alles durch frühere Rechtsgelehrsamkeit schon geordnet auf das unbequemste, widerlichste und stupideste durch einander geworfen ist.

Montag früh elf Uhr.

Plötzlicher Ekel vor meinem Briefschreiben ergriff mich gestern Abend. Ich hörte auf und würde Ihnen wahrlich diese schlechte, gedankenlose und unfertige Rhapsodie nicht zuschicken, wenn Sie mir nicht ein für allemal geboten hätten nichts zurückzuhalten oder zu vernichten. Nehmen Sie sie also hin und sammeln Sie augenblicklich glühende Kohlen aus mein unwürdiges Haupt durch eine gute Antwort auf dies schlechte Schreiben. – In Nebenstunden habe ich die Propyläen von Goethe gelesen, über die ich mit Ihnen reden werde. Ich habe in diesem Augenblick weder Zeit noch Stimmung etwas darüber zu sagen, so wenig wie über den merkwürdigen Aristoteles, dessen Politik ich lese. Ich bin sehr verdutzt und dumm; das Landrecht (heute früh seit halb neun wieder meine Plage) ist großenteils daran schuld, denn was kann den Geist mehr erdrücken, als eine Masse einzelner Abstraktionen, die von keiner großen Idee regiert oder erfrischt werden, sondern allein hervorgehn aus der Anschauung eines armseligen egoistischen Privatlebens und Privatrechts. Adio. Ich lege Ihnen etwas bei, was ich Ihnen schon lange zeigen wollte, nicht durch meine jetzige Stimmung, sondern nur durch Erinnerung an ein früheres Wollen darauf geführt. Sie werden es nicht ohne Tränen lesen.

A. M.

PS. ich kann es nicht finden. Es ist die Geschichte der Todestage meines Bruders.

Ich weiß noch nicht, ob ich Sonnabend oder Montag kommen werde.

Frau von Hünerbein, die Gemahlin des späteren kommandierenden Generals in Breslau. – Goethes Tasso wurde im Dezember 1811 in Berlin aufgeführt. – Wilhelm Ternite, 1786 –1871, war Galerieinspektor in Potsdam. – Die Propyläen gab Goethe 1798–1800 heraus. – Aristoteles Politik, wahrscheinlich die deutsche Übersetzung, die Garve 1794–1802 herausgab.


 << zurück weiter >>