Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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65.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam,] Mittwoch Abend acht Uhr, d. 5t. Februar 1812.

Ich will Ihnen einige Zeilen über Duclos schreiben, den ich eben geendigt habe. Ich beurteilte ihn in meinem vorigen Briefe falsch, denn er hat bei aller seiner Ungeschicktheit doch etwas, was ihn vor allen Franzosen auszeichnet, nämlich einen Ernst des Charakters, eine Wahrhaftigkeit, einen gewissen trüben Tiefsinn über Menschen und menschliches Handeln, Einsicht in den sittlichen Verfall und die daher entstehende Schwäche seiner Regierung, Schmerz darüber, der sich mit Ekel und Widerwillen gemischt hat, wodurch er an Tacitus erinnert; ja jene Ungeschicktheit selbst, von diesen höhern Eigenschaften getragen, ist eigentümlich und unfranzösisch an ihm. Der letzte Teil seiner Memoiren war mir höchst merkwürdig, weil mir die Notwendigkeit der Revolution daraus besonders einleuchtete. Der französische Adel und alles, was den Hof und die Regierung bildete, war zu verderbt. Welche schreckliche Depravation desselben brach unter dem Regenten hervor, und mit welcher entarteten Schwäche, welcher albernen Unfähigkeit endete diese unter Ludwig XV. Unter dem Regenten sind die Vornehmen mehr niederträchtig und ruchlos, unter Ludwig mehr sots. Nunmehr hat das Verderben der höhern Klassen auch die untern ergriffen, bei denen sich unter den Königen noch eine gewisse Frische, eine lebenslustige Gutmütigkeit, eine herzliche, ja hin und her religiöse Redlichkeit und Höflichkeit und dabei jene praktische Energie erhalten hatte, durch die sie fähig waren die Revolution zu machen. Nach allem aber, was man sieht und hört, geht es jetzt über in Korruption und Brutalität. Auch Duclos Stil ist hin und her dem des Tacitus ähnlich. Ich habe einige Stellen der Art gezeichnet; sie schildern mit kräftigen und energischen Zügen; doch tritt die Stimmung und die Art, die bei dem Römer permanent ist, bei dem Franzosen nur zuweilen hervor und unterbricht die übrigens schwächliche Darstellung.

Montag Abend sechs Uhr.

Seit Freitag habe ich alle Tage sicher auf einen Brief von Ihnen gerechnet, liebe Rahel. Warum schreiben Sie mir nicht? Sind Sie krank? Ich fürchte es, denn auf Ihren Zettel, den ich grade heute vor acht Tagen erhielt, müßte längst ein Brief gefolgt sein, wenn alles in der gehörigen Ordnung wäre. Ich hätte Ihnen vieles zu sagen, denn ich habe in diesen letzten acht Tagen ziemlich viel getan, aber da ich gar nicht weiß, wie es Ihnen geht, so kann ich mit keiner Sicherheit zu Ihnen reden. Geben Sie mir sogleich ein Zeichen Ihres Lebens. Ich komme Freitag nach Berlin, muß aber früher von Ihnen wissen. Gewiß ist etwas vorgegangen, denn sonst hätten Sie mir wenigstens ein paar Zeilen über die Besorgung der Kommission an Willisen geschrieben. Sie bei Ihrer Pünktlichkeit. Ich bin ganz besorgt. Adieu.

A. M.

Sie begreifen, warum ich Ihnen nicht mehr schreibe. Ich kann Sie mir nicht in dem alten gewöhnlichen Zustand denken, und wo fände ich Worte für den neuen, den ich nicht kenne? Auch müssen diese Zeilen noch heute auf die Post.


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