Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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49.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam,] Dienstag d. 12t. November [18]11, sieben Uhr Abends.

Ich soll Sie immer wieder beruhigen wegen Ihrer volumes, schreiben Sie mir, liebe Rahel. So hören Sie denn, wie ich sie empfange. Ich lese sie drei- bis viermal hintereinander durch, manche Stellen noch viel öfter, lege sie dann weg mit dem Gefühl eines Geizigen, der seinen Schatz wieder um ein paar Tausend Taler vermehrt sieht (das ist grade mein Fall, anders kann der Geizige seinen Schatz nicht fühlen, als ich in einer Rücksicht Ihre Briefe), und dann laufe ich ein oder mehrere Stunden im Zimmer umher und lasse den Inhalt Ihrer Zeilen in mir nachklingen; antworten kann ich in dieser Stimmung nicht, denn ich bin zu agitiert, fühle zu sehr das Ganze, als daß ich an ein Einzelnes anknüpfen und mich darüber aussprechen könnte. Und nun be[un]ruhige ich Sie nie mehr von neuem. So haben Ihre Briefe immer auf mich gewirkt, so werden sie immer auf mich wirken. Senden Sie mir daher nur ja immer diese volumes, liebe Freundin; es können tausend Umstände kommen, um derentwillen ich nicht sogleich antworte (Sie haben mir ja auch auf drei Briefe von Töplitz nicht geantwortet), äußere Hindernisse, gestörte Stimmungen: aber seien Sie ein für allemal überzeugt, daß darum nicht minder jedes ihrer Worte mir zum innersten Herzen dringt und dort verjagt, was von Unmut oder Stumpfheit sich festgesetzt haben mag. Wie soll ich Ihnen besonders für Ihre beiden letzten Briefe danken, für den unaussprechlichen Reichtum tiefer innerer und lebendiger äußerer Dinge, mit dem sie mich überschüttet haben. Ich will einiges beantworten.

Ja, liebe Freundin, Sie haben ein egoistisches Herz, aber ein solches, welches das Edle, Hohe, Kräftige, Wahre an sich ziehen und genießen will. Jeder Rechte hat einen solchen Egoismus, setzt sich als Mittelpunkt des Weltalls, aber wie wenigen Hochbegabten ward, seit die Erde steht, die Fülle des Herzens, » die Gerechtigkeit der Seele«, die Penetration des Geistes verliehen, um ihn zu befriedigen wie Sie? Lassen Sie Rahels Herz zu Asche gesunken sein, das menschliche Herz schlägt weiter in Ihnen mit freieren, höheren Pulsen, abgewandt von allem Irdischen und doch ihm ganz nahe, die scharfe Intelligenz denkt weiter und in größern Kreisen; aus dem grünen, frischen, lebendigen Tal hat Sie der Schicksalssturm hinaufgehoben auf Bergeshöh, wo der Blick unendlich ist, der Mensch ferne, aber Gott nahe.

Reinhardt mußten Sie so sehen, er ist ungelenk, er hat nicht die Versatilität tätiger Naturen, und es kann ihn eine bornierte Insichgezogenheit Unbekannten gegenüber beherrschen. Dann dominiert der untere Teil seines Gesichts, besonders die fatale Nasenspitze. Ganz anders ist es, wenn seine Augen herrschen und jene unangenehmen Züge um Mund und Nase ganz bezwingen. Sie haben einen doppelten Ausdruck, einen sinnigen, still hörenden, offen und unbefangen aufnehmenden, und eine muntere, innere Behaglichkeit und lustige Teilnahme andeutend. Diesen doppelten Ausdruck können Sie nicht wahrgenommen haben, und so kennen Sie sein inneres Wesen nicht, das eben in einer Unpersönlichkeit, in einer reinen, unschuldigen Offenheit besteht, welche um so liebenswürdiger ist, da sie gar nicht auf einer schwachen Negativität, sondern auf einem eben so fest bestimmten wie sanften Charakter ruht. Weil ich wußte, daß er sie verstehen würde, hatte ich ihm, ehe er nach Berlin zurückging, viele Ihrer Briefe vorgelesen. Sie begeisterten ihn durchaus, und er faßte sie ganz von der rechten Seite. Wie er zurückkam, fragte ich ihn natürlich gleich, ob er Sie gesehn und wie? Er lobte Sie sehr, auf Tiefen sei das Gespräch nicht gekommen, aber nie habe er einen Menschen gesehn, der mit der Energie und der Leichtigkeit von allem den Mittelpunkt ergriffe.

Schöne Worte über Harscher: »die gepeinigte, geistreiche, fromme, angekrankte Seele«. – Abscheuliche Pause hier, Salemon war hier, er schrie im Regen auf dem Hof einige Mal nach mir. Ich konnte es nicht übers Herz bringen und machte ihm auf. Jetzt ist es halb elf. Ich erzählte ihm, um mich nicht stören zu lassen, von Rom und Griechenland und las ihm vor; er hörte es mit halber Teilnahme und anerkennend, war aber innerlich doch leer. Kennen Sie solche Leute, die bis auf einen gewissen Punkt verstehen und sich begeistern, da aber hört es plötzlich auf, man weiß gar nicht warum. Es scheint willkürlich, daß, da sie nun so weit gekommen, sie nicht noch weiter gehn, aber sie können nicht. Es giebt viele der Art. Über Harscher hätte ich Ihnen, wäre S[alemon] nicht gekommen, viel Gutes und vielleicht Erschöpfendes gesagt. Nun ist es vorbei. Für die Erzählung von Emilie von dem Abend bei Bethmanns tausend Dank; ich sah alles.

Ich bin ganz fleißig gewesen die Zeit her. Friedrich Schlegel bringe ich Ihnen. Er ist nur vorn erträglich, je weiter er gegen das Ende kommt, desto alberner wird seine Befangenheit, desto unredlicher seine Ignoranz, denn aus bloßem Vorurteil weiß er manches gradezu nicht, hat instinktartig darüber hinweggesehn (das ist aber Gewissenlosigkeit). Die nüchternsten, dümmsten, ideenlosesten Östreichischen Kaiser (denn Östreich ist das Zentrum der Welt, der politische Kern Europas) sind ihm besonnene Weise, jeder mittelmäßige General ein Held, die elende Zeit, in der Östreich prosperierte (die der Minderjährigkeit Ludwig XV.), die glänzendste Epoche der neuern Geschichte. Mit Smith bin ich fertig. Viele auf unsre Verfassung sich beziehende Dinge habe ich gelesen. Auf Sanssouci war ich lange nicht, es ist jetzt dort stürmisch und öde; öfter ging ich im Neuen Garten, wo der flutende See die vielen dichten Tannengebüsche es lebendiger machen und die Marmorhalle vor dem Hause mir ernste, vornehme, rührende und schwermütige Gedanken erweckt.

Bei Rettel war ich noch einmal zu Abend, und heute ging ich mit ihm spazieren. Er ist zu sehr in Geschäften festgerannt und kaum etwas andres mit ihm zu reden, wenigstens ergreift es ihn nicht. Auch dringt er nicht an die Wurzel der Dinge, sondern so lange begleitet er einen, artig, verständig und zuweilen geistreich, bis das Gespräch in die Tiefe gehen und zur Untersuchung werden will, dann wendet er sich ab. Kurz, wie ich gesagt habe, das Riguröse fehlt ihm. – Sonntag mußte ich einen Brinkmannisch langen Brief an Scheibler schreiben. Darum erhielten Sie keinen. Von der Mutter der Bassewitz sagte mir Rettel, ihre große Imbecillität sei das Beste an ihr. Das scheint dumm zu sein nach dem, was Sie mir schreiben. Rettels luden mich ein, mich bei Bassewitz präsentieren zu lassen, die hier das erste Haus machen; ich lehnte es ganz gleichgültig ab; wenn sie mir es noch einmal vorschlagen, werde ich nach einer leichten Wendung des Gesprächs ihnen sagen, daß ich über alle mittelmäßige Gesellschaft zu unmäßig blasiert wäre, weil ich so viele vortreffliche gesehn hätte; dies um den Leuten hier den Gedanken, als ob ich mir ein subordiniertes Referendarienverhältnis gefallen ließe, bei der letzten Wurzel auszureißen.

Gute Nacht, Liebe. Freitag sehe ich Sie. Ich bin müde und herabgestimmt.

A. M.

Lesen Sie im Homer Ilias B. 22, bis Hektor stirbt, oder halten Sie es bereit, wenn ich komme. Ich war verzückt. Mein Gott, haben Sie denn Goethes Leben gelesen? Es ist ja heraus.

Gustav von Brinckmann, der schwedische Dichter und Diplomat, bekannt durch seine langen philosophierenden Briefe. – Goethes Dichtung und Wahrheit, Bd. 1, war 1811 erschienen.


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