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Fünfzehntes Kapitel.

Eleonore hatte noch nicht an Schlafengehen gedacht, als auch sie die Schelle der Flurthür hörte. Sicher eine Depesche – von ihm, der krank war, im Sterben lag, sie zu sich an sein Sterbebett rief!

Sie eilte, ihre Thür zu öffnen, sah Auguste mit dem Lämpchen in der Hand über den Flur gehen, hörte die Flurthür aufschließen und jemand nach ihr fragen: eine weibliche Stimme – Borykines Schwester.

Sie trat vollends heraus; eine in Schwarz gehüllte, verschleierte, hohe Gestalt kam mit raschen Schritten auf sie zu.

Fräulein Eleonore Ritter?

Eleonore ergriff die ausgestreckte, schwarzbehandschuhte Hand und führte die Fremde in ihr Zimmer, gab Augusten, die mit glotzenden Augen den sonderbaren Vorgang verfolgte, jenen Befehl, welcher die Geheimrätin so tief verstimmen sollte, kehrte in das Zimmer zurück, dessen Thür sie hinter sich abschloß, und reichte Wera nochmals die Hand.

Das ist so lieb, daß Sie gekommen sind!

Eine Liebe ist der andern wert. Sie haben uns einen so großen Dienst geleistet, als Sie Gregors Papiere verbrannten. Ich zahle nur eine Schuld zurück.

Wera hatte bei diesen Worten den Schleier gelüftet; Eleonore blickte in ein blasses Gesicht, dessen unregelmäßige, aber nicht unschöne, kindlich weiche Züge in seltsamem Widerspruch zu stehen schienen mit den großen, grauen, strengen Augen unter den scharfgezeichneten, dunklen Brauen. Die bis zur Hagerkeit schlanke Gestalt machte den Eindruck großer Kraft und Elasticität; die Hände, von denen sie jetzt die Handschuhe gestreift hatte, waren wohlgebildet, weiß und, wie die Gestalt, kräftig und elastisch.

Auch über Eleonore hatte Wera ihre prüfenden Blicke gleiten lassen. Ein flüchtiges Lächeln zuckte um den kleinen Mund.

So habe ich Sie mir vorgestellt! sagte sie; ich glaube, ich würde Sie überall erkannt haben. Gregor hat Sie mir so oft bis in die Einzelheiten Ihrer Erscheinung geschildert! Er schildert nicht schlecht, wenn er nicht durch Liebe oder Haß verblendet ist, was ihm freilich nicht selten passiert.

Sie hatte in der Ecke des kleinen Sofas Platz genommen, Eleonore sich zu ihr gesetzt. Wera, die das Deutsche völlig geläufig, nur mit einem leisen Anflug von schweizerischem Dialekt sprach, fuhr fort:

Sie müssen verzeihen, daß ich Sie so spät aufsuche. Ich bin erst seit einer Stunde in Berlin, reise morgen abend zehn Uhr weiter nach Petersburg und habe den ganzen Tag nicht eine freie Minute. Lassen Sie uns also keine Zeit verlieren! Ich komme zu Ihnen auf den Wunsch Gregors. Ich habe seinen letzten Brief an Sie gelesen, wie er mir denn alle seine Briefe zu lesen gibt; kenne also Ihre Situation, wie sie ihm erscheint. Offen gestanden: Gregors Urteil ist mir manchmal verdächtig. Es sollte mich deshalb gar nicht wundern, wenn Sie mir erklären, daß Sie über die Alternative, die er Ihnen stellt, herzlich gelacht haben.

Eleonore hatte gefürchtet, daß Gregors Schwester mit derselben Heftigkeit, wie er, sie zu einer Entscheidung drängen würde, um die sie in diesen letzten Tagen vergebens so qualvoll gerungen. Die Unbefangenheit, mit der Wera alles in Frage ließ, empfand sie als eine Barmherzigkeit, für die sie sich nur durch Offenheit dankbar erweisen konnte.

Hätte sich Ihr Bruder in Person die Antwort auf seinen Brief geholt, erwiderte sie, würde ich ihm freilich haben erklären müssen, daß seine Sorge um mich sehr unnötig gewesen sei; ja, daß ich ihm das Recht bestreiten müsse, mir Ratschläge zu erteilen, um die ich ihn nicht gebeten hatte. Ihnen gegenüber empfinde ich anders. Sie sind ein Mädchen, wie ich, und kommen als Freundin zu mir. Gegen Sie kann ich und will ich anders sprechen. Das Urteil Ihres Bruders über meine augenblickliche Lage ist in der Hauptsache richtig: ich stehe vor einer Entscheidung, die darin gipfelt, ob ich um einer Heirat willen, die mir nicht in jedem Punkte zusagt, meine Freiheit opfern darf. Ich vermute, daß Ihnen wunderlich erscheint, wie jemand in einem solchen Falle auch nur für einen Augenblick unentschieden sein kann.

Sehr richtig! entgegnete Wera. Ich würde meine Freiheit für nichts in der Welt hingeben, am wenigsten für eine Heirat.

Auch nicht für eine aus Liebe?

Ich glaube nicht an die Liebe. Sie ist eine Illusion, wie alles.

Also auch die Freiheit?

Auch die Freiheit! Nur daß sie die höchste, schönste ist, an der man deshalb bis zuletzt festhält, nachdem man alle andern hat fahren lassen.

Und die man zuletzt doch auch wird fahren lassen müssen. Und dann?

Dann –

Weras strenge, klare Augen nahmen einen unheimlich starren Ausdruck an, während sie jetzt, sich unterbrechend, ein paar Momente an Eleonore vorüber ins Leere blickte und nun mit leiser, fester Stimme fortfuhr:

Dann kommt der Tod, der die letzte Fessel abstreift.

Und wenn er auf sich warten läßt?

So sucht man ihn und darf sicher sein, daß man ihn findet.

Eine Pause entstand. Auf der Straße, in dem Hause war es lautlos still. Vor ihnen auf dem Tische lag die kleine, mit Brillanten besetzte Uhr, die Guido Eleonoren aufgedrungen hatte. Sie hatte das Ticken derselben nie gehört. Jetzt vernahm sie es deutlich, erst ein leises, schnell vibrierendes Klingen, das mit jeder Sekunde lauter und schneller zu werden schien, wie das Klappern eines Eilzuges, der durch das Dunkel dahinsaust, dem Tode entgegen, den zu finden man sicher sein kann, wenn man ihn sucht.

Plötzlich hatte sich Wera erhoben.

Meine Zeit ist um! sagte sie. Ein längeres Gespräch würde auch nichts nutzen. Ich sehe, daß Sie zu einem Entschlusse noch nicht gekommen sind, und mir liegt es fern, Sie dazu drängen zu wollen. Ich habe nichts gewollt, als Ihnen meine Dienste anbieten, im Fall Sie ihrer bedürften. Auf alle Fälle lasse ich Ihnen den Paß hier, von dem Ihnen Gregor geschrieben hat. Schicken Sie ihn mir morgen im Laufe des Tages unter der Adresse, die ich oben in der Ecke links mit Bleistift notiert habe, zurück, so heißt das so viel, daß ich ohne Sie reisen soll. Sonst treffen wir uns pünktlich zehn Uhr auf dem Zentralbahnhof in der Friedrichstraße.

Sie hatte eine kleine, in Papier gewickelte Rolle aus dem Muff genommen und neben die Uhr auf den Tisch gelegt. Eleonore warf einen scheuen Blick auf die Rolle. Hier war in greifbarer Form die Versuchung, die sich in diesen Tagen näher und näher an sie herangedrängt hatte. In dem beschämenden Gefühl ihrer Unentschlossenheit gegenüber einem Mädchen, das die Entschlossenheit selber war, fragte sie mit unsicherer Stimme:

Sie werden längere Zeit in Petersburg bleiben?

Möglicherweise für immer! erwiderte Wera, im Begriff, sich die Handschuhe anzuziehen.

Ich glaubte aus dem Brief Ihres Bruders verstanden zu haben, daß es sich nur um eine schnell zu erledigende Mission im Interesse Ihrer Partei handle.

Um was es sich wirklich handelt, weiß Gregor nicht, erwiderte Wera, an ihrem linken Handschuh knöpfend.

Ihr Bruder nicht?

Nein! Wir können in unsre letzten Entschließungen nur solche einweihen, deren Kopf keine Skrupel mehr kennt, deren Blut nichts mehr in Wallung bringt. Zu denen gehört mein guter Gregor nicht. Er ist bei allem seinem affichierten Radikalismus ein sentimentaler Phantast, wie unter andrem – Sie nehmen es mir nicht übel – seine wahnsinnige Leidenschaft für Sie beweist. Nicht, als ob Sie einer solchen nicht wert wären! Nur, daß er sie nicht haben dürfte. So würde er auch, wüßte er, um was es sich handelt, mich nicht fortgelassen haben. Und doch kann das, um was es sich handelt, nur eine Frau ausführen.

Ihre Stimme war, indem sie, an dem rechten Handschuh knöpfend, so sprach, völlig unverändert weich und leise geblieben, und da sie die Augen gesenkt hielt, sah Eleonore nur das Gesicht mit den kindlich weichen, harmlosen Zügen.

Muß es denn sein? rief sie, Weras beide Hände fassend.

Es muß sein! erwiderte Wera leise.

Die großen Augen hatten sich gehoben. Vor ihrem stillen, festen Blick rieselte ein Schauder durch Eleonores Glieder.

Da! sagte sie, nach der Rolle auf dem Tische greifend; nehmen Sie! Man findet den Tod, den man sucht, so sicher in Deutschland wie in Rußland.

Ich wußte es, erwiderte Wera, die Rolle wieder in den Muff steckend, und bedaure nur eines: daß Sie keine Russin sind.

Wo wäre da groß ein Unterschied? Ich glaube an die Liebe und bin bereit, für sie zu sterben, wie Sie für die Freiheit.

Ich glaube auch nicht mehr an die Freiheit.

Und doch?

Gerade deshalb!

Ah! jetzt erst verstehe ich Sie!

Das ist mehr, als mein armer Gregor je von sich rühmen könnte. Leben Sie wohl!

Ich habe das Mädchen zu Bett geschickt und werde Sie hinunterbegleiten, sagte Eleonore, die Lampe ergreifend.

Es ist nicht nötig! erwiderte Wera. Vor Ihrer Flurthür wartet der Portier mit seiner Laterne auf mich. Er soll sein Trinkgeld nicht umsonst bekommen haben.

So denn bis dahin!

Sie standen an der Flurthür, durch deren Scheiben das Licht der Laterne schimmerte, mit welcher sich der Portier auf die oberste Treppenstufe gesetzt hatte.

Wollen Sie mir einen Kuß gewähren? sagte Wera.

Eleonore umschlang sie mit beiden Armen und küßte sie. Ihre zitternden Lippen waren heiß; die, welche sie berührte, ruhig, kühl und weich, wie eines Kindes.

Leben Sie wohl! für immer!

Für immer! leben Sie wohl!

Wera hatte den Schleier über das Gesicht gezogen und folgte dem Portier, der mit der Laterne voranleuchtete. Die schwarze Gestalt verschwand im Dunkel der Treppe.

Für immer! murmelte Eleonore.


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