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Achtes Kapitel.

Eleonore brauchte, als sie am Hause anlangte, nicht den großen Klopfer zu rühren. Die Flur stand auf; in dem matt erhellten Flur kam ihr von der Treppe herab Elise entgegen.

Wie steht es? fragte Eleonore angstvoll.

Nicht gut! antwortete das Mädchen. Der Herr Doktor ist noch oben.

Und während sie die Treppe hinaufstiegen:

Ich habe in Ihrer Stube am Fenster gestanden, Fräulein, und Sie kommen sehen. Ich wußte, Sie würden sich übersetzen lassen, sobald Sie es erführen. Wollten denn die Herrschaften nicht mit?

Sie werden den Wagen benutzen.

Das kann noch lange dauern. Na, freilich, es ist ja nur Fräulein Clementine!

Eleonore war in ihr Zimmer getreten, sich umzukleiden. Zu ihrer Verwunderung stand die Thür zu dem Schlafgemach Clementines nebenan weit offen; in dem Gemach war es dunkel und still.

Der Herr Doktor, berichtete das Mädchen, das ihr behilflich war, fanden es hier zu eng und warm. Er ließ sich das Fremdenzimmer zeigen, das große, wissen Fräulein, nach Norden. Da haben wir sie hinbringen müssen, ich und Male. Der Herr Doktor haben selbst mit angefaßt. Es wäre nicht nötig gewesen. Sie ist ja so leicht, unser liebes, armes Fräulein!

Eleonore hatte das Mädchen zu dem Doktor geschickt, ihm zu sagen, daß sie da sei und ob sie kommen dürfe? Nach einer Minute klopfte er an ihre Thür.

Ich kann Ihnen nicht verhehlen, sagte er nach kurzer Begrüßung, es steht schlecht, sehr schlecht! Sie werden auch nicht übler von mir denken, wenn ich Ihnen gestehe, ich bin heute morgen darauf nicht gefaßt gewesen. Der Puls war ein wenig agitiert, und die Herztöne – was soll ich ins Detail gehen! Es deutete nichts auf eine so schwere Komplikation, wie sie jetzt eingetreten ist. Diese unglückselige Fahrt nach Wendelstein! Aber es muß da auch etwas passiert sein, was sie furchtbar aufgeregt hat. Wissen Sie etwas darüber?

Eleonore schüttelte den Kopf.

Ich habe heute morgen selbst den Eindruck gehabt, sagte sie; aber ich ahne nicht, was es gewesen sein kann.

Es kommt auch schließlich nicht viel darauf an, fuhr der Doktor fort. Die Hauptsache ist und bleibt die schwere Erkältung, die sie sich geholt hat. Sind Sie bereit?

Sie gingen über den Korridor; der Arzt blieb stehen.

Wissen Sie, sagte er, – einem Arzt begegnet ja viel. Aber eine Mutter, der der Arzt – der alte Hausarzt – sagen läßt, daß ihr Kind krank, todkrank ist, und die – na, man lernt eben nicht aus.

Er schritt weiter; sie standen vor der Thür. Der Doktor hatte die Hand auf dem Griff.

Sie werden sie sehr verändert finden, sagte er leise.

Elise, die inzwischen die Kranke bewacht hatte, erhob sich von dem Stuhl am Bett, auf dem nun der Arzt Platz nahm. Eleonore stand dabei; der obere Teil des Bettes war von einem vorgeschobenen Schirm beschattet; sie sah Clementines Gesicht nur in den Umrissen; es erschien ihr nicht anders als sonst, nur sehr bleich.

Der Arzt verließ das Bett und winkte Eleonore etwas beiseite.

Sie sind ein mutiges Mädchen. Es würde auch nichts nutzen, wollte ich mit der traurigen Wahrheit zurückhalten. Ich kann mich irren, aber ich muß das Schlimmste fürchten. Für die nächste Stunde, vielleicht für die nächsten Stunden, wird keine wesentliche Veränderung eintreten. Ich will die Zeit benutzen und noch einmal nach einem Kinde von Besekow sehen – der kleinen Grete, die auch sehr schwer krank ist. Ich bin in einer halben, höchstens einer Stunde wieder hier. Also, auf Wiedersehen! Ein wahrer Segen, daß Sie gekommen sind!

Doktor Balthasar hatte das Gemach verlassen, Elise ihn begleitet. Das arme abgeängstigte Ding konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie sollte sich inzwischen in Eleonores Zimmer auf das Sofa legen. Eleonore mußte versprechen, sie zu rufen, sobald sie ihrer bedürfte.

Nun war sie allein mit dem geliebten Wesen, das sterben sollte. Sie zweifelte nicht mehr daran, jetzt, wo sie, am Bette sitzend, die Verwüstung deutlich sah, welche die kurze Krankheit in dem unschönen und doch so holden Gesicht angerichtet. Die feine Nase war unheimlich spitz geworden; die Backenknochen waren scharf hervorgetreten; auf den bleichen Wangen kamen und schwanden dunkle rote Flecke. Die Augen hielt sie halb geschlossen, Eleonore konnte nur das Weiße sehen. Sie hätte glauben mögen: dies sei schon der Tod, nur daß jeweilig ein Zucken durch den zarten Körper ging und durch die zusammengeklemmten Zähne leises Wimmern und Stöhnen kam.

Aber wäre der Anblick auch nicht so erschreckend gewesen, und hätte der Arzt nicht mit solcher Bestimmtheit gesprochen – Clementine hatte mehr als einmal gesagt: Eine schwere Krankheit, dann ist es mit mir aus. Ist auch nur in Ordnung. Was soll ich auf der Welt?

Ja, du hast recht, du armer Schwächling mit deinem großen, liebevollen Herzen, was solltest du auf der Welt? Die Welt ist nur für die Gesunden und die statt des Herzens einen Stein in der Brust haben. Stirbst du an deiner Liebe? Sind wir Schwestern auch darin?

Wie zur Antwort auf Eleonores fragende Gedanken kamen über die bleichen Lippen der Kranken abgerissene, unverständliche Laute, die wohl Worte sein wollten und dann zu Worten wurden – abgerissen noch immer, aber verständlich für sie, die sich atemlos lauschend über die Phantasierende gebeugt hatte – furchtbar verständlich! Garten und Laube und Mondschein – so heller, heller Mondschein! – und, o mein Gott! wie sie sich lieben! wie sie sich küssen! – nur einen von den vielen Küssen – nur einen! – warum gehst du nicht mit ihm, wenn er dich bittet? – so geh doch! geh doch! –Ich brauche dich nicht – ich kann mich allein totweinen – allein! – ach, so ganz allein!

Dann ein schmerzliches Stöhnen und große Thränen, die aus den halbgeschlossenen Augen über die bleichen Wangen rollten, auf denen die dunkelroten Flecken verschwunden waren. Und abermals schmerzliches Stöhnen. Dann wieder die Todesstille von vorhin.

Das also war es, was sie auf dem Herzen hatte, worüber ihr armes Herz brach! Wonach ihr unschuldvolles Herz schmachtete – das Glück der Liebe, sie hatte es mit eigenen Augen gesehen! Und die ihr das Schauspiel boten, waren der Geliebte und die Freundin!

Eleonore hatte der Unglücklichen die Thränen von den Wangen gewischt; ihre Augen waren trocken geblieben. So furchtbares Unheil anrichten und es dann beweinen, dünkte ihr erbärmlich. Wie ein eiserner Reif legte es sich um ihre Brust. Und der sollte da liegen bleiben und die Liebe erdrücken, zermalmen – diese fluchenswerte Liebe, die nur elend macht und Elend stiftet. Wäre sie vorgestern schon so weit gewesen, dies arme unschuldige Opfer hätte nicht zu fallen brauchen. Mußte es fallen, sollte es wenigstens das letzte sein.

So in starren Schmerz versunken, saß sie regungslos, die brennenden Augen unverwandt auf die Kranke gerichtet, welche jetzt sanft zu schlafen schien, nur daß die weißen Hände auf der Bettdecke manchmal zuckten. Sie wußte nicht, wie lange es gewährt hatte, bis Doktor Balthasar zurückkam – es mochte eine Stunde, es mochten auch anderthalb vergangen sein. Dann hatte der Doktor ihren Platz eingenommen, sie sich in einiger Entfernung vom Bette in eine dunkle Ecke gesetzt. Das dauerte wieder geraume Zeit. Plötzlich stand der Arzt neben ihr.

Mein liebes Fräulein, es ist doch wohl besser, wenn Sie sich niederlegen.

Ich bin nicht müde.

Wenn auch – es ist doch besser.

Jetzt erst verstand sie ihn.

Lassen Sie mich hier, sagte sie; ich will stark sein.

Sie hatte noch nie einen Menschen sterben sehen; sie sah es auch jetzt nicht. Der Arzt, der sich über die Sterbende gebeugt hatte, entzog sie mit seiner breiten Gestalt ihren Blicken. Sie bebte, wie sie so neben ihm stand, am ganzen Leibe; aber empfinden und denken konnte sie nichts. Sie hatte nur das dumpfe Bewußtsein davon, daß in diesem Augenblicke etwas Furchtbares vor sich ging. Dann richtete sich der Arzt auf, nachdem er sanft über das Antlitz der Toten gestrichen hatte.

Have, pia anima! murmelte er.

Darf ich sie sehen? flüsterte Eleonore.

Der Arzt nahm schweigend die Lampe und leuchtete der Toten ins Antlitz.

Ich habe nicht gewußt, daß das arme Kind so schön war! sagte er leise.

Eleonore beugte sich auf das friedliche Gesicht und küßte die bleichen Lippen.

In dem Moment, als sie wieder aufrecht stand, ertönte durch die stille Nacht deutlich das Knirschen der Räder eines Wagens, der dann auch alsbald vor dem Hause hielt. Eleonore schrak zusammen: sie konnte den beiden nicht jetzt, nicht hier begegnen.

Der Arzt mußte ihr die Gedanken vom Gesicht abgelesen haben.

Gehen Sie jetzt! sagte er. Es soll Sie niemand stören. Ich werde alles Nötige veranlassen. Gute Nacht!

Er hatte ihr die Hand gereicht. Eleonore warf noch einen Blick auf die Entschlafene. Dann eilte sie über den Korridor nach ihrem Zimmer, das sie erreichte, als bereits vom untern Hausflur her die harte Stimme der Generalin sich vernehmen ließ:

Geh einstweilen zu Bett, mein süßes Kind! Der Tag war auch ohne das anstrengend genug für dich.


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