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Zweites Buch.

Erstes Kapitel.

Eleonore hatte geglaubt, noch am Abend desselben Tages in einem Zuge nach Berlin kommen zu können. Es war nicht möglich gewesen. Der Emdener Dampfer hatte unterwegs Havarie gehabt und seinen Bestimmungsort erst mehrere Stunden später erreicht. Der Eisenbahnzug, der sich an den Dampfer anschließen sollte, war ebensolange fort gewesen; Eleonore hatte einen späteren, langsameren benützen müssen, der sie erst gegen abend nach Hannover brachte. Der Schnellzug nach Berlin passierte die Stadt zwar um Mitternacht; aber ihre Kraft war erschöpft; sie ließ sich nach einem Hotel in der Nähe des Bahnhofes fahren, dort die Nacht zuzubringen.

Eine Nacht, viel trauriger als die traurige letzte in Norderney. Da hatte sie noch die Küsse des geliebten Mannes auf ihren Lippen zu fühlen geglaubt und aus ihrer Liebe die Kraft schöpfen können, ihm den Brief zu schreiben, der sie für immer trennte. Nun war's geschehen; die Wunde hatte ihren letzten Tropfen Blut hergegeben, und die Schmerzen waren gekommen. Erträglich in den ersten Stunden auf dem Dampfer, während das Frohgefühl des Sieges, den sie über sich selbst errungen, in ihrer Seele nachzitterte, und Meer und Himmel die Erinnerung der holden, mit dem Geliebten hingebrachten Stunden so lebhaft wachriefen, daß sie nur die Augen zu schließen brauchte, ihn an ihrer Seite zu wähnen; dann, schärfer schon in einem überfüllten Coupé, auf der Eisenbahnfahrt durch die trostlos-öden Marschen und weiter durch das einförmige Flachland; todesbitter jetzt in dem Hotelzimmer, das ihr in seiner landläufigen Wohlanständigkeit das Abbild des Lebens schien, zu dem sie den Geliebten und sich verdammt hatte. Weshalb? Damit die alte Großmutter Sitte doch ja nicht aus ihrem behaglichen Schlaf am warmen Ofen aufgeschreckt werde! Und so mußte eine Welt von Licht und Geist und Poesie zu Grunde gehen, über die eben erst ein Gott sein Werde! gesprochen. War das nicht erbärmliche, schmachvolle Feigheit, deren Schuld sie und sie allein traf? Er hätte sie nie wieder aus seinen Armen gelassen, nie! hätte sie ihn nicht von sich gejagt. Wohin? In der anderen Arme! Konnte er die je wieder an seinem Halse fühlen, ohne daß ihm die Röte der Scham ins Gesicht stieg über den Verrat, den er an ihr beging, der sein Herz gehörte, und die sein rechtes Weib war, wenn auch kein Priester den Bund gesegnet hatte?

Das raste durch Eleonores Hirn und Herz, während sie in die Flammen der beiden halb heruntergebrannten Lichter auf dem runden Tisch vor dem Sofa starrte und dann wieder und wieder händeringend das freudlose Gemach mit ungleichen Schritten durchmaß. Heute nacht konnte er wohl noch nicht zu Hause sein – das war der einzige schwache Trost; aber morgen – morgen nacht!

Oder konnte er noch in dieser Nacht nach Hause gelangen? Sie hatte, nachdem er ihr bei dem ersten Zusammentreffen in Otterndorfs Restaurant einen kurzen Abriß seines Lebenslaufes gegeben, aus einem Gefühl der Scheu, das sie selbst sich nicht zu erklären wußte, nie wieder die Rede auf seine Verhältnisse gebracht. Und da auch er davon geschwiegen, war es bei jenem Abriß geblieben. Sie kannte nicht den Vornamen seiner Frau, nicht die Namen seiner Kinder. Nicht einmal, wo sein Gut oder seine Güter lagen, hätte sie auch nur mit einiger Genauigkeit anzugeben vermocht. Sie glaubte sich zu erinnern, daß er einmal von Mecklenburg, als seiner engeren Heimat, gesprochen; es mochte aber auch Pommern gewesen sein. Was kümmerte es Haidee, wo ihr holder Liebling, den sie am Strande gefunden, »zu Hause« war?

Und dann ertönte unten die Flurglocke; in dem stillen Hause wurde es lebendig, Schritte kamen den Korridor herauf; und sie stand da, regungslos, lauschend, während ihr das Herz bis in die Kehle schlug. Konnte er es sein? war er ihr nachgeeilt? hatte sie eingeholt? würde an ihre Thür gepocht werden? – Ich bin's, Eleonore!

Die Schritte waren an der Thür vorübergegangen, und Eleonore fuhr sich mit den Händen an die Stirn. Das war Wahnsinn! Sie selbst hatte es ihm verboten! Hätte er ihrem Verbot getrotzt, wie konnte er wissen, daß sie in dieser Stadt Halt gemacht? in diesem Hotel abgestiegen war?

Es war ja alles, alles jetzt vorbei!

Und sie warf sich auf das Bett, drückte ihr Gesicht in die Kissen, daß die Nachbarn ihr lautes, verzweifeltes Weinen nicht hörten.

So verging die schreckensvolle Nacht.

Der Morgen fand sie so matt und krank! sie mußte ihren Vorsatz, mit einem Frühzuge weiter zu fahren, aufgeben und bis zum Mittag warten, wann abermals ein direkter Zug nach Berlin ging.

In dem saß sie nun bereits seit ein paar Stunden, allein, in einem Coupé erster Klasse. Sie hatte, nachdem sie vier Jahre lang keines zweiter gesehen, gestern sparsam sein wollen und sich unter den vielen fremden Gesichtern, die sich auf jeder Station erneuten, um ihr wieder mit derselben Neugier auf Stirn und Augen zu spähen, entsetzlich unglücklich gefühlt. Das war denn, heute dank ihrer Vorsicht, besser. So blieben ihr doch immer ein paar Stunden, den Aufruhr in ihrer Seele so weit zu bändigen, daß sie heute abend in Berlin der Tante und der Cousine gegenübertreten konnte, ohne sich zu verraten. Schlimmsten Falles mochte ein Unwohlsein, welches sich unterwegs eingestellt, ihre verweinten Augen und die Blässe ihres Gesichts entschuldigen.

Wieder eine Station vor einem einsamen Bahnhof, der schwerlich einen Passagier in die erste Klasse entsenden würde. Auch mußte die vom Schaffner angekündigte »eine Minute« schon verflossen sein, als die Thür zu ihrem Coupé dennoch aufgerissen wurde und ein Herr rasch einstieg, dem ein Diener in Jägerlivree ein leichtes, zusammengerolltes Plaid und einen kleinen Handkoffer nachreichte. In demselben Augenblicke fast ertönte die Pfeife des Oberschaffners, und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Herr blickte zum Fenster hinaus, vermutlich, sich zu überzeugen, daß sein Diener noch mitgekommen sei. Dann ließ er sich in den Eckplatz der anderen Sitzreihe nieder, nachdem er Eleonore über die Breite des Coupés weg eine höfliche Verbeugung gemacht hatte, die von ihr mit einem kaum merklichen Kopfnicken erwidert wurde.

Sie hatte, als er eintrat, und jetzt, als er sich verbeugte, ein paar flüchtige Blicke auf den Eindringling geworfen. Es war ein behäbiger, übrigens wohlgewachsener Mann, etwas unter Mittelgröße, am Ausgang vielleicht der Zwanziger. Bei dem ersten Blick war sie geneigt gewesen, ihn nach dem Schnitt seiner eleganten Kleidung für einen Engländer zu halten. Zu der Annahme stimmte aber nicht das rundliche Gesicht, dem ein kleiner, an den Enden emporgedrehter blonder Schnurrbart vergebens ein martialisches oder doch keckeres Aussehen zu geben versuchte, und der überaus freundliche, wohlwollende Ausdruck der großen wasserblauen, etwas vorstehenden Augen. Alles in allem hätte es des stattlichen Jägers vorhin und der Krone über dem Monogramm auf dem Köfferchen, das er auf den Sitz neben sich gestellt, nicht bedurft, um Eleonore zu überzeugen, daß der Herr zu der winzigen Minorität der Bestsituierten gehöre.

Damit war dann aber auch ihr Interesse völlig erschöpft, und sie wollte sich wieder ihren traurigen Gedanken überlassen, die jetzt aber doch, zu ihrem eigenen Erstaunen, eine andre Richtung nahmen. War es die nun einmal geweckte Erinnerung an ihr Leben in England, war es eine flüchtige Aehnlichkeit – sie mußte eines jungen Mannes da drüben gedenken, der sie leidenschaftlich geliebt hatte, und dessen Frau sie beinahe geworden wäre. Aber wie eifrig man ihr von allen Seiten zugeredet, wie überaus vorteilhaft die Verbindung mit dem jüngeren Earlsohn, dem eine der reichsten Pfründen der drei vereinigten Königreiche in sicherer Aussicht stand, und wie leidsam sonst der Bewerber gewesen – sie hatte ihn nicht geliebt mit der Liebe, der sie sich fähig wußte oder glaubte, und damit war für sie die Sache entschieden. Entschieden aus demselben Grunde, wie eine zweite und eine dritte, von denen die eine früher, die andre kurz vor ihrem Verlassen Englands gespielt, und sie mit jener ersten in den Ruf einer Kokette gebracht hatte, deren eitles Herz von wahrer Liebe nichts wisse, und die ihre geistigen und körperlichen Vorzüge nur benütze, um grausame Verheerungen in der Männerwelt anzurichten. Es hatte nicht viel gefehlt, so würde sie selbst es geglaubt haben. Jetzt war sie eines Besseren belehrt; jetzt wußte sie, daß sie lieben könne, und zugleich, wie bitter unglückliche Liebe ist, auch wenn sie geteilt wird.

Und auf einmal kam ihr ein furchtbarer Gedanke.

Hatte Ulrich vielleicht doch nicht gewußt, daß sie ihn liebte, selbst vorgestern Morgen noch nicht, als er von der Unglücksstätte am Strande kam, und sie sich im Garten begegneten? Wäre er, hätte die Scene am Abend nicht stattgefunden, abgereist, ohne von ihrer Liebe überzeugt zu sein, vielmehr in der Ueberzeugung, daß sie ihn nicht wieder liebe? Stolze Männer bedürfen weiter nichts, als diese Ueberzeugung, damit die Wunde, die ihren Herzen geschlagen ist, schnell und sicher heilt! Und ihre Schwachheit hatte den geliebten Mann um diesen Vorteil gebracht, ihn doppelt und dreifach unglücklich gemacht, so unglücklich, wie sie nun selber war!

Ein leises Stöhnen kam, ihr selbst unbewußt, über ihre Lippen, Mit einer mechanischen Bewegung hob sie den schwarzen Halbschleier von Augen und Stirn; den blonden Reisegefährten hatte sie ganz vergessen, und sie erschrak, als plötzlich eine Stimme in ihrer Nähe auf englisch sagte: Vielleicht wünscht Madame auch das Fenster an Ihrer Seite geöffnet?

Wenn Sie die Güte haben wollten, erwiderte Eleonore auf deutsch.

Der Herr, der bereits, als er zu sprechen begann, aufgestanden war, trat noch einen Schritt an sie heran und ließ mit seinen kleinen, in hellen Glacés steckenden Händen das Fenster herab. Seine Manschetten schoben sich dabei noch etwas weiter vor. Auf den goldenen Knöpfen war das Miniaturbild der vielzackigen Krone, die auf dem Deckel des Köfferchens prangte. Während der Manipulation, die etwas schwierig war, da sich das Fenster widerspenstig zeigte, hatte er sich sorgsam gehütet, auch nur den Saum ihres Kleides zu berühren. Dann begab er sich wieder auf seinen Platz in der entferntesten Ecke.

Ich danke Ihnen! sagte Eleonore, in der frischen Luft, die sie umwehte, aufatmend.

Der freundliche Ton, in dem sie es gesagt, gab ihrem Reisegefährten den Mut, in verbindlicher Weise, wiederum auf englisch, zu bemerken: Madame spricht für eine Engländerin das Deutsche bewunderungswürdig gut.

Eleonore hätte das zurückgeben können: der Herr sprach das Englische recht gut für einen Deutschen; aber sie wollte dem Irrtum, in dem er sich offenbar befand, ein Ende machen und erwiderte: Da ich eine Deutsche bin, habe ich keinen Anspruch auf das Kompliment.

Der Herr blickte mit den blaßgrauen Augen starr vor sich hin, wie jemand, der über den zureichenden Grund einer erstaunlichen Thatsache nicht mit sich ins reine kommen kann.

Sonderbar, sagte er dann, jetzt ebenfalls deutsch sprechend; aber freilich, da die Gnädigste es selbst sagen! Sonst würde ich es nicht für möglich halten.

In seinem Wesen und Reden lag eine liebenswürdige Harmlosigkeit, die Eleonore um so erquicklicher anmutete, je verzweifelter noch eben ihre Gedanken gewesen waren.

Darf man so unbescheiden sein, zu fragen, weshalb? sagte sie, sich ein wenig aufrichtend und das Gesicht halb nach dem Reisegefährten wendend.

Es ist das schwer auszudrücken, erwiderte er, sichtbar über das Entgegenkommen der Dame erfreut. Gnädigste haben etwas in dem Schnitt ihrer Züge und in Ihrer Haltung, das mir durchaus englisch schien, abgesehen von Ihrer Garderobe und Ihren Reiseutensilien, die ganz zweifellos englischer Provenienz sind.

Eleonore mußte unwillkürlich lächeln: hätte sie doch vorhin aus denselben äußerlichen Gründen den Herrn beinahe für einen Engländer gehalten!

Sollte es ganz zweifellos sein? entgegnete sie. Ich habe mir sagen lassen, daß sehr viele Dinge aus Deutschland nach England gehen, um dort als englische verkauft zu werden oder gar als englische nach Deutschland zurückzukommen.

Davon habe ich nie gehört, rief der blonde Herr, wieder mit dem erstaunten Blick der wasserblauen Augen; halte es auch, mit Ihrer gnädigsten Erlaubnis, für ganz unmöglich. Diese englischen Sachen, zum Beispiel das Köfferchen hier – ich habe es selbst in London gekauft – Regent-Street –

Bei Greenwell Brothers, ergänzte Eleonore.

Ah!

Die wasserblauen Augen traten schier beängstigend weit aus ihren Höhlen. Eleonore hielt es für geboten, eine Erklärung ihrer Ratekunst hinzuzufügen: Ich komme fast direkt von London, wo ich mich, allerdings mit manchen Unterbrechungen, vier Jahre lang aufgehalten habe. Da lernt man denn unter andrem auch wohl die vorzüglichsten Läden kennen.

Nichtsdestoweniger unglaublich scharfsinnig – unglaublich! murmelte der Herr, bewundernd den blonden Kopf schüttelnd. Greenwell Brothers! ganz richtig! hatte selbst den Namen vergessen, trotzdem auch ich mein London recht gut zu kennen glaube. Ich bin oft drüben gewesen, – noch in diesem Frühjahr – vier Wochen lang. Habe dort eine Schwester verheiratet. Das heißt: meine Verwandten residieren da nur in der Season – selbstverständlich – sonst in Yorkshire auf ihrem Landsitz. Gnädigste waren in England auch bei Verwandten – selbstverständlich?

Doch nicht! erwiderte Eleonore. Ich war drüben als Governeß engagiert.

Als –

Um die Lippen unter dem blonden, aufgedrehten Bärtchen zuckte ein Lächeln: die Gnädigste wollte sich offenbar einen kleinen Scherz mit ihm machen und sollte merken, daß er nicht so leicht einzufangen sei. Er warf noch einen Blick auf die Dame, um sich von ihrer scherzhaften Laune vollends zu überzeugen, und das Lächeln verschwand. Der Ausdruck ihres Gesichtes war nichts weniger als scherzhaft; in den großen Augen, um den Mund, dessen Winkel ein wenig nach unten gezogen waren, lag sogar eine entschiedene Melancholie, wie sie – nach seiner Ansicht – ein so schrecklicher Beruf im Gefolge haben mußte. Also Governeß! jammerschade! Aber sie mußte darüber versichert werden, daß sie dies Unglück in seinen Augen nicht herabsetze, und er seine Pflicht gegen eine Dame kenne, wenn sie auch das Unglück hatte, nur eine Governeß zu sein.

Darüber war eine für ihn höchst peinliche Pause entstanden. Es wollte ihm durchaus nichts für den Moment Passendes einfallen. Dann hätte er sich fast mit den Fingern an die Stirn geklopft. Mein Gott, nachdem sie ihm ihren Stand genannt, erforderte es doch die Pflicht der einfachen Höflichkeit, mit dem seinen nicht zurückzuhalten! Er griff in die Brusttasche seines Ueberziehers, nahm ein Perlmutteretui heraus, aus dem eine Karte, erhob sich, machte ein paar Schrittchen und sagte, den Hut in der Hand, in respektvoller Entfernung vor Eleonore stehen bleibend: Da ich einmal das unverdiente Glück dieser kurzen gemeinschaftlichen Reise mit dem gnädigen Fräulein habe, möchte ich um die Erlaubnis bitten, mich Ihnen vorstellen zu dürfen.

Und er reichte ihr seine Karte mit einer fast schüchternen Gebärde, die Eleonore entwaffnet haben würde, falls sie in dieser Annäherung eine Aufdringlichkeit gesehen hätte.

Aber sie war weit davon entfernt. Längst hatte sie herausgefühlt, daß dieser junge Mann es nur gut mit ihr meine, und todeswund, wie ihre Seele war, hatte ihr diese Ueberzeugung wohl gethan. So nahm sie denn die Karte, auf der unter der ihr nun schon bekannten Krone Graf Guido Wendelin stand, mit freundlichem Lächeln entgegen und nannte zur Erwiderung seiner Höflichkeit ihren Namen.

Der Graf verbeugte sich noch einmal und nahm wieder Platz, diesmal auf dem Mittelsitz, von dem das Köfferchen nun in den Eckplatz wanderte.

Ich darf wohl annehmen, Herr Graf, begann Eleonore von neuem, daß Ihr Herr Schwager in England zur Aristokratie gehört. Ich habe mich, soweit in meiner Stellung davon die Rede sein kann, ausschließlich in diesen Kreisen bewegt. Vielleicht bin ich ihm und Ihrer Frau Schwester begegnet?

Der Graf nannte den Namen seines Schwagers; der Zufall wollte, daß Eleonore wirklich auf dem Landsitz eines vornehmen Herrn, wohin sie die Familie, in der sie lebte, zu einem kurzen Aufenthalt begleiten mußte, die Verwandten des Grafen, wenn auch nur flüchtig, kennen gelernt hatte. Die aufrichtige Freude, welche der Graf darüber empfand, wurde, wie er sagte, nur dadurch getrübt, daß er zu jenem Besuch ebenfalls eine Einladung gehabt hatte, der er infolge eines Sturzes mit dem Pferde nicht nachkommen konnte, und so um das Glück gebracht war, die Bekanntschaft des gnädigen Fräuleins zwei Jahre früher zu machen.

Nun konnte der Faden der Unterhaltung nicht so bald abreißen. Namen englischer aristokratischer Familien und Landsitze wurden genannt; es fand sich nach und nach eine ganze Menge gemeinschaftlicher Beziehungen. Dann kam man auf Reisen zu sprechen. Es stellte sich heraus, daß der Graf, ebenso wie Eleonore, Frankreich, Spanien, Italien kennen gelernt hatte, ja, auch in Aegypten und Palästina gewesen war. Schließlich in diesen Kreuz- und Querzügen der Erinnerung – Eleonore wußte nicht, in welchem Zusammenhang – geschah auch der Nordseebäder Erwähnung. Der Graf meinte, daß Scheveningen den schönsten Strand habe.

Ich möchte den von Norderney fast noch vorziehen, bemerkte Eleonore.

Leider kenne ich Norderney nicht, sagte der Graf, Sie waren da – selbstverständlich.

Ich komme jetzt eben von dort, entgegnete Eleonore.

Ah, das interessiert mich, sagte der Graf. Ein sehr lieber Freund von mir muß dann zu derselben Zeit dagewesen sein oder ist vermutlich noch da: ein Baron von Randow. Haben gnädiges Fräulein ihn vielleicht kennen gelernt?

Eleonore hatte den Namen der Insel, für sie die Wiege von so viel Glück und Leid, ausgesprochen mit der Empfindung jemandes, der in der Gesellschaft eine geliebte Person mit flüchtiger Hand streift, sicher, daß keiner es bemerkt. Jetzt erschrak sie in tiefster Seele. Der Graf kannte Ulrich, nannte ihn seinen lieben Freund! Durfte sie seine Frage mit ja beantworten? Aber wer konnte wissen, ob damit nicht das Geheimnis preisgegeben war, das auf jeden Fall bewahrt werden mußte? Ein entschlossenes Nein mochte alles wieder gut machen.

Ich bedaure, nein, sagte sie. Wenn wir das Fenster wieder zumachten?

Sie hatte die Hand an den Riemen gelegt; der Graf kam ihr zuvor: Verstatten Sie mir, Gnädigste!

Er hatte sich wieder auf seinen Sitz ihr schräg gegenüber zurückbegeben, Eleonore sich in die Ecke gelehnt und die Augen halb geschlossen.

Gnädigste sind erschöpft, sagte der Graf; ich bitte aufrichtig wegen meiner Redseligkeit um Verzeihung.

Es klang so treuherzig und fast traurig. Das hatte er für all seine Freundlichkeit nicht verdient.

Nicht doch! sagte Eleonore, oder vielleicht ein ganz klein wenig. Jedenfalls nicht so sehr, daß ich um Ihre Unterhaltung kommen möchte.

Sie sind die Güte selbst, sagte der Graf. Mein einfältiges Geplauder! wie kann Sie das unterhalten? Ein wenig freilich tragen Sie selbst die Schuld.

Für was?

Für meine Redseligkeit.

Wie das?

Ach, Gnädigste, ich komme immer in Verlegenheit, wenn ich etwas erklären soll. Ich fühle das so; aber sagen, wie? und warum? – c'est plus fort que moi. Das genaue Gegenteil von meinem Freunde, dessen Namen ich eben nannte. Er ist der geistreichste Mensch, den ich kenne.

In der That? sagte Eleonore mit einem eigentümlichen Lächeln, das der Graf für ein Zeichen von Ungläubigkeit halten mochte, denn er erwiderte eifrig: Wahrhaftig, mein gnädiges Fräulein, den ich kenne! Und deshalb bedaure ich so sehr, daß er sich Ihnen nicht hat vorstellen lassen. Gerade Ihnen! Mein Gott, welche Unterhaltung würden Sie zusammen geführt haben! Ich hätte nur immer dabeistehen und zuhören mögen.

Du guter Mensch! dachte Eleonore, und laut sagte sie: Nun übertreiben Sie wirklich.

Nicht im mindesten! erwiderte der Graf eifrig. Sie sollten ihn nur kennen! Du lieber Gott, ich! ich habe nicht viel gelernt. Ein paar Jahre Offizier na! das will nichts sagen. Dann starb mein Vater plötzlich – er hätte noch lange leben können –, und ich mußte den Dienst quittieren, um die Güter zu übernehmen. War der einzige Sohn; habe auch nur die eine Schwester in England. Das war wieder eine Sinekure: die Güter waren sämtlich verpachtet, bis auf das eine, das mein Vater selbst bewirtschaftet hatte und ich jetzt durch ein paar Inspektoren bewirtschaften lasse, während ich in der Welt herumfahre, nur um die Zeit, mit der ich sonst nichts anzufangen weiß, hinzubringen. Von der Landwirtschaft verstehe ich nichts – rein gar nichts. Wieder im Unterschiede von meinem Freunde, der trotz seiner fabelhaften Gelehrsamkeit, ein ausgezeichneter Landwirt ist. Ich selbst kann das, wie gesagt, nicht beurteilen; aber ich höre es von allen Nachbarn, unter denen gewiß tüchtige Oekonomen sind, wie sie unsre Gegend braucht, die das gnädige Fräulein nicht kennt – selbstverständlich! Wer kommt denn je nach Hinterpommern, noch dazu in unsern Winkel da oben an der Ostsee! Baron Randow und ich sind Nachbarn; das heißt: eines meiner Güter grenzt an sein Hauptgut – beide liegen an einem ziemlich umfangreichen See – ganz malerisch – ich versichere Sie, gnädiges Fräulein! Es würde Ihnen schon gefallen, wenn Sie ein glücklicher Zufall – will sagen: für uns glücklicher Zufall – einmal dahin führte. Sie glauben mir nicht – selbstverständlich?

O doch! sagte Eleonore.

Und Sie dürfen es, wahrhaftig! fuhr der Graf, sich immer mehr in Eifer sprechend, fort. Mein Gott, ja: viel Geist wird bei uns nicht konsumiert, es liegt nicht in der Rasse, glaube ich; und ist auch keine rechte Veranlassung dazu. Und immer habe ich von Herzen meinen genialen Freund bedauert, der nach Berlin, oder Paris, oder nach meinem herrlichen London gehört und nun durch die Verhältnisse in unserm stillen Winkel festgehalten wird.

Er ist arm, Ihr Freund? sagte Eleonore, von etwas Unwiderstehlichem in ihr gezwungen, ein Gespräch fortzusetzen, von dem doch die Ueberzeugung ihr sagte, daß sie ihm durchaus eine andre Wendung geben, vielmehr es unter irgend einem Vorwand abbrechen müsse.

Gott behüte! erwiderte der Graf; wenn er auch nicht gerade reich ist. Und selbst das könnte er sein; aber er hat die Güter vor zehn oder zwölf Jahren unter sehr schwierigen, sehr ungünstigen Verhältnissen übernommen. Dazu galt es, nach und nach drei Schwestern auszuzahlen, die alle an Offiziere verheiratet sind. Und dann hat er ja auch seine eigene Familie – drei Kinder – eines immer schöner als das andre – und jemand, der ihn um Hilfe anspricht, hat den Weg noch nie vergebens gemacht. Da ist es denn ein Glück für ihn, daß er eine in jeder Beziehung exemplarische Frau hat.

Jetzt mußte Eleonore, koste es, was es wolle, das Thema ändern.

Ihre Frau Schwester in England, begann sie, aber kam nicht weiter, denn der Graf rief: Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, wenn ich Sie nur noch einen Moment um Gehör bitte. Ich habe wieder um ihre Lippen ein – wie soll ich sagen! – ungläubiges Lächeln bemerkt, und ich möchte doch so sehr ungern in Ihren Augen als ein Phantast erscheinen, der alles à tort et à travers bewundert. Ich habe meinen Freund so gerühmt, und nun rühme ich seine Frau und seine Kinder. Aber ich versichere Sie, ich wiederhole damit nur, was unsre ganze Gegend einstimmig sagt. Man kann keine schöneren Kinder sehen, und was die Baronin betrifft –

Ich glaube Ihnen ja alles gern, unterbrach Eleonore nun doch mit einiger Ungeduld, den Eifrigen, der, ohne darauf zu achten, alsbald fortfuhr: – so schwärmt alle Welt für sie, trotzdem sie nicht eigentlich schön ist, nicht einmal hübsch – nach meinem Geschmack wenigstens – Sie sehen, daß ich ganz objektiv sein kann, ganz unparteiisch. Aber sie hat etwas in ihrem Wesen, das sie jedem, der das Glück hat, ihr näher zu treten, sympathisch machen muß: eine so zweifellose Ehrlichkeit in allem, was sie denkt und sagt, so viel klaren, gesunden Verstand, und dabei so herzensgut, so wohlthätig gegen die Armen – in aller Stille, wissen Sie, daß kein Mensch es merkt – ich kann nur wiederholen: eine exemplarische Frau. Und der beste Beweis dafür ist wohl, daß mein Freund selbst, der doch gewiß Ansprüche machen kann, und, ich bin überzeugt, auch macht, sie die beste aller Frauen nennt. Das habe ich mehr als einmal aus seinem Munde gehört.

Eleonore konnte es nicht länger ertragen und sank mit einem gemurmelten »Verzeihen Sie!« in die Kissen zurück. Die geisterhafte Blässe ihres Gesichtes, ihre zuckenden Lippen erschreckten den Grafen aufs äußerste, wenn er auch sehr weit davon entfernt war, sich für den Urheber dieses Unfalles zu halten. Er hatte sofort das Köfferchen aufgeschlossen und aus ihm zwei Flacons: Eau de Cologne und Toilettenessig genommen, die er Eleonore abwechselnd bot mit einer Miene, deren Sorge und Angst sicherlich nicht geheuchelt waren. Eleonore that der gute Mensch leid; er konnte nicht wissen, wie weh er ihr gethan, welchen Sturm von Empfindungen er in ihrer Seele erregt hatte. Mit blassen Lippen dankbar lächelnd, versuchte sie, sich wieder aufzurichten. Er aber wollte das durchaus nicht zugeben. Er beschwor sie, sich ruhig zu verhalten, kein Wort mehr zu sprechen, und gab sich nicht zufrieden, bis sie verstattete, daß er ihr sein Köfferchen unter die Füße schob, damit sie bequemer sitzen könne. Wie trüb und traurig es ihr auch zu Sinn war, Eleonore mußte doch in ihrem Innern lächeln, als er sie so zwang, ihre Füße auf die verschlungenen Initialen seines stolzen Namens und die famose Grafenkrone zu setzen. Es fehlt jetzt nur noch sein Herz, dachte sie, und das wäre gewiß auch zu haben. Und warum nicht? Der andre hat die beste aller Frauen! Mehr als einmal hat dieser hier es aus seinem Munde gehört! Aus seinem Munde! von dem ich die Worte getrunken: Ich liebe dich, Eleonore! ich liebe dich grenzenlos! – Ah!

Mein Gott, was thue ich nur? murmelte der Graf, ganz verzweifelt bei dem Schmerzenslaut, den Eleonore nicht hatte unterdrücken können.

Es wird gleich vorüber sein, sagte Eleonore, mit einem Gefühl des Zornes über die Schwäche den Rest ihrer Kraft zusammennehmend. Ueberdies sind wir, glaube ich, schon in Berlin.

Es war noch nicht Berlin, nur einer der Vororte. Eleonore wollte bis zum Bahnhof der Friedrichstraße; der Graf war glücklich, daß er seinen Wagen ebenfalls dahin bestellt hatte. Er habe zwar nur ein Absteigequartier in Berlin, aber komme so oft dahin und habe dort so viele Beziehungen, so viele Besuche abzustatten, daß er sich eine bescheidene Equipage halte, von der das gnädige Fräulein durchaus Gebrauch machen müsse. Er werde sich eine Droschke nehmen, wenn er es nicht vorzöge, an dem schönen Abend sich zu Fuß nach seiner Wohnung zu begeben. Eleonore lehnte das dringende Anerbieten mit freundlicher Entschiedenheit ab: sie werde auf dem Bahnhof von zwei verwandten Damen erwartet, die jedenfalls schon für alles gesorgt hätten. Der Graf drang nicht weiter in sie, wie er denn auch, je mehr sie sich ihrem Ziele näherten, immer stiller geworden war. Du hast ihn gekränkt, dachte Eleonore. Das stimmte aber nicht zu der Beflissenheit, mit der er jetzt, als der Zug in den Bahnhof rollte, ihre paar Sachen von dem Gestell herabnahm, und zu seiner Miene, die viel mehr traurig als beleidigt war.

Der Zug hielt. Ein Gepäckträger und des Grafen Diener traten sofort an das geöffnete Coupé, dieser die Sachen seines Herrn, jener die der Dame an sich nehmend.

Dort sehe ich meine Verwandten, sagte Eleonore, in das Menschengedränge deutend.

So will ich mich Ihnen empfehlen, sagte der Graf.

Er stand vor ihr mit dem Hut in der Hand.

Haben Sie schönen Dank, Herr Graf; sagte Eleonore, ihm die Hand reichend.

Die Trauer in seiner Miene hatte sich noch vertieft; ja, als er jetzt, ihre Hand hastig ergreifend, die gesenkten Augen zu ihr aufschlug, lag in ihnen ein Ausdruck wie von hilfloser Angst. Er wollte etwas erwidern, aber das Wort blieb ihm auf den zuckenden Lippen, denn jetzt hatte Eleonore ihm ihre Hand entzogen und die entschiedene Wendung zu zwei Damen gemacht, von denen die ältere, ziemlich korpulente mit dem Ausrufe: Bist du uns endlich wiedergegeben! sie in die Arme schloß, während die jüngere, aber ebenfalls schon keineswegs mehr junge, sehr lange, sehr hagere, mit Thränen in den mattblauen Augen dabeistand, um dann auch ihrerseits mit einer Umarmung begrüßt zu werden

Als Eleonore sich mit einiger Ungeduld wieder wandte, ihren Verwandten den Grafen vorzustellen, war er verschwunden. Es ist auch besser so, dachte sie.

Wonach siehst du dich um, liebes Kind? fragte die Geheimrätin.

Nach meinem Reisegefährten, erwiderte Eleonore.

Dem Herrn, mit dem wir dich sprechen sahen? Wer war es?

Irgend ein Graf, liebe Tante.

O, wie interessant! flüsterte Ottilie.

Sehr, liebes Tilchen!

Und die Damen schritten die Treppe weiter hinab, auf deren ersten Stufen der letzte Teil der Unterhaltung stattgefunden hatte.


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