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Zweites Kapitel.

Die breite Senkung war schnell durchschritten. In den Dünen, die er nun erreicht, zeigte sich ein schmaler Einschnitt, der sich allmählich erweiterte und, wie er vorausgesehen, unmittelbar auf den Strand führte. Rechts von ihm, an dem Ausgang des Hohlweges und etwas über ihm, auf einer vorspringenden Spitze der Düne, bemerkte er eine Dame, welche, die Mappe auf den Knieen, eifrig zu zeichnen oder zu malen schien. Er hatte nur einen flüchtigen Blick auf sie geworfen, sie, über ihre Arbeit gebeugt, ihn schwerlich gesehen und seinen raschen Schritt in dem tiefen Sande auch wohl kaum hören können. Nach ein paar Dutzend weiteren eiligen Schritten blieb er erschrocken stehen. Als er vor drei Stunden den Anblick des Meeres zum letztenmal gehabt, war es unter einem tief blauen Himmel gewesen mit im Sonnenschein blitzenden Wellen. Jetzt lag es völlig regungslos, anzuschauen wie eine Bleidecke, kaum daß am Strande die Dünung ein paar weißliche Streifen bildete, während doch nach seiner Berechnung die Flut bereits eingetreten sein mußte. Auch erschien es nur auf ein paar tausend Schritte völlig frei; dann verhüllte es ein weißlicher Dunst, über dem sich, wohl dem Horizonte aufgelagert, von Nordost nach Südwest streichend, in gleichmäßiger Höhe eine kompakte schwarzblaue Wolkenwand erhob, auf deren unheimlich gleißender Zinne die Sonne stand, nicht mehr blutigrot, wie vorhin, sondern gelblich, bleich und fahl, wie das Gespenst ihrer selbst.

Ulrich hatte auf Norderney noch keine Stunde bösen Wetters, geschweige denn einen Sturm erlebt, aber über die heimischen Küsten mehr als einen heraufziehen sehen, und er zweifelte keinen Augenblick, daß jetzt einer hereindrohe, und dann, nachdem die Elektricität wochenlang Zeit gehabt, sich anzusammeln, voraussichtlich mit besonderer Heftigkeit. Derselben Ansicht mußten auch die Badegäste sein, die um diese Stunde, hier in der Nähe des Ortes, den Strand zu Hunderten überschwärmten, und von denen heute kaum ein paar Dutzend zu erblicken waren, alle offenbar so eilig als möglich den schützenden Häusern zustrebend.

Er war im Begriff, ihrem Beispiele zu folgen, als er den schon erhobenen Fuß wieder zurückzog und sich umwandte. Die Dame saß noch auf derselben Stelle, jetzt nicht auf das Blatt, sondern auf das Meer blickend, um im nächsten Moment wieder den Kopf zu senken und eifrig weiter zu arbeiten.

Sie hat offenbar keine Ahnung, daß sie binnen zehn Minuten naß sein wird wie eine Katze, murmelte er.

Vorhin im nahen, eiligen Vorüberschreiten hatte er von dem herabgebeugten Gesicht unter dem breiten Strohhut so gut wie nichts gesehen, und als sie jetzt die Augen erhob, war der Moment zu flüchtig und die Entfernung zu groß, als daß er hätte unterscheiden können, ob die Dame hübsch oder häßlich, jung oder alt war. Doch das war ja gleichgültig.

So schritt er denn eilends die kurze Strecke zurück. Diesmal hatte sie ihn doch kommen sehen oder hören, denn als er sich näherte, hielt sie die Augen auf ihn geheftet mit einem verwundert-fragenden Ausdruck.

Da bin ich doch neugierig, sagte sie bei sich.

Und jetzt stand er vor ihr, den Hut in der Hand: ein wohlgewachsener Mann, über die erste Jugend hinaus, mit einem leidlich regelmäßigen, sympathischen Gesicht, das von einem kurzgeschorenen dunklen Vollbart umrahmt war. Von der übrigens tiefbraunen Färbung hob sich die obere Hälfte der Stirn seltsam weiß ab. Die einfache, halb jägermäßige Tracht entbehrte nicht einer gewissen Eleganz, und ein Blick in die großen, ernsten, blauen Augen, die mit einem respektvollen Ausdruck zu ihr aufschauten, genügte, um Eleonore vollends zu beruhigen. Blieb nur die Frage, was der Herr von ihr wünschte.

Ulrich ließ sie nicht lange in Zweifel.

Verzeihen Sie die Störung, mein Fräulein, sagte er; ich konnte Sie hier nicht so ruhig sitzen sehen, während wir allem Anscheine nach binnen kürzester Frist ein schweres Unwetter haben werden.

Sie meinen, es sei Zeit, nach Hause zu gehen?

Das meine ich allerdings und möchte raten, keinen Augenblick zu verlieren.

Ich danke Ihnen, mein Herr.

Eleonore hatte sich erhoben, nachdem sie schnell das Blatt in die Mappe und die Malutensilien in den Kasten gelegt hatte, den sie dann ebenfalls in die Mappe that. Der Vorsprung, auf dem sie gesessen, erhob sich noch ein paar Fuß steil über der ebeneren Stelle, auf der Ulrich stand. Er reichte ihr die Hand hinauf, die sie ohne Umstände, sich ein wenig niederbeugend, ergriff, um sich so leicht herabzuschwingen.

Ich danke Ihnen nochmals, sagte sie.

Keine Ursach, erwiderte Ulrich. Es sollte mich freuen, wenn Sie trocken nach Hause kommen.

Ein flüchtiges Lächeln, bei dem für einen Moment ihre weißen Zähne sichtbar wurden, zuckte um Eleonores Lippen. Ich darf den Wunsch wohl zurückgeben.

Mir thut das nichts; ich bin an Wind und Wetter gewöhnt.

Verwöhnt bin ich auch gerade nicht.

Besser ist doch besser.

Mein Gott, wie schön das ist!

Sie war, nachdem sie nebeneinander die Düne vollends herabgeschritten waren, plötzlich wieder stehen geblieben, mit dem rechten freien Arm auf das Meer deutend.

Furchtbar schön, entgegnete Ulrich. Ich begreife wohl, wie eine Künstlerin der Anblick fesseln mußte.

Ich bin keine Künstlerin – eine armselige Dilettantin.

Ich vermute, die Blätter da in Ihrer Mappe würden das Gegenteil beweisen.

Sie aber sind Künstler?

Leider nein; ein einfacher Landmann: Ulrich von Randow.

Fräulein Eleonore Ritter.

Ulrich hatte vorhin die Dame mit Fräulein angeredet, nicht sowohl auf gut Glück, sondern weil er nach einem Etwas in ihrem Gesicht – wie flüchtig auch für den Moment der Eindruck gewesen war – hätte schwören mögen, daß sie nicht verheiratet sei. Jetzt berührte es ihn doch angenehm, daß sie, indem sie sich so vorstellte, kurzer Hand einem möglichen Mißverständnisse vorgebeugt hatte. Es stimmte ganz mit ihrem übrigen Wesen, das von Ziererei nichts zu wissen schien. Aus diesem wohligen Gefühl heraus sagte er, als sie sich nach der gegenseitigen Vorstellung wieder in Bewegung setzten: Ich müßte nun wohl eigentlich um die Erlaubnis bitten, Sie weiter begleiten zu dürfen; aber ich wüßte in der That nicht, welchen andern Weg ich einschlagen sollte. Darf ich Ihnen die Mappe abnehmen?

Danke bestens! Sie haben bereits an ihrem Gewehr zu tragen.

Das beschwert mich nicht.

Wie mich nicht die Mappe. Ich gehe Ihnen nicht schnell genug?

Ich wollte, alle unsre Damen könnten so schreiten.

Es war kein leeres Kompliment. Während er in dem Sand, der hier, nahe den Dünen locker und tief lag, in seinen Jagdstiefeln bis an die Knöchel versank, glitt sie mit langen elastischen Schritten leicht darüber weg, völlig in Harmonie mit ihrer mittelgroßen, schlanken Gestalt. Das einfache hellgraue Wollkleid war bis an den feinen Hals zugeknöpft und ließ zwischen den zurückgeschlagenen Patten der modischen blauen Jacke, in deren Taschen sie die unbehandschuhten Hände steckte, eine anmutige Büste ahnen. Das dunkle Haar trug sie in einem lockeren Knoten im Nacken geschürzt. Ihr Gesicht, jetzt an seiner Seite, zeigte im Profil eine gerade Nase mit einem gelegentlichen anmutigen Spiel der feingeränderten Flügel, wie sich denn auch die dunklen Brauen bald hoben, bald senkten. Ueber die Farbe der Augen konnte Ulrich nicht ins reine kommen: sie konnten blau oder auch grau sein; jedenfalls waren sie ungewöhnlich groß und hatten, bei aller Weichheit, einen seltsam freien, zugleich reinen und festen Blick, der Respekt von andern weniger zu fordern als vorauszusetzen schien.

Es waren nur flüchtige Beobachtungen, und er wunderte sich, wie er sie machen konnte angesichts des furchtbaren Schauspiels, welches Meer und Himmel boten. Jener dünne, weißliche Dunst von vorhin hatte sich verdichtet und war näher gekrochen, so daß man über den breiten Strand weg nur einen schmalen Streifen des bleigrauen, totenstillen Wassers sah; die blauschwarze Wolkenwand am Horizonte erschien jetzt völlig schwarz, und hinter ihr war das bleiche Sonnengespenst verschwunden, als wär's für immer, und die ewige Nacht breche nun herein. Dazu war die Luft kaum atembar; auf Ulrichs Stirn perlte der Schweiß; er blickte angstvoll in das Gesicht seiner Begleiterin, das ihm in dem fahlen Licht seltsam blaß vorkam, aber ohne eine Spur der nervösen Unruhe, von der er selbst bewegt war. Im Gegenteil: die großen, weit geöffneten Augen hafteten wie begierig an dem schauerlichen Bild, das die Natur bot; die halb geöffneten Lippen, die schneller zuckenden Nasenflügel, die in vollen Zügen sich hebende und senkende Brust waren wie eines, der den Angriff eines ebenbürtigen Gegners kaum erwarten kann.

Welch ein herrliches Geschöpf! sprach Ulrich bei sich.

Sie waren aus dem lockeren Triebsande endlich auf den festen Strand gekommen und unwillkürlich stehen geblieben, das Mädchen bezaubert von dem großen Naturschauspiel, er verloren in ihren Anblick. Und nun, wie nach Bestätigung dessen suchend, was in ihr selbst vorging, wandten sich ihre Augen zu ihm, und zum erstenmal trafen sich voll ihre Blicke und ruhten fest ineinander. Nur für einen Moment. In derselben Sekunde geschah ein Schlag, brüllend wie der Donner von hundert Kanonen, die auf einmal abgefeuert werden – der Donner des Orkans, der, über das Meer heranrasend, auf die Dünenküste, als seinen ersten Widerstand, traf und so für sein Wüten die fürchterliche Stimme fand. Die beiden Menschen taumelten ein paar Schritte seitwärts, dann gelang es Ulrich mit Aufbieten seiner ganzen Kraft, wieder festen Fuß zu fassen und Eleonore, die sonst gestürzt wäre, in seinen Armen aufzufangen. Wie ungeheuer der Augenblick auch war und wie völlig instinktiv sein Thun, dennoch durchrieselte ihn ein schauerlich-süßes Gefühl, als er so den weichen, schmiegsamen Körper des Mädchens umspannt hielt und den Druck ihrer Hände spürte, die sie, sich zu halten, in seine linke Schulter und seinen rechten Arm gekrampft hatte. Und zum zweitenmal begegneten sich ihre Blicke – der seine voll inniger Sorge um sie, die, nach der tiefen Blässe des Gesichts und den zuckenden Lippen zu schließen, mit einer Ohnmacht zu kämpfen schien; der ihre voll herzlicher Dankbarkeit gegen den ritterlichen Mann, der – sie empfand es deutlich – sie auch nicht eine Haaresbreite näher an sich zog, als nötig war, sie zu halten.

Dann hatten sie sich losgelassen.

Und kämpften sich nun den Strand hinauf, auf dem sie jetzt die einzigen menschlichen Wesen waren, durch den Sturm, dessen Donner Sprechen und Sprechenhören unmöglich machte; durch den Sand, der, von dem harten Strande losgerissen, dünenwärts jagte und sie bis zu den Knieen einhüllte; durch den Regen, der in wilden Güssen herabpeitschte; durch die Dunkelheit, die den Abend in grauschwarze Nacht verwandelt hatte. Ulrich hielt sich rechts von ihr an der Wetterseite, um ihr mit seinem Leibe doch einigen Schutz zu bieten; die Mappe hatte er ihr längst abgenommen und auf den rechten Arm gestreift, um den linken, an dem sie sich geklammert hielt, frei für sie zu haben. So arbeiteten sie sich Schritt vor Schritt vorwärts, mehr als einmal gezwungen, stehen zu bleiben und sich gegen die Windsbraut zu stemmen. Endlich hatten sie den Fuß der vorspringenden, gegen die Seeseite mit einem Palissadenwerk geschützten Düne erreicht. Es kam darauf an, die Düne hinauf und bis zur »Giftbude« zu gelangen, von der es nur noch eine kurze Strecke bis zu den ersten Häusern des Ortes war.

Aber gerade in diesem Moment erhob sich der Orkan, der in den letzten Minuten ein wenig nachgelassen hatte, abermals zur fürchterlichsten Wut; der herabpeitschende Regen wurde zum Wolkenbruch. Nach einer Zufluchtsstätte, sie sei auch, wie sie sei, für seine Begleiterin ausspähend, deren Kraft offenbar völlig erschöpft war, sah Ulrich dicht vor sich aus dem Dunkel ein paar große, hellere Gegenstände aufragen – Badekarren, die man schon im Laufe des Nachmittags vor dem hereinbrechenden Sturm hier an dem Palissadenwerk hin, in möglichst weiter Entfernung von dem Meere, aufgereiht hatte. Es waren zu dem ersten nur ein paar Schritte, die Ulrich die Wankende mehr trug als führte. Die Thür des Karrens wollte nicht aufgehen, so gewaltig drückte der Sturm dagegen; endlich riß Ulrich sie mit einer verzweifelten Anstrengung auf, hob die Gefährtin die paar Stufen empor und ließ sie auf der kleinen Bank im Karren niedersitzen, während der Sturm die wie eine Fahne hin und her schwingende schwere Thür donnernd zuschlug.

Es war bei dem allen kein Wort zwischen ihnen gewechselt. Sie hatte es geschehen lassen – nicht willenlos, sondern sich gern der größeren Kraft und dem schnelleren Blick des Mannes fügend, in dem sicheren Gefühl, daß sie diesem unbedingt vertrauen dürfe. So war es denn für sie selbstverständlich, daß er sie losgelassen, sobald sie auf der Bank Platz gefunden, und jetzt, halb von ihr abgewandt, an dem Fensterchen des Karrens stand, in den Graus, dem sie entronnen waren, hinausblickend. Auf wie lange entronnen? Ulrich fragte es sich voll Sorge. Das wuchtige, auf breiten Rädern in dem nassen Sande händetief eingesunkene Gefährt wurde von dem Sturme hin und her gerüttelt; die Gefahr, es könne umschlagen, war augenscheinlich. Aber einige Minuten glaubte er noch ausharren zu sollen, so lange, bis sie zu dem Weg, der ihnen noch bevorstand, etwas frische Kraft geschöpft haben würde. Dazu schienen, nach dem letzten fürchterlichen Ausbruch, Sturm und Regen etwas nachzulassen; es mußte auch ein wenig heller geworden sein: er konnte jetzt mit einiger Deutlichkeit den Ausläufer des Palissadenwerks rechts hinter ihnen, den Fuß der Düne, auf der die »Giftbude« lag, und ein Stück des Strandes unterscheiden, über den sie sich bis hierher durchgekämpft hatten. Mit einemmal spannten sich seine Blicke: über eben dies Stück grauen Strandes war plötzlich eine weißliche Decke gebreitet, die im nächsten Moment wieder verschwunden war. Es mußte eine Sinnestäuschung, es konnte nicht die Flut gewesen sein. Wie hätte sie aus der tiefsten Ebbe die Hunderte von Schritten breite Sandstrecke, welche sie sich hinaufzuarbeiten sonst volle drei Stunden brauchte, in kaum einer Viertelstunde zurücklegen können? Aber da war sie wieder, die weißliche Decke, die er jetzt als zerstiebenden Schaum deutlich erkennen konnte; und plötzlich schoß es schäumend und zischend, unmittelbar unter ihm durch die Räder des Karrens bis an die Palissaden. Er sprang nach der Thür, die er aufstieß, um noch eben die zurückbrandende Welle zu sehen, der alsbald eine zweite folgte, welche bereits über die unterste Stufe des Treppchens schlug.

Als er sich umwandte, stand sie hinter ihm.

Noch einen Moment! sagte er.

Er war das Treppchen hinabgesprungen, sobald die zweite Welle zurückgeschäumt war; sie stand noch auf der obersten Stufe, vornüber gelehnt, im Begriff, sich an seiner Hand hinabzuschwingen, als abermals eine Welle herangepeitscht kam, ihm bis über die Kniee. Er konnte sie noch eben in seinen Armen auffangen, bevor ihre Füße den Gischt berührt hatten, und trug sie nun so durch Gischt und strudelnde Wasser um die letzten Palissadenpfähle herum nach dem Aufstieg der Düne. Es war eine kurze Strecke, aber er konnte nur langsam vorwärts kommen, wollte er nicht Gefahr laufen, auf dem überfluteten Sande, in den er bei jedem Schritt bis über die Knöchel versank, auszugleiten; und er wußte es ihr Dank, daß sie, ihren Oberkörper über seine Schultern lehnend, damit er frei vor sich sehen möge, ihn mit beiden Armen umschlungen hielt.

Nun waren sie, am Fuß der Düne, auf dem Trockenen, und er ließ sie aus seinen Armen gleiten.

Ich danke Ihnen, murmelte sie.

Er konnte nichts erwidern – von der gewaltigen Anstrengung schlug ihm das Herz bis in die Kehle. Es war ihm lieb, daß er nicht sprechen konnte; durfte er doch, was er hätte sagen mögen, als er ihre großen Augen mit einem so herzlichen Ausdruck auf sich gerichtet sah, nicht sagen.

Und plötzlich mußten beide lachen.

Die richtigen Schiffbrüchigen, sagte sie.

Ich will wenigsten Ihre Mappe holen, sagte er, bereits mit einer halben Wendung nach dem Karren.

Um Himmels willen! rief sie, die dumme Mappe, sie ist an allem schuld. Ihre Flinte freilich!

Was ist an der gelegen!

Dann, meine ich, wir überlassen beide ihrem Schicksal.

Sie gingen weiter. Auf der Stelle, wo sie gestanden, hatten die Palissaden einigen Schutz gewährt; jetzt nahm sie ein Hohlweg auf, durch welchen sie, aufwärts steigend, ohne übermäßige Anstrengung bis zur »Giftbude« gelangten. Ulrich hatte gemeint, daß sie da Station machen wollten, und auch so zu seiner Gefährtin gesagt, die damit einverstanden gewesen war. Aber als sie jetzt vor dem Bretterhause standen, sahen sie durch das Fenster, daß der einzige, beträchtlich weite, im matten Licht der hin und her schwankenden Lampen verdämmernde Raum von Flüchtlingen, die vor ihnen gekommen, gedrängt voll war. Es wäre kaum für beide noch zum Stehen ein Platz und an Ausruhen in der durcheinander wirrenden Menge gar nicht zu denken gewesen. Dazu heulte und pfiff der Sturm so schauerlich um das niedrige Gebäude, klapperte, rasselte, riß so wütend an den Thüren und Fenstern – Ulrich dachte mit Schrecken an das fürchterliche Unglück, das entstehen mußte, wenn es zusammenbrach.

Lassen Sie uns weiter! sagte er dringend.

Gewiß, erwiderte sie; ich fühle mich auch wieder ganz kräftig.

Aber meinen Arm nehmen Sie, bitte, doch! Wir haben jetzt noch eine böse Strecke vor uns.

In der That waren sie auf dem schmalen, langgestreckten, völlig freiliegenden Kamm der Düne, den sie jetzt zu passieren hatten, dem Sturm und Regen abermals völlig ausgesetzt. Sie mußten sich, wie vorhin auf dem Strande, mühsam Schritt für Schritt erkämpfen. Er hatte wieder die Wetterseite genommen, wie geringfügig auch der Schutz war, den er ihr auf diese Weise gewähren konnte; und wenn nicht gerade der schlüpfrige Pfad seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, wandte sich sein Blick immer wieder zu ihr, die, sich eng an ihn schmiegend, in seinem linken Arm hing. Der Regen hatte ihren Strohhut zu einem formlosen Etwas zerknüllt, der Haarknoten hinten im Nacken sich zum Teil gelöst; ein paar lange schwarze, nasse Strähnen peitschte der Wind seitwärts oder über ihr Gesicht, das, blaß und abgespannt und gleichsam verwüstet, mit den großen dunklen Augen, die sie manchmal zu ihm aufhob, an seinem Zauber nichts für ihn verlor. Die völlig durchweichten, dicht auf den Körper gepreßten Gewänder ließen die schönen Formen der Arme, des Nackens und der Büste deutlicher als vorhin ahnen. Und hier, wo kein aufgewühlter Sand sie bis an die Kniee einhüllte, bemerkte er zum erstenmal, wie vornehm schmal und hochgespannt ihr Fuß war, trotzdem Sand und Nässe den zierlichen Stiefeln arg mitgespielt hatten. Von ganzem Herzen wünschte er um ihretwillen, daß die mühselige Wanderung ein baldiges Ende nehme; und dann erfüllte ihn die Gewißheit, sie bestenfalls nur noch auf Minuten und niemals wieder so an seiner Seite zu haben, mit schmerzlicher Wehmut.

Denn nun hatten sie, sich links von dem Dünenwall abwärts wendend, die ersten Häuser des Ortes erreicht. In dem Schutz der Häuser hätte man sich von der Wut der Elemente, wie sie draußen raste, keine Vorstellung machen können; es war, als ob man in einem geschlossenen Raum getreten wäre; selbst der Regen hatte sich erschöpft und sprühte nur noch in einzelnen zornigen Tropfen. Auch war die vorzeitige Nacht so weit gewichen, daß man alles um sich her deutlich erkennen konnte zu einer Tageszeit, in der sonst das Abendrot noch auf den Strohdächern der Häuschen zögerte und den massiven Kirchturm umflutete, der plötzlich riesenhaft vor ihnen aufragte, mit der Spitze fast die schwarzen Wolken berührend, die sich über ihn weg inselwärts wälzten.

Wo wohnen Sie, gnädiges Fräulein? fragte Ulrich.

Nur noch wenige Schritte: in dem zweiten – nein, dem dritten Hause rechts.

Schon da?

Schon da ist gut. Ich sollte meinen, auch Sie hätten so für einmal des Ritterdienstes genug.

Nein, wahrhaftig nicht, wenn ich auch glücklich bin, daß Sie nach Hause kommen. Sie werden sicher schon schmerzlich erwartet.

Ich wüßte nicht, von wem; es müßten denn meine Wirtsleute sein, und ich glaube nicht, daß die ängstlicher Natur sind.

Sie thun ihnen unrecht, wenn es die da in der Thür sind.

Ja, das sind sie.

Sie standen vor einem der niedrigen Häuschen, durch dessen Vorgärtchen der schmale, mit Ziegelsteinen gepflasterte Pfad auf die Thür zuführte. An den Pfosten auf dem hellen Hintergrunde der Küche waren die derben Umrisse eines Mannes und einer Frau scharf abgezeichnet.

Und nun noch einmal haben Sie herzlichen, herzlichen Dank! sagte sie, ihren Arm aus dem seinen ziehend und ihm die Hand hinstreckend. Die kleine Hand war naß und eiskalt; dennoch hätte er sie gern geküßt; aber sie hatte ihm eben erst gesagt, daß niemand sie erwarte, und der alleinstehenden Dame gegenüber war Rücksicht doppelte Pflicht. So begnügte er sich damit, die kleine Hand ein paar Momente in der seinen zu halten, um sie dann loszulassen und mit einem stummen Gruß sich zum Gehen zu wenden, während die beiden Gestalten sich von den Thürpfosten lösten und ihrem heimgekehrten Gaste durch das Gärtchen entgegenkamen.


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