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Zweites Kapitel.

Als die Wohnung der Geheimrätin in der Kanonierstraße, drei Treppen hoch, erreicht war, fühlte sich Eleonore so völlig erschöpft, daß sie viel darum gegeben haben würde, hätte man sie für den Rest des Abends auf ihrem Zimmerchen – demselben, welches sie auch bei ihrem früheren Aufenthalt innegehabt – in Ruhe gelassen. Daran war nun nicht zu denken. Die Tante und Tilchen brannten vor Begierde, von ihren englischen und sonstigen Erlebnissen mehr zu erfahren, als ihnen die Korrespondenz dieser vier Jahre – trotz eifriger Pflege, wenigstens von der Berliner Seite – hatte gewähren können. Und die drei, zur Zeit einzigen Pensionäre würden untröstlich sein, wenn ihnen die bereits für gestern abend versprochene Nichte und Cousine heute bei dem abendlichen Thee abermals vorenthalten worden wäre. Und dann hatte Eleonore, nachdem sie »den Reisestaub abgeschüttelt«, gewiß ein »Herzensinteresse« daran, »inzwischen die lieben altgewohnten Räume wieder einmal zu durchwandeln«. Es war eben, da die Herren erst um neun Uhr zum Thee nach Hause kamen, die beste Gelegenheit dazu.

Und die Wanderung begann. Sie hätte eigentlich nur wenig Zeit in Anspruch nehmen sollen, wenngleich die Wohnung für bürgerliche Verhältnisse recht umfangreich genannt werden durfte. Aber sehr viel umfangreicher als die Räume selbst war in ihrer Art deren Geschichte, die Eleonore jetzt – sie wußte nicht zum wievielsten Male in ihrem Leben – mit anhören mußte. Konnte man zu oft hören, daß die Geheimrätin noch in denselben Räumen hauste, welche sie vor fünfunddreißig Jahren als junge Frau Assessor bezogen? Und daß der Hausbesitzer, Herr Witte, sie niemals über den damaligen geringen Mietzins um einen Pfennig gesteigert und ihr in die Hand versprochen hatte, solange seine liebe Frau Bucher – er durfte sich als alter Freund die Titulatur schenken – ihm die Ehre und Freude mache, bei ihm zu wohnen, werde das auch nie geschehen!

Eleonore hatte, als die Wohnungsgeschichte bis zu diesem berühmten Traktat gekommen war, sich mit einen, flüchtigen Blick überzeugt, daß, wie sie vorausgesetzt, Tilchens Augen in Thränen schwammen. Wußte sie doch, welch kühne Hoffnung sich an die vor soviel Jahren erteilte Zusicherung knüpfte! Die Hoffnung, der reiche Herr Witte werde Tilchen, der er schon, wenn er dem Kinde auf der Treppe oder in dem Hausflur begegnete, huldvoll die Wange gestreichelt, seiner Zeit als sein ehelich' Gemahl heimführen! Nur daß leider diese Zeit noch immer nicht gekommen schien, trotzdem der kinderliebe Junggesell das sechzigste Jahr – nach Eleonores Berechnung – längst überschritten hatte, und Tilchen nicht mehr allzufern von der Mitte der Dreißiger stand!

Doch das waren intimste Sorgen, die heute selbstverständlich nicht zur Sprache kamen und keinesfalls dem Stolz Abbruch thaten, mit dem die Frau Geheimrat die Wohnung in Berlin zu sehen wünschte, in welcher, wie in der ihren, während dieser unendlichen Zeit auch nicht die mindeste Veränderung stattgefunden und die identischen Möbel die identischen Plätze innehatten. Der viel bewunderte große Schreibtisch aus Eichenholz, welchen die Untergebenen und Kollegen seines Ressorts dem Geheimrat gelegentlich seines fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläums als Zeichen ihrer Verehrung gestiftet, konnte natürlich nicht in seiner sporadischen Ausnahme die Regel umstoßen, ebensowenig wie die mancherlei größeren und kleineren schmuckhaften Dinge, mit denen die Pensionäre zu verschiedenen Zeiten ihrer Dankbarkeit für die ihnen zu teil gewordene mütterliche Pflege Ausdruck zu geben versucht hatten. Und da sich an jedes dieser, zumeist recht unscheinbaren und häufig grausam geschmacklosen Dinge für die Tante eine Fülle von Reminiscenzen knüpfte, die doch auch mitgeteilt sein wollten, konnte Eleonore von Glück sagen, als man endlich nach einer Stunde in das Wohnzimmer, von dem die Wanderung ausgegangen, zurückgelangte.

Hier nun schloß die Tante sie noch einmal feierlich in die Arme und sagte, ihr einen Kuß auf die Stirn drückend: So, mein Kind, jetzt erst kann ich dich in Wahrheit willkommen heißen. Die Wohnung eines Menschen ist wie das Kleid, das er trägt, ja, ich möchte sagen: sein zweites Kleid, nicht minder charakteristisch für ihn als das wirkliche. Und nicht wahr, mein Kind, du hast alles gefunden, wie du es vor vier Jahren verlassen? Genau so wirst du auch deine Tante wiederfinden: mit demselben altmodischen treuen Herzen; und nicht anders mein gutes Tilchen hier, die wir beide nicht aufgehört haben, für dein Wohl zu beten, und der Heimgekehrten – denn nicht wahr, mein Kind, du betrachtest doch diese Räume als dein Heim? – die alte Liebe entgegenbringen.

Der guten Frau standen die Thränen in den Augen, und Tilchen verließ schluchzend das Zimmer.

Das liebe Kind, sagte die Mutter, ihr kopfschüttelnd nachblickend; sie ist wirklich noch immer ein Kind, trotzdem sie die Kinderjahre nun am Ende hinter sich hat. Aber ihr Herz ist das eines Kindes geblieben: liebevoll, liebebedürftig, vertrauensselig, ohne Falsch. Gebe Gott, daß sie es sich erhält in dieser Welt, in der nach seinem ewigen Ratschluß denn doch so manches anders ist, als wir es in unsrem beschränkten Verstande wünschen, und niemandem, er mag noch so bescheiden sein, Enttäuschungen erspart bleiben.

Die Anspielung auf Tilchens ebenso zartes, wie dunkles Verhältnis zu dem grausamen Manne in der Parterrewohnung schien Eleonore zu deutlich, als daß sie sie schicklicherweise hätte überhören dürfen. So erwiderte sie mit einer Bemerkung, die für Herrn Witte nicht durchaus verbindlich war. Aber sie hatte keineswegs das Rechte getroffen, denn die Geheimrätin schüttelte abermals den Kopf und erwiderte mit sanftem Nachdruck: O nein, mein Kind, du irrst. Herr Witte ist ein Ehrenmann durch und durch; nach deinem seligen Vater, meinem teuren Bruder, und meinem unvergeßlichen Gatten, deinem braven Onkel, kenne ich keinen besseren. Aber er ist ein Zauderer, wie es so viele reiche Leute sind, denen das Glück alles auf dem Präsentierbrett entgegengetragen hat, und die so niemals ihren Charakter und ihre Willensenergie haben stählen können. Wie oft hat dein seliger Onkel gesagt: ich verstehe unsern lieben Witte nicht. Er ist so begabt; er würde sich in jedem Berufe ausgezeichnet haben; und wenn er ja auch glücklicherweise nicht für das liebe tägliche Brot zu arbeiten braucht, wie unsereiner, warum läßt er sich nicht zum Stadtrat machen, oder wenigstens zum Stadtverordneten? Aber über diese unbeantworteten Fragen ist dein guter Onkel heimgegangen. Nun wirst du vielleicht sagen: eben darum wird unser wackerer Witte sich niemals zu dem Entschluß aufraffen, Tilchen seine Hand zu reichen; und ich muß zugeben: nach der Logik seiner sonstigen Lebensführung könnte oder würde er es nicht. Nur daß das menschliche Herz keine Logik hat und gerade das zu beschließen liebt, was dem Charakter und Temperament, wohl gar den Grundsätzen, meinetwegen den vorgefaßten Meinungen, Schrullen und Indiosynkrasien des betreffenden Menschen völlig entgegengesetzt scheint.

Eleonore vermochte das Zwingende dieses Beweises, daß Tilchen trotz alledem gegründete Ursache habe, an der Treue ihres Verehrers und der Verwirklichung ihrer Hoffnungen nicht zu zweifeln, keineswegs einzusehen, hütete sich aber wohl, ihre Bedenken laut werden zu lassen. Und dann: der Satz, daß das Herz mit der Logik auf einem schlechten Fuße stehe, – mein Gott, davon hatten sie diese letzten Wochen und Tage sattsam überzeugt. Da mochte die Tante auch wohl in dem übrigen recht haben.

Inzwischen war die Theestunde herbeigekommen, und mit ihr erschienen die drei Pensionäre, jetzt nicht, wie früher, Knaben bis zu dem hoffnungsvollen Alter von sechzehn Jahren höchstens, sondern junge Männer – eine Veränderung, auf welche Eleonore vorbereitet war. Denn siehst du, Kind, hatte die Geheimrätin lächelnd zu ihr gesagt, ich brauche am Ende jetzt nach dieser Seite keine besondere Rücksicht mehr auf Tilchen zu nehmen, die überdies ein für allemal engagiert ist. Und was dich betrifft, liebes Kind, wenn du auch nun, wie ich hoffe, bei uns bleibst, du bist in der Welt so viel herumgekommen, hast so viele Menschen gesehen und Erfahrungen eingesammelt, ich denke, dir werden die jungen Herren nicht gefährlich werden.

Ich denke es auch, liebe Tante, hatte Eleonore geantwortet mit einer Ueberzeugung, die auch die Bekanntschaft der Herren, die sie jetzt machte, nicht zu erschüttern vermochte, obgleich zwei derselben ihre Erwartungen, welche freilich nicht ausschweifend gewesen waren, wesentlich übertrafen.

Der eine war Senor Fernando Alvarez, ein schlanker, bildhübscher Chilene mit blauschwarzem Haar, Schnurr- und Knebelbart und dunklen braunen Augen, die unter den langen Lidern hervor feurig und zärtlich blickten; der zweite ein hochgewachsener, breitschultriger Russe, namens Gregor Borykine, mit einem unschönen, aber höchst energischen Gesicht und kleinen, durchdringenden Augen, welche die Aufgabe zu haben schienen, der massiv darüber gelagerten Stirn fortwährend neues Material zuzuführen. Haar und Bart waren ungepflegt; der Anzug schien ihm keine Sorge zu machen – alles im Gegensatz zu dem Chilenen, der sein hübsches Aeußere durch vollendete Toilettenkunst zur besten Geltung brachte. Der dritte war ein zierlicher Japanese, den Eleonore für einen Knaben gehalten haben würde, wenn seine Oberlippe nicht ein wie mit dem Pinsel hingetuschtes schwarzes Bärtchen geziert hätte. Er wetteiferte in der Eleganz der Kleidung mit dem Chilenen, dessen kleine Hände und Füße im Vergleich mit den kindhaften Dimensionen der seinigen groß erschienen. Die Tante stellte ihn als Herrn Marquis Nakamura vor mit einem Nachdruck auf den »Marquis«, welcher klärlich bewies, einen wie hohen Wert sie auf den illustren Pensionär legte. Sämtliche drei Herren waren Doktoren der Medizin und von ihren respektiven Regierungen nach Europa geschickt, sich in ihrer Wissenschaft weiterzubilden. Der Chilene sprach, trotzdem er bereits zwei Jahre lang in Oesterreich und Deutschland zugebracht hatte, ein höchst unvollkommenes, kaum verständliches, der Russe, der Petersburg vor kaum sechs Monaten verlassen, ein völlig fließendes, fast accentloses Deutsch; mit dem Japaner, dessen Aufenthalt in Europa freilich erst nach Wochen zählte, konnte man, wenn man viel Nachsicht hatte, zur Not eine englische Unterhaltung führen.

Wie widerwärtig Eleonore auch der Gedanke gewesen war, heute abend noch so vielen neuen Gesichtern gegenübertreten zu sollen, sie empfand den Zwang, den sie sich auferlegen mußte, bald als Wohlthat. Entging sie doch so, vorläufig wenigstens, den neugierigen Fragen der Tante und Tilchens nach ihrer englischen Vergangenheit, und der schlimmeren Qual des eigenen bohrenden Grübelns über Lust und Leid, welche die letzten Wochen und Tage ihr gebracht hatten! Und sie wußte aus Erfahrung, daß nichts so geeignet war, ihr über ein körperliches Leiden oder nervöse Schwächezustände wegzuhelfen, wie eine Gesellschaft, die Stoff zur Beobachtung bot und ihre Unterhaltungsgabe herausforderte. Beides aber war heute abend der Fall. Hatte es sie lebhaft interessiert, in den drei jungen Männern die ausgeprägten Typen ebensoviel verschiedener Nationalitäten und Völkerrassen vor sich zu sehen, so stellte es sich schnell heraus, daß der Russe kein gewöhnlicher, vielleicht ein bedeutender Mensch war, dem chilenischen Kollegen an Geisteskraft und, wie Eleonore schien, auch in der gemeinsamen Wissenschaft unendlich überlegen. Mit köstlicher Ironie, die nur hin und wieder zu einem beißenden Spott wurde, persiflierte er den Dandy, den die Natur so ersichtlich zum Damenarzt geschaffen und von der Mühsal, sich in den übrigen Disziplinen der ärztlichen Kunst umzuthun, gnädig dispensiert habe. Wogegen er dann wieder den schweigsamen Japaner in das beste Licht stellte und die bewunderungswerte Feinheit und Geschicklichkeit rühmte, mit der er heute morgen auf der Universitätsklinik eine höchst schwierige Operation unter den staunenden Augen des Fachprofessors und seiner Assistenten und Schüler selbständig ausgeführt. Dann, als sich das Gespräch auf Berlin und seine Vorzüge und Mängel wandte, merkte man bald, daß er in den wenigen Monaten seines Aufenthaltes Stadt und Bewohner gründlich studiert und kennen gelernt hatte. Da war kein Museum, keine Sammlung, die er nicht eindringlich durchmustert; keine bedeutendere Theatervorstellung, der er nicht beigewohnt; keine Berühmtheit, die er nicht wenigstens gesehen. Und aus Andeutungen, die er diskret einfließen ließ, durfte man schließen, daß er die Schatten- und Nachtseiten des Gesellschaftslebens und Volkstreibens nicht minder genau kannte. Besonders fesselnd aber wußte er über die Zustände seines großen Vaterlandes zu sprechen, das er über alles liebte voll Lust und Schmerz, voll Stolz und Zorn, wie denn ein Russe seine Heimat nicht anders lieben könne. Während er die Greuelthaten einer tyrannischen Regierung mit den schwärzesten Farben malte und jenes entsetzliche Gefängnis schilderte, welches man in dem östlichsten, völlig unbewohnbaren Teile Sibiriens errichtet hatte, eigens, um nihilistische Verbrecher langsam zu Tode zu martern, bebte seine Stimme, funkelten seine kleinen Augen, und die massive Hand griff krampfhaft nach dem Messer, das vor ihm auf dem Tische lag. Im nächsten Moment war er aufgesprungen, hatte sich an Tilchens altes Klavier gesetzt und sang mit einer ungeschulten, aber weichen, wohllautenden Stimme ein paar jener Kolzowschen Lieder, in welchen die Leiden und Freuden der Donschen Kosacken mit so rührender Einfachheit geschildert werden.

Aber wie scheinbar aus dem bewegten Innern heraus das alles gesagt und gesungen wurde, Eleonore hatte den geistvollen Mann doch im Verdacht, daß er ein wenig Komödie spiele und diese Komödie zwei Absichten verfolgte: den Chilenen zu ärgern und ihr zu imponieren. Den ersteren Teil seines Programms hatte der Virtuose jedenfalls geleistet: das schöne Gesicht Senor Fernandos war immer düsterer geworden; immer ungeduldiger zwirbelte er das schwarze Schnurrbärtchen, zupfte er an dem Henriquatre oder betrachtete, ein fingiertes Gähnen unterdrückend, abwechselnd die Oberfläche seiner weißen Hand und die Spitzen der schlanken Finger. Eleonore hielt es in ihrem und des Hausfriedens Interesse für geboten, so verschiedene Stimmungen möglichst auszugleichen und zu diesem Zwecke die Leitung der Unterhaltung zu übernehmen. Es gelang ihr das, für sie selbst überraschend, gut: der Russe wurde stiller, der Chilene lebhafter. Dann sprach keiner mehr außer ihr, und sie hatte für ihre Schilderung Londons und der schottischen Hochlande ein, wie es schien, gleich andächtiges Publikum, von dem sie auch den Japaner nicht ausnehmen konnte, der, wenn er auch kein Wort verstand, doch die schwarzen, schief gestellten Augen nicht von ihr wandte, was er denn freilich den ganzen Abend hindurch kaum ein einziges Mal gethan hatte, als wollte er den Europäern einen Beweis asiatischen Beharrungsvermögens liefern.

So war es zu aller Ueberraschung fast Mitternacht, als die Geheimrätin endlich zum Aufbruch mahnen zu müssen glaubte. Sehr zu ihrem Bedauern, denn »wie altmodisch auch ihr Herz, sie liebte es, mit der Jugend jung zu sein«. Die Herren verabschiedeten sich, und als ihre Gestalten – voran der kleine japanische Marquis, dann der schlanke Chilene, zuletzt der breitschulterige Russe – in der Thür verschwanden – die beiden letzten nicht, ohne noch einen Blick nach ihr zurückgeworfen zu haben –, durfte sich Eleonore sagen, daß sie heute die Liste ihrer Eroberungen um die Dreizahl vermehrt habe.

Oder um die Vierzahl, wenn sie ihren blonden Grafen von der Eisenbahnfahrt dazurechnete.

Sie sagte es sich, allein in ihrem Zimmer, mit einem letzten Rest von dem tollen Humor, zu dem sie sich während des Abends aufgestachelt hatte.

Dann lag sie im Bett, in das Dunkel stierend mit brennenden, thränenlosen Augen, keines klaren Gedankens mehr fähig, nur den Busen beklemmt von einem Wehgefühl, das ihr das Herz abzudrücken drohte – das Herz, das sie ihm gegeben, der es genommen, ein paar Tage damit zu spielen und dann zu der besten Frau auf der Welt, die seine Frau war, zurückzukehren.


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