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Elftes Kapitel.

Wie kurz die Sommernacht auch war, Ulrich hatte gemeint, sie würde nie ein Ende nehmen. Rastlos war er in seinem Zimmerchen auf und ab geschritten, hatte dann wieder am Fenster gestanden und in das Dunkel gestarrt, oder auf dem Sofa am Tisch gesessen, den fiebernden Kopf in die Hände drückend.

Aus dem Chaos, in welchem seine Gedanken durcheinander wirbelten, trat nur eines mit fürchterlicher Klarheit heraus: bis gestern abend hätte er nach Hause zurückkehren können zu Weib und Kindern – ein für den Rest seines Lebens unglücklicher Mann –, aber doch zurückkehren. Jetzt konnte er es nicht mehr; jetzt, da er wußte, daß die Leidenschaft, mit der er gekämpft, die er für völlig hoffnungslos gehalten, erwidert wurde; er und sie sich das Bekenntnis dieser gemeinsamen Leidenschaft von den brennenden Lippen geküßt hatten. Bis gestern abend war er noch sein eigener Herr gewesen, der Bestimmen seines Schicksals, wenn dieses Schicksal auch ein endloses Leiden war – das hatte er mit sich selbst auszumachen, mit niemand sonst. Heute gehörte er ihr, wie sie ihm gehörte; heute konnte es für sie beide nur ein und dasselbe Schicksal geben.

Und Hertha! Großer Gott, die Ahnungslose, die Vertrauende, sie, die glaubte, geliebt zu sein, wie sie liebte, und tausendmal erklärt hatte, daß diese ihre Liebe ihr Leben sei! Und sollte nun erfahren, daß, was sie diese ganzen zehn Jahre für Wirklichkeit gehalten, nichts als ein Traum gewesen war, aus dem sie ein so schauderhaftes Erwachen riß; erfahren, daß der aufgesammelte Schatz ihrer Liebe und Treue, all der tausend und abertausend mit solcher Freude, solcher Hingebung, solcher Selbstlosigkeit geleisteten Dienste keinen, aber auch gar keinen Wert hatte; ihre Ehe – ihr Heiligtum und einziger Stolz – gebrochen werden konnte in dem Augenblick, wo ein Weib, das jünger und schöner und geistvoller war als sie, in den Schranken erschien und zu ihrem Gatten sagte: du sollst mein sein – hatte er ein Herz in der Brust, und wollte das der Frau, die in seligem Vertrauen an diesem Herzen geruht, wollte das der Mutter seiner Kinder anthun?

Unmöglich! gerade so unmöglich, wie von ihr zu lassen, die vor ihm stand als all seiner Wünsche, all seines Sehnens köstliche Erfüllung; von ihr, mit der ihm erst das Leben in seiner Herrlichkeit aufgegangen war – sein Licht, seine Sonne, die ihm nicht wieder untergehen durfte, oder die ewige Nacht brach für ihn herein.

Er hatte vor kurzem einen englischen Roman gelesen: No thoroughfare – kein Ausweg. Immer mußte er an das Wort denken: Kein Ausweg – keiner als der Tod. Und den Ausweg hatte sie gestern abend im Sinne gehabt, als sie von dem raschen Ende sprach, das doch wahrlich der Uebel schlimmstes nicht sei, tausendmal besser als ein Leben in der Wüste der Sehnsucht – das Leben, das ihnen beiden nun bevorstand. Den Sumpf tagtäglicher, vom Morgen bis zum Abend geübter Lüge nicht zu vergessen! Mit dessen Schlamm brauchte, Gott sei Dank, sie den Saum ihres Kleides nicht zu beflecken. Der blieb für ihn allein.

Daß es doch nur Morgen werden wollte!

Und der Morgen kam, die Grauengespenster, die ihn die Nacht hindurch umlauert und umgrinst hatten, verscheuchend. Er würde sie ja nun bald wiedersehen, aus ihren schönen Augen Trost saugen, von den geliebten Lippen hören, was sie beschlossen hatte. Tod oder Leben, wie es auch sei – er war in ihrer Hand, und ihr Gott war sein Gott.

Es ging auf vier, als er sich endlich angekleidet aufs Bett warf, nicht, um zu schlafen, nur, um die Glieder, die ihm wie zerschlagen waren, ein wenig zu ruhen. Dann war doch der Schlaf gekommen, aus dem ihm ein Pochen an der Thür weckte. Er sprang mit beiden Füßen vom Bett auf – es konnte nur ein Botschaft von ihr sein.

Vor der Thür stand Frau Johansen, einen Brief und einen Karton in der Hand. Sie bat den Herrn Baron um Entschuldigung, daß sie in solchem Anzug vor ihm erscheine. Aber Nilsens Nantje, die es gebracht, habe gesagt, es müsse gleich an den Herrn Baron abgegeben werden. Des Morgens um kaum sechs! Und ein Gruß sei nicht dabei gewesen; sie habe besonders gefragt.

Weshalb ein Gruß? fragte Ulrich, auf Brief und Karton, die er der Frau abgenommen, starrend.

Lieber Gott, sagte Frau Johansen, wenn man abreist –

Wer reist ab?

Ist abgereist, Herr Baron: das Fräulein, vor einer Stunde schon mit dem Emdener Schiff. Meine Schwester ist ganz unglücklich, sagt Nantje. Na, Herr Baron, sie braucht's ja so nötig nicht; aber noch gestern hat sie zu mir gesagt: So eine liebe Dame habe ich noch nie gehabt; und das Fräulein wollte ja vier Wochen hier bleiben, und warum sie nun mit einemmale –

Ich kann Ihnen darüber keine Auskunft geben, Frau Johansen.

Vielleicht in dem Briefe –

Ich glaube kaum, sagte Ulrich, die Thür schließend, vor der Frau Johansen kopfschüttelnd stehen blieb, um sich dann langsam, unter erneutem Kopfschütteln, nach ihrer Küche zu begeben. Nilsens Fräulein um fünf Uhr plötzlich abgereist; ihr Herr Baron um sechs Uhr fix und fertig angezogen –, ganz offenbar noch von gestern her – das stimmt nicht, sagte Frau Johansen, das Wasser in den Kessel schüttend, das stimmt nicht.

Als Ulrich die, Thür hinter sich zugezogen und zum Ueberfluß den Riegel vorgeschoben hatte, brach ein dumpfer Laut aus seiner Kehle, der halb ein Stöhnen und halb ein Lachen war.

War es denn nicht zum Lachen? war er nicht wieder einmal der idealistische Narr gewesen, und mit dessen Verstande die Phantasie durchgeht, so oft und so bald es ihr beliebt? Abgereist! das war freilich sehr verständig, sehr bequem! da ging man allen Komplikationen aus dem Wege, über welche sich andre Leute, die das Leben so dumm ernsthaft nehmen, den Kopf und das Herz zerbrechen! Heute nacht hatte ihn der Gedanke, sie könne sich töten, beinahe wahnsinnig gemacht; und sie war bloß – abgereist! Wenn das nicht zum Lachen war!

Aber vielleicht war die Scene gestern abend im Garten beobachtet worden, oder ihr häufiges Beisammensein aufgefallen, und war nur vorausgereist, ihm an einem sichereren Orte ein Rendezvous zu geben –

Pah! sagte Ulrich; das sieht ihr nicht ähnlich, und das hätte auch solche Eile nicht gehabt.

Er war um den Brief, den er mit dem Karton auf den Tisch gelegt, scheu herumgegangen. Nun trat er entschlossen heran, erbrach den Brief und las:

»Mein geliebter Freund!

Ich gehe morgen in der Frühe fort von hier – es muß sein – wir sind es uns beiden schuldig.

Werfen Sie dieses Blatt nicht zornig von sich – glauben Sie mir: jede Zeile, die es enthalten wird, ist mit meinem Herzblute geschrieben. Aber in einem Falle, wie der unsre, wo Kopf und Herz in so fürchterlichem Streit liegen, darf das Weib die Entscheidung nicht dem Manne überlassen. Sein Edel- und Wagemut macht ihn von vornherein zu jedem Opfer bereit. Aber wehe dem, der ein Opfer annimmt, das er nicht annehmen darf; er ist viel schuldiger, als der das Opfer bringt. Und die Furcht vor dieser Schuld, glaube ich, läßt uns Frauen in solchen kritischen Lagen die Besinnung nicht verlieren, oder gibt uns die verlorene wieder. Wie dem auch sei, ich bitte, ich beschwöre Sie, hören Sie mich ruhig an!

An dem, was zwischen uns geschehen ist, haftet keine Schuld. Ich darf es jetzt sagen: ich habe Sie geliebt von dem ersten Moment, und ich weiß, es ist mit Ihnen nicht anders gewesen. Wenn das eine Schuld ist, so mag die Natur sie verantworten, die uns beide füreinander geschaffen hat. Ja, Geliebter meiner Seele, davon bin ich so fest überzeugt, wie von meinem eigenen Dasein, das mit dem Deinen zusammenklingt wie zwei harmonierende Töne; mit dem Deinen zusammenrinnt wie zwei Tropfen, die sich berühren. Die Natur irrt sich nicht; sie weiß immer, was sie will. Aber die Menschen irren sich, und wir irrten uns, als wir, beide von demselben Blitzstrahl der Liebe getroffen, wähnten, wir könnten so, ruhig, Hand in Hand, nebeneinander weiterleben als zwei gute Kameraden. Vielleicht hätte es uns stutzig machen sollen, daß es so unsäglich süß war – unser Plaudern, unser Scherzen, unser Disputieren, unser Streiten – nur, um die Wonne zu haben, im Herzen vor dem Geist und Scharfsinn des andern knieen zu dürfen – aber nicht Du, nicht ich hatten diese Süßigkeit im Leben je gekostet. Konnten wir da wissen, daß es Gift war? wir uns den Tod an diesem Gift tranken? den Tod, der doch nur höchstes, schönstes Leben, das Leben ist, für das es sich einzig und allein des Geborenwerdens und des Sterbens verlohnt?

So war es und ist es geblieben bis gestern morgen. Da, als Du mir entgegentratest, bleich, von Angst entstellt, und die Freude, mich wieder zu haben, den starken Mann weinen machte wie ein Kind, da wußte ich, daß Du mich liebtest, da wußte ich, daß ich Dich liebte.

Und in dem Augenblicke stand mein Entschluß fest, daß ich heute reisen müsse. Erschrick nicht! zürne mir nicht! Du darfst es schon darum nicht, weil Du in demselben Augenblicke denselben Entschluß gefaßt hattest. Woher ich es weiß? Lieber, Geliebter, das ist so, wenn man sich liebt. Da wohnen die Seelen in einem Hause von Glas. Da hilft kein Sich-vor-einander-verstecken-wollen. Und so wußte ich, daß Du heute reisen würdest.

Und will nun auch gestehen, daß ich gestern den Vorschlag zur Wanderung nach der Weißen Düne mit freiem Mut gemacht habe. War es doch zum letztenmal, daß wir beisammen sein würden, und morgen brach die Nacht herein. Noch einmal wollte ich mich der Sonne freuen. Ach, und wie habe ich mich ihrer gefreut! wie bin ich glücklich gewesen! Und Du doch auch, Geliebter! Und ich wundere mich nur über eines, daß, als ich dasaß und malte, Du mir nicht die Sachen aus der Hand und mich in deine Arme genommen hast, oder ich Dir nicht um den Hals gefallen bin und Dir gesagt habe, wie grenzenlos ich Dich liebe. Gethan und gesagt mußte es ja doch werden, trotz der philosophischen Gespräche, mit denen wir uns auf dem Nachhausewege bange zu machen suchten, wie die Kinder im Dunkeln.

Und so denn noch einmal: an dem, was bis gestern abend zwischen uns geschehen ist, haftet keine Schuld. Nachdem uns der Zufall – wenn es ein Zufall war – hier zusammengeführt, mußte alles kommen, wie es gekommen ist. Es mögen und werden andre darüber anders denken – das soll mich auch nicht einen Augenblick irre machen. –

Ich glaube, vielmehr ich weiß, Geliebter, bis hierher bist Du mir gern gefolgt, und was ich geschrieben, habe ich aus unsern Seelen heraus geschrieben. Mit dem, was ich noch zu schreiben habe, wird es anders sein. Aber nur für den ersten Moment; nur so lange, bis Du Dich aus der Leidenschaft, die Dich jetzt durchwühlt, in das Rechte hineingedacht haben wirst.

Mein Freund, Du weißt, ich denke sehr frei, viel freier, als man uns Frauenzimmern gemeiniglich zu denken erlaubt, ja, auch freier als der Durchschnitt der Männer. Ich bin keineswegs der Meinung, daß die Ordnung der Gesellschaft, wie sie nun einmal besteht, überall zu Recht besteht und, wer im Besitz ist, immer auch im Recht ist. Ich bin der Meinung, daß das wahre Recht vielfach geknebelt ist und Sklavendienste leisten muß, wo es herrschen sollte. Ob es einmal anders sein wird? Wir mögen es wünschen, hoffen; aber wir haben nicht die Macht, es anders zu machen. Hätten wir sie, so würden wir sie anwenden, und auch dann wäre immer noch die Frage, ob, was dabei herauskäme, besser sein würde als das, was ist. So nun, da wir sie nicht haben, können wir eben nur darüber reden, womit nichts geholfen, oder jammern und klagen, was unsrer unwürdig wäre. Es bleibt uns nichts, als die bestehende Ordnung anzuerkennen und zu dem Schluß zu kommen, der aller edleren Menschen letzte Weisheit: daß Leben und Entsagen identisch.

Es ist Bettlerstolz, ich gebe es zu. Aber ich will mich lieber in diesen Bettlerstolz hüllen, als eine Gabe, die man mir verweigert, gewaltsam aus kargen Händen ringen. Ja, mein Freund, ich bin zu stolz, mit Deiner Frau in Konkurrenz zu treten. Nicht, als ob ich so sonderlich respektierte, was sie vor mir voraus hat, weil der Zufall es ihr in den Schoß geworfen! Nicht als ob ich mich vor ihr demütigte und vor ihren trefflichen Eigenschaften, die sie ja zweifellos besitzt! Und besäße sie deren noch mehr und in tausendfachem Maß – eines hat sie nicht gekonnt: Dich glücklich machen: Und ich würde es können! ich!

Vielmehr: ich würde es gekonnt haben, wärest Du mir als ein freier Mann begegnet. Nun ist es zu spät. Ja, Geliebter, zu spät! So sinne und grüble nicht weiter darüber! und denke nur das eine: auf der Schwelle unsres ehelichen Gemaches würde eine Gestalt kauern, die kein Beten und Bitten bannen könnte: die Schattengestalt Deiner Frau, die sterben mußte, damit wir uns freuten. Da wäre keine Freude mehr möglich für mich und nicht für Dich.

Und Deine Geliebte? Eine Frau, die liebt, hat keinen Stolz, solange es sich nur um sie und sie allein handelt. Aber ein Mann, der liebt, hat ihn und muß ihn haben. Und Dein Stolz würde nicht dulden, sie, die Du liebst, in einer Situation zu lassen, die in den Augen der Welt als schmachvoll gilt.

So bleibt denn nur eines: wir müssen uns trennen, solange wir noch die Kraft dazu haben. Seit gestern abend weiß ich nicht mehr, ob wir sie auch nur heute noch hätten.

Frage mich nicht, wohin ich gehe! Ich will mich nicht vor Dir verstecken; aber ich beschwöre Dich, mich nicht zu suchen. Unwiderruflich, wie mir jetzt mein Entschluß scheint – man thut immer gut, auf seine Geisteskraft und Willensstärke nicht allein zu bauen.

Ich sage nicht: vergiß mich! Das wäre eine der Phrasen, die wir beide so gründlich hassen: wir können einander nicht vergessen – nie!

Ich sage nicht: werde glücklich! nicht einmal: versuche glücklich zu sein! Das wären noch hohlere Worte. Für Dich giebt es kein Glück ohne mich, für mich nicht ohne Dich.

Ich kann nur sagen: sei und bleibe der Mann, den ich geliebt habe und immer lieben werde.

Ach, Liebster, Geliebter, ich hätte Dir noch so viel, so viel zu sagen! Aber eben fährt der Wagen vor, der mich zum Dampfschiff bringen soll. Wäre es doch Charons Nachen! Es muß so still da drüben sein. Und so durch die stille Ewigkeit an Dich zu denken und das namenlose Glück, das du mir durch Deine Liebe bereitet hast!

Eleonore.«

Ulrich ließ den Brief auf den Tisch gleiten und öffnete den dünnen Karton. Er enthielt zwei gleich große Blätter; das eine die Skizze von gestern, unvollendet, wie er sie ihr aus den Händen genommen; das andre, sorgfältig ausgeführt, das Strandbild, an welchem sie gemalt hatte bei ihrer ersten Begegnung, mit dem bleiernen Meer und der Gespenstersonne auf der schwarzen Wolkenwand, aus der eine Minute später der Sturm brach.

Der Sturm, aus dem ihre Liebe geboren wurde, um nach ein paar wonnigen Tagen in einer Wüste zu enden, da kein Vogel sang, kein Halm grünte, kein Tropfen Wasser den Verschmachtenden labte.

Ulrichs Kopf war auf die teuren Blätter gesunken, auf denen die geliebte Hand geruht. So saß er lange, lange, keines Gedankens mächtig, thränenlos, mit der Empfindung, als hinge da an der Brust anstatt des Herzens eine bleierne, schwere Masse –

Endlich vermochte er, sich aufzuraffen. Er legte Brief und Karton in eine besonders verschließbare Abteilung seines Koffers und klingelte.

Ich reise heute um zwölf, Frau Johansen – mit dem Bremer Schiff.

Frau Johansen nickte zur Antwort mit dem Kopfe und schloß die Thür.

In der Küche hätte sie gern ihrem Herzen Luft gemacht. Aber Jantje, die kartoffelschälend auf dem Schemel saß, war zu jung und zu dumm, um so etwas zu verstehen. So murmelte sie denn nur in den brodelnden Wasserkessel hinein: Ich habe es mir gedacht! Die armen jungen Menschen!


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