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Zehntes Kapitel.

Der Leuchtturm war in zehn Minuten zu erreichen und der Weg bot außer einigen Strecken tiefen Sandes keine Schwierigkeiten. Dennoch war Ulrich froh, als sie angelangt waren; Eleonore hatte zuletzt sichtbar mit einer tiefen Erschöpfung gekämpft. Unglücklicherweise waren die beiden Gaststuben voller Menschen, die sich lärmend unterhielten, und die Luft in den so schon niedrigen, düsteren Räumen vor Tabaksrauch kaum atembar. Aber es blieb ihnen keine Wahl, und sie konnten noch von Glück sagen, daß eben an einem der Fenster ein Tischchen frei wurde, an dem sie sich niederließen. Zu Ulrichs großer Beruhigung war es ihm noch draußen auf dem Platz vor dem Hause gleich bei ihrer Ankunft geglückt, sich eines Wagens zu versichern, der Gäste gebracht hatte, die zu Fuß heimkehren wollten.

Es ist mein einziger Trost in dieser Kalamität, sagte er zu Eleonore.

Sie sind ein Aristokrat, erwiderte sie lächelnd, und gehören eigentlich nach England. Wir deutschen Bürgerskinder nehmen es nicht so genau. Das bißchen Tabaksrauch! Und die Menschen – man darf sie nur nicht so in Bausch und Bogen als Herde nehmen; man muß ein wenig ins Detail gehen. Sehen Sie zum Beispiel die beiden da an dem Ende des Tisches! Der eine mit dem rasierten hageren, bleichen Gesicht und dem buschigen Haar ist oder könnte doch ein Schauspieler sein, der sich um ein Engagement bemüht; der andre mit dem Kahlkopf und dem behaglichen Doppelkinn der Theaterdirektor, der innerlich schon ja gesagt hat, und nur darüber nachdenkt, wie er dem armen Teufel von der geforderten elenden Gage noch die Hälfte abschwindeln kann. Oder die Mutter dort mit den beiden schon nicht mehr ganz jungen Töchtern, denen die drei jungen Herren so eifrig den Hof machen. Die Badereise hierher ist ein letzter Versuch. Die Mama lächelt zerstreut; es wäre ja so schön, nur daß sie leider überzeugt ist: es wird doch wieder nichts. Aber Sie hören nicht, was ich sage.

In der That hatte Ulrich ihre letzten Worte nur halb vernommen. Ein Herr war, aus dem Nebenraume kommend, durch das Zimmer gegangen und eben in der Eingangsthür verschwunden; in dem Herrn hatte er seinen Universitätsfreund zu erkennen geglaubt. Er mußte sich geirrt haben; es war mindestens drei Wochen her, seitdem er Herrn von Odebrecht zum letztenmal gesehen; er hätte ihm, wäre jener nicht abgereist, in der langen Zwischenzeit doch ein oder das andre Mal begegnen müssen. Eine Möglichkeit blieb immer: der Mann konnte Norderney damals verlassen haben und jetzt wieder gekommen sein; und war das der Fall, und hatte er sich nicht getäuscht, so waren er und Eleonore, die von den andern abseits am Fenster saßen, seinem Blicke schwerlich entgangen. Hätte die Begegnung mit irgend einem andern Bekannten stattgefunden, es würde Ulrich gleichgültig gewesen sein. Weshalb sollte er in einem Badeaufenthalt nicht an einem öffentlichen Orte mit einer Dame gesehen werden? Nur daß gerade diese Augen ihn mit Eleonore gesehen haben sollten, kam ihm wie eine Profanation vor. Es hatte sein Verhältnis mit dem geliebten Mädchen von Anbeginn eine so süße, märchenhafte Heimlichkeit umsponnen, und am letzten Tage sollte das holde Gespinst zerrissen werden von jener widerwärtigen Hand!

Oder war alles nur ein Spuk seiner überreizten Sinne und, was er zu sehen geglaubt, nur der Schatten, den die trostlose Zukunft in die Gegenwart vorauswarf – die Zukunft, die morgen kam, in die Gegenwart, die nur noch ein paar traurig-süße Stunden währen konnte, nur bis zu dem Augenblicke, wo er Eleonore bis an ihre Wohnung begleitet haben würde?

Er wollte sich die Trostlosigkeit, die ihn zu übermannen drohte, von der Stelle wälzen – es gelang ihm nicht. Auch sie hatte den Versuch, weiter zu scherzen, wie sie es auf dem Herwege gethan, nicht wieder aufgenommen und blickte träumerisch vor sich hin. Es konnten keine frohen Träume sein. Ihre Brauen waren gespannt; ein paarmal zuckte es um ihren Mund, und ihr Busen hob und senkte sich, als möchte sie einen beklemmenden Druck wegatmen. Ulrich hätte gern zum Aufbruch gemahnt; aber der Kutscher, der vorhin eben erst gekommen war, hatte sich eine Stunde Rastzeit ausbedungen. Dann litt es beide doch nicht mehr in dem dumpfen Raume; sie verließen das Zimmer und gingen vor dem Hause auf und ab, bis der Mann sich bereit erklärte.

Es war ein leichter, offener Wagen mit nur zwei Sitzen, deren vorderer selbstverständlich für den Kutscher blieb, einen alten Fischer, der, vornübergebeugt, regungslos dasaß und nur des Weges achtete. Was denn freilich auch nötig schien. Denn sobald man die Dünen hinter sich hatte, war er von der sandigen Fahrstraße abgebogen auf den Strand, der jetzt zur Ebbezeit freilag, wenn es auch streckenlang manchmal durch das flache Wasser ging. Es fuhr sich dennoch leichter da und schnitt den großen Bogen ab, den das Ufer beschrieb. Manchmal kam der Wagen bedenklich schief zu stehen, aber Eleonore ließ kein Zeichen von Besorgtheit blicken.

Ich bin von Natur nicht ängstlich, sagte sie, und auf meinen vielen Reisen so oft in wirklicher Gefahr gewesen – hier ist ja keine, – daß ich das Fürchten vollends verlernt habe. Ueberdies, in der Jugend zu sterben einen raschen Tod, das ist doch wahrlich nicht das Schlimmste, was einem begegnen kann. Ein langes Leben – nun ja! es mag ein Glück sein für einige Auserwählte. Aber für die andern was ist's? Eine Kette von kleinen und großen Enttäuschungen mit all den Bitternissen und dem Herzweh, das sie im Gefolge haben.

Wenn Sie wüßten, wie es mich schmerzt, Sie so sprechen zu hören!

Ich weiß es, und noch dazu, nachdem ich mich verschworen habe, heute keine Grille mehr zu fangen. Ich könnte mich ja nun herauszureden versuchen: es sei die Abspannung; oder ich vermöchte mich der Grillen nicht zu erwehren: sie kämen scharenweis aus dem versumpften Strande da mit seinen Büscheln schleimigen Grases, das aussieht, als ob es schon so und so oft ertrunken gewesen wäre und es auch sicher ist; aber das ist es nicht. Sehen Sie, mein Freund, wir werden uns nun bald trennen müssen. Wer weiß, ob wir uns jemals wieder im Leben begegnen. Und da ich Sie hoch, sehr hoch achten und schätzen gelernt habe und weiß, daß Sie mich nicht vergessen und noch oft an diese Tage zurückdenken werden, möchte ich, daß Sie ein richtiges Bild von mir in der Seele behielten. Und ich meine, das, welches Sie jetzt haben, ist das richtige nicht. Ich glaube, Sie haben sich von mir so eine Art Idealbild zurecht gemacht, wie denn das zu geschehen pflegt bei einer ersten Bekanntschaft, wo man beflissen ist, seine guten Seiten herauszukehren und sich in dem besten Lichte zu zeigen. Aber die wirkliche Eleonore sieht ganz anders aus. Die ist aus Wolkenkuckucksheim, wo die Leute bekanntlich nie wissen, was sie eigentlich wollen, und vor allem Irrlichterieren völlig verlernt haben, eine gerade Straße zu gehen. Und wenn sie nun doch eine gehen sollen, wie es auf Erden der Brauch und schicklich ist, die üble Laune, in die sie dabei notwendig geraten, an andern ehrlichen Leuten auslassen, die sie mit ihren Rechthabereien, Capricen und Ueberspanntheiten zu Tode quälen. Sie, gerade Sie, der sich ewig ins Rechte zu denken versucht und denkt, würden das sehr bald herausgefunden haben, und es würde Sie kränken und schmerzen um so tiefer, je höher Sie mich vorher unverdientermaßen gestellt hatten.

Halten Sie ein, rief Ulrich, um Gottes willen! Ich ertrage das nicht, auch nicht von Ihnen. Wenn das Ihre wahre Meinung ist, so kenne ich Sie besser, als Sie sich selbst. Aber es kann nicht Ihre wahre Meinung sein, nur daß ich den Grund nicht einsehe, weshalb Sie sich bemühen, in meinen Augen so viel kleiner zu erscheinen, sich so zu entstellen. Es wäre denn, daß Sie mir dadurch den Schmerz der Trennung – denn es wird mich schmerzen, mich von Ihnen zu trennen – erleichtern wollen. War das Ihre Absicht, so kann ich Sie versichern, Sie haben sie verfehlt. Ich werde mir das Bild, das ich von Ihnen in der Seele und im Herzen habe, nicht entreißen lassen.

Er schwieg, zu bewegt, um für den Moment weiter sprechen zu können, und fuhr nach einer kleinen Weile ruhiger fort: Und gesetzt, ich überschätzte Sie, welcher Schade erwächst Ihnen daraus? Aber ich – ich! Mein Gott, ich habe Ihnen doch genug aus meiner Vergangenheit erzählt, daß Sie wissen könnten, wie viele Ideale ich zu Grabe tragen mußte, und wie armselig mein Leben darüber geworden ist. Sie sagten, wir sehen uns vielleicht im Leben nicht wieder. Ich habe nicht den Mut, es auszudenken; aber es mag sein. Und Sie wollten mir das Glück nicht gönnen, an Stelle all der versunkenen Idole ein neues aufrichten zu dürfen, zu dem ich nur emporzublicken brauche, um im innersten Herzen zu fühlen, daß dies Leben doch mehr ist als ein schlechter Scherz, den sich die Götter mit uns machen? Was können Sie darauf erwidern?

Daß ich Ihre Schelte verdient habe und Sie um Verzeihung bitte.

Es war ein weicher, demütiger Klang in ihrer Stimme, und sie hatte ihm die Hand gereicht, die er eine Weile festhielt und dann losließ, ohne sie geküßt zu haben, wie heute morgen. Er wollte nicht wieder sich derselben Schwäche schuldig machen, die er so tief bereut hatte. War, was er eben gesagt, eine Liebeserklärung gewesen, er brauchte sich ihrer nicht zu schämen. Wie wirr auch seine Worte gewesen sein mochten, so viel mußte sie doch herausgehört haben, daß sich in seine Anbetung kein niedriger Gedanke mischte; und daß sie mit ihm, wie jetzt hier die kurze Strecke am Strande, durch die ganze Welt fahren dürfe, ohne fürchten zu brauchen, sie werde je in die peinliche Lage kommen, eine Liebe zurückweisen zu müssen, die sie nicht erwidern konnte.

Die Nacht war hereingebrochen, als sie an die ersten Häuser des Ortes kamen. Der alte Mann erklärte sich bereit, bis zu der Wohnung der Dame zu fahren, die nicht weit von seiner eigenen sei. So ging es denn langsam durch die sandigen Straßen, vorüber an dem Kurhause, aus welchem, verwunderlich genug, trotz des Unglücks von heute morgen, das die Badegesellschaft so entsetzt hatte, die Töne der Kapelle im lustigsten Walzertakt erschallten. Bei jeder Wendung des Weges wurde Ulrich schwerer ums Herz. Jetzt noch drei, jetzt noch zwei, jetzt noch eine Ecke – dann waren sie auf dem Kirchplatz. Und. da war der Kirchplatz, und der Wagen hielt vor dem Hause.

Vater und Mutter Nilsen kamen heraus, ihr Fräulein in Empfang zu nehmen. Ulrich hatte den alten Fuhrmann abgelohnt und trat zu den dreien, die, im Gärtchen sich unterhaltend standen. Er hatte jetzt nur noch lebewohl zu sagen; aber es war ein Lebewohl für immer. Er hatte ja nichts hinzuzufügen, er wollte ja nichts hinzufügen. Dennoch, es so sagen zu sollen in Gegenwart der beiden guten Leute – es wollte ihm nicht über die Lippen, während er, in den Händen ihre Mappe und das Plaid, die die er zuletzt aus dem Wagen genommen, einen Schritt abseits von der Gruppe zögerte.

Aber, Vater, so nimm doch dem Herrn die Sachen ab und trage sie in des Fräuleins Stube! sagte Frau Nilsen.

Der Mann entfernte sich mit den Sachen.

Ich muß nur auch schnell hinein und nach dem Wasser sehen; es kocht mir sonst über, rief Frau Nilsen, eilig ins Haus laufend.

Sie waren allein.

Auf der Dorfstraße regte sich nichts. Die Nacht war völlig hereingesunken; in dem Gärtchen wäre es ganz dunkel gewesen, nur daß das Herdfeuer der Küche durch die offene Hausthür und die erhellten Fenster in Eleonores Zimmer einen Dämmerschein über die linke Seite breiteten, während die rechte mit der Laube und dem Resedabeet in schwarzem Schatten lag. Von dem Beet her wallte ein süßer, den ganzen Raum erfüllender Duft.

Sie standen schweigend, regungslos eine Weile.

Gute Nacht denn! sagte Ulrich endlich, seine ganze Kraft zusammennehmend, mit gepreßter Stimme.

Gute Nacht! erwiderte sie. Die Skizze schicke ich Ihnen morgen. Aber mit ganz leeren Händen sollen Sie auch heute nicht nach Hause gehen.

Sie hatte die Hand, die er ihr mit seinem Gutenacht geboten, nicht genommen und sich jetzt nach dem Resedabeet gewandt. Er hatte ihr nicht nachgehen wollen; aber eine seltsame, namenlose Angst, sie werde ihm so im Dunkel auf immer verschwinden, packte ihn, und nun war er doch an ihrer Seite.

Sie richtete sich eben von dem Beete auf.

Hier, lieber Freund: sagte sie.

Er wollte die Blumen nehmen und hatte mit den Blumen ihre Hand erfaßt. Die Hand war kalt und zitterte so, daß ihr die Blumen entfielen.

Eleonore! sagte er tonlos.

Er hatte sie, sie hatte ihn mit den Armen umschlungen und ihre Lippen waren aufeinander gepreßt.

Ich liebe dich! Eleonore! Ich liebe dich!

Und ich dich – unsäglich!

Und noch einmal schlang sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn wieder und wieder in wilder, verzehrender Leidenschaft.

Dann hatte sie sich losgerissen und war in das Haus geeilt.


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