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Dreizehntes Kapitel.

Clementine kam ihr entgegen, noch völlig angezogen. Eleonore hatte es nicht anders erwartet, und den Kuß, den sie eben der jüngeren Schwester verweigert, drückte sie nun innig auf die Lippen der älteren. Dann hielten sie sich an den Händen und blickten einander stumm in die Augen. Nicht wahr, jetzt kennst du meine Lage? sagte Clementinens Blick, und Eleonorens: Ja, ich kenne sie, und will dir soviel ich kann zu ersetzen suchen, wonach dein einsames Herz schmachtet, und das dir jene da mitleidlos verweigern.

Dann saßen die beiden Freundinnen auf dem kleinen Sofa an dem offenen Fenster, das auf den Hof hinausging, von dem zu Zeit das dumpfe Trampeln von Pferden heraufschallte, die irgendwo in ihrem Stall unten in der schwülen Sommernacht keine Ruhe finden mochten.

Ich weiß, du vertraust mir, sagte Eleonore.

Sie hatte unwillkürlich »du« gesagt und wurde erst darauf aufmerksam, als Clementine, ihre Hand ergreifend und an die Brust pressend, mit leuchtenden Augen murmelte:

Ja, ja – dir, dir! – wie dem lieben Gott!

Närrisches Kind! dann sage mir, in welchem Verhältnis steht deine Schwester zu Graf Wendelin?

Kennst du ihn?

Ich habe seine Bekanntschaft auf der Reise hierher gemacht. Er war sehr liebenswürdig zu mir. Ich wünsche ihm alles Gute.

Er verdient es auch, erwiderte Clementine eifrig; er ist ein seelensguter, braver Mensch. Ich selbst habe ihn sehr lieb, und wir stehen sehr gut miteinander. In welchem Verhältnis er mit Kittie, – ach, Herz, das ist eine wunderliche Sache, die mir schon manche schlaflose Stunde gemacht hat. Du hast vielleicht gehört, daß wir Nachbarn sind, was man bei uns so nennt, wo zwei oder drei Meilen gar nichts bedeuten, wenigstens nicht im Sommer; im Winter, bei den grundlosen Wegen, ist es freilich eine beschwerliche Reise und manchmal unmöglich, zusammenzukommen. Man kommt bei uns oft zusammen – die von Adel, weißt du –, da kennt jeder jeden. Es ist wie eine große Familie – sie haben so viele gemeinsame Interessen, und die bürgerlichen Gutsbesitzer existieren für sie nicht. So kennen wir denn auch Graf Guido wer weiß wie lange. Als er zuerst in unser Haus kam, war Kittie noch ein Kind, vielleicht sieben Jahre oder so – sie kann aber noch jünger gewesen sein; und er war damals achtzehn oder neunzehn, also auch noch recht jung, ein halber Knabe fast und so schüchtern wie ein Mädchen. Da sollte denn Kittie seine kleine Braut sein. Das heißt: er hat das nie gesagt; der Ausdruck kommt von Mama. Sie hat es sich schon damals in den Kopf gesetzt, daß Guido Kittie, wenn sie erwachsen sei, heiraten müsse. Nun, dergleichen ist bei uns nichts Ungewöhnliches; die Eltern verloben ihre Kinder manchmal schon in der Wiege. Und Guido, gutmütig, wie er ist, ist darauf eingegangen, solange er die Sache für einen Scherz hielt und halten durfte, bis er sah, daß Mama und auch Kittie sie ernsthaft nahmen. Er hat damals ganz offen mit mir darüber gesprochen, der gute Mensch. Sehen Sie, Clementine, sagte er, ich habe in Ihrem Hause so viel Freundlichkeit genossen, und die würde ich schlecht vergelten, wollte ich wissentlich bei Ihrer Mama – von Kittie sprach er nicht – Hoffnungen nähren, die ja für mich sehr schmeichelhaft sind, die aber nie in Erfüllung gehen können. Ich würde niemals ein Mädchen heiraten, das ich nicht liebte, und ich könnte Kittie nie lieben. Sie ist hübsch, aber mein Geschmack ist sie nicht – ganz und gar nicht. Das Mädchen, das ich meiner Mama zuführen soll – und da hat er mir ein Bild von dem Mädchen gemacht, und – und – aber du darfst mich nicht auslachen! – da hat er dich geschildert wie du leibst und lebst, daß ich, als ich dich heute sah, und du anfingst zu sprechen, und alles so lieb und gut und so klug war – da habe ich ordentlich einen Schrecken gehabt und zu mir gesagt: guter Gott, wenn Guido die sieht, und sie weist ihn nicht zurück, die heiratet er auf dem Fleck.

Närrin! sagte Eleonore, dem erregten Mädchen das Haar aus der feinen Stirn streichend; du hörst ja: er hat mich gesehen und gesprochen – zwei volle Stunden lang – vis-à-vis und tête-à-tête, vor einem Monat schon, und ich bin immer noch nicht Frau Gräfin Wendelin. Aber du wolltest mir erzählen: wie ging es nun weiter mit dem Grafen und deiner Schwester?

Ich verstehe es nicht; ich verstehe es wahrhaftig nicht, murmelte Clementine; zwei volle Stunden lang – ja so! wie es weiter ging! Ich spräche so gerne von was andern! – aber, wie du willst –, es ist auch nicht mehr viel zu erzählen und Interessantes nun schon gar nicht. Er kam von dem Augenblicke seltener; dann blieb er monatelang weg – auf Reisen – ich glaube, bei Gott, nur, um nicht die zwei Meilen zu uns herüberfahren zu müssen, denn er hat mir oft gesagt, daß er sich überall entsetzlich gelangweilt habe – außer in Eng–

Aber, Kind, was hast du? sagte Eleonore, als Clementine plötzlich abbrach, um erst in sich hineinzukichern, und dann das Taschentuch in das Gesicht drückte, nicht laut herauszulachen. Sie mußte ein paarmal fragen, bevor Clementine, sich die Thränen aus den Augen wischend, antworten konnte:

Gleich! gleich! O, mein Gott, wie dumm bin ich gewesen! Habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, weshalb Mama und Kittie auf einmal den Entschluß gefaßt haben, englisch lernen zu wollen! Und es ist doch so lächerlich klar! Der Graf, mußt du wissen, schwärmt für England, wo er seine einzige Schwester verheiratet hat und oft zum Besuch ist. Erst in diesem Frühjahr wieder. Nun war immer Mamas stille Sorge, er möchte eine Engländerin heiraten, und besonders ängstlich war sie diesmal – ich weiß nicht, warum. Da muß sie in aller Stille mit Kittie den Entschluß gefaßt haben; ich begreife jetzt nur nicht, warum sie nicht früher darauf gekommen sind. Du merkst noch immer nichts? Ach, du bist ja beinahe so dumm wie ich! Siehst du denn nicht, daß Guido keine Engländerin zu heiraten braucht, wenn er sich mit Kittie in seinem geliebten Englisch unterhalten kann? Und warum die junge Dame, die wir auf einmal partout im Hause haben mußten – wir haben außer unsern ersten Erzieherinnen nie eine gehabt –, eine perfekte Engländerin sein sollte? Und wir Hals über Kopf nach Berlin mußten, um so mehr, als man erfahren hatte – ich weiß nicht auf welchem Wege –, daß Guido, der sich wieder einmal seit Monaten nicht hatte sehen lassen, zu derselben Zeit hier sein würde? Und denke dir: der schlechte Mensch hat die Unhöflichkeit begangen, sich acht Tage lang auch hier vor uns zu verstecken, trotzdem Mama ihm gleich am ersten geschrieben hatte, daß wir hier seien. Mama war außer sich, und es war eine böse Zeit – selbst für Kittie –, bis heute mittag – eine Stunde, bevor du kamst – Excellenz Wendelin schrieb, Guido habe sich auf den Abend bei ihr anmelden lassen; ob Mama und Kittie nicht auch kommen wollten – ganz zufällig –, begreifst du? Die alte Dame steht nämlich in der Heiratssache auf Mamas Seite und protegiert sie auf jede Weise. Stelle dir Mamas Freude vor! Nun, ich glaube, du hast gleich dein Teil davon bekommen: fünf Damen, die sich vor dir präsentiert haben, waren sehr ungnädig entlassen. Nicht wahr, Herz, du bist doch nicht bös, daß ich dir vorgelogen habe, die Einladung sei erst nachträglich gekommen? Ich konnte doch nicht gleich sagen: verzeihen Sie, Fräulein, wenn ich erst einmal im Interesse meiner Mama und Schwester Ihnen ein bißchen vorflunkere?

Wo war das zaghafte Mädchen geblieben, das Eleonore empfangen hatte und nicht die Wimpern aufzuschlagen und die Stimme zu erheben wagte? Um den feinen Mund, dem die Rede so leicht entquoll, züngelten humoristische Schlängelchen, und die dunklen Augen leuchteten von Schelmerei und Uebermut.

Eleonore saß da, in Nachdenken versunken. Sie also sollte dem Grafen eine Frau schaffen helfen! Diese Frau, dies kokette, unbedeutende Geschöpf! Er hatte sie bisher verschmäht – gewiß! aber wozu bringt einen gutmütigen Mann nicht Weiberlist? Und ein zurückgewiesener Liebhaber, was ist er nicht zu thun imstande? welche Thorheit ihm thöricht genug? Da wäre denn wieder ihre verhängnisvolle Gabe, Unheil und Unglück um sich her zu breiten, von der sie so treffliche Proben noch eben im Hause der Tante abgelegt!

Plötzlich fuhr wie ein Blitz ein schrecklicher Gedanke durch ihre Seele. Das Gut des Grafen war dem der Generalin benachbart; aber hatte nicht der Graf auch Ulrich seinen Nachbar genannt? Dann war wieder die Nachbarschaft seiner und der Generalin zweifellos, und sie, die zwischen sich und ihn eine Welt hatte legen wollen, war morgen auf dem Wege zu ihm! in seine gefürchtete, geliebte Nähe!

Ein Schauder des Grauens und Entzückens zugleich durchrieselte sie. Was sollte sie thun? Fliehen? aber wie es anstellen? woher einen Grund nehmen? Wenn sie sich Clementine entdeckte? sie um ihre Hilfe anflehte? Aber was konnte die Aermste helfen, die in ihrer Familie so nichts galt? Und mochte sie ihr Geheimnis preisgeben – ihr Geheimnis war auch das seine, das sie heilig zu halten hatte. Dennoch, geschehen mußte etwas, und war es auch nur, daß sie sich Gewißheit über ihre Lage verschaffte. Noch war sein Name nicht wieder über ihre Lippen gekommen, außer wenn der Schmerz und die Sehnsucht ihn in die stille Nacht hineingeflüstert hatten – jetzt mußte es sein.

Da ist der arme Graf in einer üblen Lage, begann sie, selbst verwundert über den ruhigen Ton, in dem sie sprechen konnte; und nach der überaus guten Laune zu schließen, mit der deine Mama und Kittie vorhin nach Hause kamen, ist die Entrevue sehr günstig für sie verlaufen, und der treuherzige Graf zappelt bereits in dem Netz. Ist denn da kein Freund, der ihm in seiner Not beispringen könnte? Ich glaube mich zu erinnern, daß er von einem sprach – mit großem Enthusiasmus, als von einem ganz besonders trefflichen, bedeutenden Mann, den er über alles liebe. Ich kann nicht wieder auf den Namen kommen –

Baron Randow? fragte Clementine.

Möglich, daß er so hieß, erwiderte Eleonore scheinbar gleichmütig, während ihr das Herz in wilden Schlägen pochte.

Ich dachte es mir gleich, rief Clementine; es konnte nur mein Schwager sein!

Eleonore saß mit weit aufgerissenen, starren Augen da. Sie hatte sich sicher verhört.

Dein Schwager? sagte sie tonlos. Wie ist das möglich? Hast du denn noch eine Schwester?

Eine Halbschwester, viel älter als wir, aus Mamas erster Ehe. Aber, mein Gott, hat dir denn Mama davon kein Wort gesagt?

Kein Wort, murmelte Eleonore.

Das ist stark! Ich dachte, sie hätte dir das alles umständlich auseinandergesetzt, und deshalb habe ich nicht davon angefangen. Aber das sieht Mama ähnlich! Die arme, gute Hertha! sie spielt freilich keine große Rolle in ihren Gedanken, eine noch kleinere fast als ich – und das will etwas sagen.

Und diese deine Schwester ist –

Die Frau von Ulrich – so heißt mein Schwager mit Vornamen – schon seit zehn Jahren, und wenn wir uns während dieser ganzen Zeit zweimal so oft hinüber und herüber besucht haben, ist es gut gerechnet, trotzdem zwischen Seehausen und Wüstenei, seinem Hauptgut, nur ein paar Güter liegen, von denen das eine Graf Guido gehört. Aber, Herz, du siehst müde aus. Ich kann dir das alles ein andermal erzählen.

Nein, nein! rief Eleonore. Es interessiert mich zu sehr. Bitte, bitte: weiter! weiter!

Wie du willst, obgleich es eigentlich eine lange Geschichte ist, wenn ich sie von Anfang an erzählen soll. Also: Mama war schon einmal verheiratet an einen reichen Gutsbesitzer, der Niemann hieß. Verstehst du? schlechtweg Niemann. Es mag Mama keine kleine Ueberwindung gekostet haben, ihn zu heiraten, denn – unter uns – sie hält, als geborene Freiin von Lilien, große Stücke auf den Adel. Aber die Lilien waren im Laufe der Zeit – einer undenklichen Zeit, mußt du wissen – nicht reicher geworden, und Mamas Vater so arm, daß er froh war, sein letztes Gut – unser Seehausen – an den einfachen Gutsbesitzer und Domänenpächter Niemann zu verkaufen, bevor er bald darauf starb, nachdem Mama Frau Niemann worden war. Ich vermute, es ist keine sehr glückliche Ehe gewesen, aber Genaueres weiß ich nicht, denn Mama spricht nie über diese Zeit, und ich schließe es nur daraus, daß sie Hertha immer so grausam ungerecht behandelt hat. Hertha, mußt du wissen, war das einzige Kind. Die Ehe hat auch nicht lange gedauert – ich glaube, kaum vier Jahre. Herr Niemann muß aber Mama sehr geliebt haben – oder war es vorher schon kontraktlich ausgemacht? – jedenfalls war Mama seine Universalerbin. Dann verheiratete sich Mama nicht sehr lange darauf mit meinem Papa, der damals Oberst war. Und dann – das war aber acht Jahre später – und Papa war auch schon gestorben – als General – heiratete Hertha Ulrich und, verzeih mir Gott, ich glaube, sie war froh, aus dem Hause zu kommen. Freilich, besser hätte sie es nicht treffen können. Denn Ulrich – ach, Eleonore, wenn du Ulrich kenntest –

Weiter! Kind, weiter! sagte Eleonore.

Ich bin eigentlich zu Ende, denn wenn ich erklären sollte, warum Mama nun auch Ulrich nicht leiden kann, um nicht zu sagen: haßt – ich verstehe es nicht. Wie ist es möglich, einen Menschen zu hassen, von dem man im Leben Gutes und nur Gutes erfahren hat, wie Mama von Ulrich? Herz, dir darf ich es ja sagen: Mama war nach Papas Tode in keiner guten Lage. Papa, scheint es, wußte mit dem Gelde nicht umzugehen – es mögen auch Schulden von früher dagewesen sein – kurz: sie war in großer Verlegenheit, aus der ihr niemand geholfen hat als Ulrich durch seinen Rat und – nun ja! – und sein Geld. Das mag dann wieder Hertha nicht ganz recht gewesen sein, um die es die Mama auch wahrlich nicht verdient hatte; wenigstens ist ihr Verhältnis dadurch nicht besser geworden. Nicht, als ob du deshalb übel von Hertha zu denken brauchtest! Ulrich muß es sich selbst sauer werden lassen; und wenn sie sparsam ist, so ist sie es für ihn, was auch vielleicht nötig ist – einen so edlen, großmütigen Mann giebt es nicht zum zweitenmal.

Erst hat der Graf mir sein Lob gesungen, jetzt kommst du, sagte Eleonore mit zitternden Lippen, die zu lächeln versuchten.

Wenn ich es singen könnte, wie ich möchte! murmelte Clementine.

Sie saß da mit in den Schoß gefalteten Händen und starr vor sich hin blickenden Augen. Plötzlich ging ein Zittern durch ihren ganzen Körper; sie stöhnte dumpf auf, warf sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit in Eleonorens Arme und brach in krampfhaftes Weinen aus.

Hier bedurfte es der Erklärung nicht; dies sagte mehr, als Worte es vermocht hätten, sagte alles.

Eleonore hielt die Schluchzende umfaßt ohne ein andres Gefühl als tiefstes, innigstes Mitleid. Wenn die Unglückliche hätte ahnen können, wie es in dem Busen aussah, an den sie ihren Kopf lehnte! Aber, Gott sei Dank, sie konnte es nicht und sollte es nie.

Endlich gelang es ihren Liebkosungen, die Aermste so weit zu beruhigen, daß sie sich aufrichten und mit bleichen, zuckenden Lippen und umflorten Augen sagen konnte:

Nun magst du nichts mehr von mir wissen.

Warum? erwiderte Eleonore; weil du Ulr–, weil du deinen Schwager –

O, bitte, bitte! rief Clementine, angstvoll ihre beiden Hände ergreifend, o, sprich es nicht aus! Nein, nein, nein! Nur, weil ich mich so habe gehen lassen, so – O, mein Gott! ich weiß ja nicht, wie das so über mich gekommen ist! Oder doch! ich weiß es: durch deine liebe Nähe, durch deine liebevollen Worte, durch deinen Schwesterkuß. Der hat mir, hier, bis ins tiefste Herz gezittert, wie ein Sonnenstrahl, daß alles licht und hell in mir geworden ist – ach, ich kann dir das nicht beschreiben! Und da hab' ich auch auf einmal gewußt – ja, was denn? was denn nur? Nicht das, was du vorhin sagen wolltest! und nie, nie aussprechen darfst! um Gottes willen nicht! Es ist ja nur – sieh, bevor du kamst, ist kein Mensch gut zu mir gewesen, nur mein alter, lieber Pastor und hernach er – ach, so himmlisch gut! Wenn ich oft der Verzweiflung nahe war, dann hat er mich getröstet, daß ich wieder Mut zum Leben faßte und meine Leiden vergaß und meine Häßlichkeit. Und immer und immer habe ich dann an den Krüppel denken müssen, dem der Herr die Hand auflegte und sagte: ›Stehe auf und wandle!‹ Und nicht wahr, wenn ein Mensch so an einem armen, unglücklichen Geschöpf zum Heiland wird, da muß es doch dankbar sein und zu ihm beten: ›Ulrich! Ulrich! ich kann nicht weiter! hilf mir!‹ Ach, wie oft habe ich so gebetet in schlaflos banger Nacht, im Bette sitzend mit zusammengekrampften Händen! Und dann sah ich durch das Dunkel seine schönen, mitleidsvollen Augen und hörte durch die Stille seine sanfte Stimme; und in meinem Herzen, wo es doch eben noch so wahnsinnig getobt, wurde es ruhig, ganz ruhig; und wenn ich am Morgen erwachte, meinte ich, es hätten während der Nacht Engel um mein Bett gestanden, und den ganzen Tag tönte es in mir, wie der Nachhall lieblichster Musik.

Wie lieblichste Musik selbst waren ihre letzten leisen Worte gewesen; und ihr Gesicht mit den starren, leuchtenden Augen war, als läge auf ihm der Abglanz von dem Licht, das von Engeln ausstrahlte, die sie, nur sie sah.

Eleonoren packte ein Grauen. Ihr war, als hätte jemand ihre Seele gestohlen und säße da neben ihr mit der gestohlenen Seele, und in ihr selbst war alles tot und finster und leer.

Ein Fieberfrost durchrieselte sie; nur mit einer gewaltsamen Anstrengung richtete sie sich vom Sofa auf.

Komm! sagte sie, laß uns zu Bett gehen!

Clementine war ihrem Beispiel gefolgt und starrte ihr angstvoll ins Gesicht:

O, mein Gott, wie blaß du bist! und deine Hände sind eiskalt!

Es ist nichts, sagte Eleonore, sanft abwehrend; wir haben uns nur beide in Aufregung gesprochen. Ein paar Stunden Ruhe, dann ist es wieder gut – bei mir, und ich denke auch bei dir.

O, ich werde wundervoll schlafen, wenn –

Wenn was?

Du mir noch einen Kuß –

Sie hatte Eleonoren umarmt, war aus dem Zimmer in ihr Kämmerchen geschlüpft und hatte die Thür hinter sich zugezogen.

Eleonore stand ein paar Augenblicke regungslos, dann war sie mit ein paar leisen, schnellen Schritten an der Thür nach dem Korridor, die sie geräuschlos öffnete. Schwarze Finsternis gähnte sie an; kein Laut in dem schlafenden Hause.

Es ist unmöglich, sagte sie sich; du findest nicht hinaus.

Sie schloß die Thür wieder und blickte nach dem Fenster. Die Wohnung lag zwei Treppen hoch –

Aber der häßliche Gedanke schwand so schnell, wie er gekommen war. Das war kein Ausweg für sie.

Nehmen wir an, es ist dein Schicksal, murmelte sie.

Ein Wort, das Borykine geläufig war, fiel ihr ein: Das Schicksal sind wir selbst.

Nein! sagte sie, das ist nicht wahr; das ist eine seiner überspannten Phrasen. Wir sind nicht das Schicksal; wir können nur mit ihm kämpfen. Die Aermste da nebenan thut es. Was sie kann, kannst auch du. Morgen beginnt die Schlacht. Es soll das Zeichen eines tapfern Kriegers sein, wenn er die Nacht vor der Schlacht schlafen kann.

Sie hatte sich zu Bett begeben und lag da mit geschlossenen Augen, die Hände unter dem Busen gefaltet, sich immer wiederholend, daß sie ein Feigling sei, wenn sie das Pochen in den schmerzenden Schläfen nicht bändigen und das zuckende Herz in der Brust nicht zur Ruhe bringen könne.

Darüber schlief sie endlich ein.


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