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Elftes Kapitel.

Es war gerade neun Uhr, als die Droschke vor dem Hause Unter den Linden hielt – die Stunde, welche die Generalin Eleonore als ihre Theestunde genannt hatte, auf die sie sich heute in Aussicht »auf eine so liebe, geistvolle Gesellschaft noch ganz besonders freue.« Sie war infolgedessen einigermaßen erstaunt, von dem Diener, der mit dem Portier des Hauses ihre Sachen hinauf schaffte, zu hören: die Frau Generalin und das gnädige Fräulein Kittie seien für den Abend aus. Das Fräulein möge gefälligst so lange in den Salon treten; das gnädige Fräulein Clementine werde sofort kommen.

Damit hatte ihr der Mann die Thür zum Salon geöffnet, demselben Raum, in welchem man sie heute mittag empfangen, der aber jetzt in dem Dämmerschein der auf einem Tisch in der Mitte brennenden Lampe viel weniger freundlich erschien, als im hellen Tageslicht. Gerade wie jetzt der Empfang, dachte Eleonore.

Während sie sich jetzt zum erstenmal – heute mittag hatte sie dazu keine Muße gehabt – genauer in dem mäßig großen Gemache umsah, das, soweit sie es erkennen konnte, mit unschönen Mahagonimöbeln aus den vierziger Jahren und zwei großen Porträts über dem Sofa, als einzigem Wandschmuck, ausgestattet war, mußte sie unwillkürlich des prächtigen Drawing-Room in Glenmore-Castle gedenken. Da, an der einen Längsseite in der Mitte, hatte sich der Kamin aus schwarzem und weißem Marmor bis fast zu der hohen kassettierten Decke aufgebaut, von der die drei altertümlichen, allabendlich in Kerzenglanz strahlenden Kronleuchter herabhingen. Bis zu zwei Drittel der Wandhöhe die reich geschnitzten Paneele aus tiefgebräuntem Eichenholz. Ueber den Paneelen in unabsehbar langen, nur von Jagdtrophäen und kriegerischen Emblemen durchbrochenen Reihen die Ahnenbilder der Glenmores, viele von den Händen erster Meister und unschätzbarem Wert. Durch den weiten Raum, dessen Fußboden ein kostbarer Teppich bedeckte, mit Prunkgegenständen, Büchern und Atlanten und Albums belegte Tische, von denen jeder einzelne in ein Museum gehörte; mit schwerem Damast überzogene Diwans, Causeusen, Fauteuils in allen Formen und behaglichen Gruppierungen. Die Thüren in Marmorrahmen – zwei an den Querseiten, eine besonders mächtige, in den Speisesaal führende an der zweiten Längsseite, dem Kamin gegenüber, – verhangen mit Gobelins aus der Zeit Louis XIV., die ein Vermögen repräsentierten.

Seltsam, sprach Eleonore bei sich, ich habe das und all die sonstige Pracht damals hingenommen, als verstände es sich von selbst; es auch wahrlich nicht vermißt in meinem Stübchen in Norderney. Ach, die vier weißgetünchten Wände und das immer schief hängende Bild in dem schwarzen wurmstichigen Rahmen über der braunen Thür, auf dem das Schiff mit vollen Segeln durch die grasgrünen Wellen strich!

Wie deutlich sie ihr liebes Stübchen sah! Plötzlich war es nicht mehr da. Sie saß auf dem Vorsprung der Düne, zu ihren Füßen den breiten grauen Strand bis zu dem Meer, das sich regungslos dehnte wie eine Decke von Blei; am Horizonte, in gleichmäßiger Höhe von Nord nach Süd sich streckend, die schwarze Gewitterwand; über der Wand die Sonne, verschleiert, glanzlos, wie das Gespenst ihrer selbst. Und ein Mann, den sie nicht beachtet, als er eben unter ihr vorüberging, steht am Fuß des Dünenwalls, und sie blickt in ein braunes Gesicht, aus dem ein paar große ernste blaue Augen zu ihr aufschauen, und eine tiefe freundliche Stimme sagt: Ich kann Sie hier nicht so ruhig sitzen sehen, während wir allem Anschein nach binnen kürzester Frist ein schweres Unwetter haben werden.

Das geliebte Bild war verschwunden vor einem Geräusche an der Thür, die auf den Korridor führte. Eine weibliche Gestalt war eingetreten und kam mit leisen Schritten, wie zögernd, auf sie zu, aus dem Halbdunkel des Gemaches heraus in das matte Licht der Lampe: ein mittelgroßes, krankhaft bleiches Mädchen mit dunklem Haar und dunkeln schüchternen Augen.

Ich habe die Ehre, Fräulein Ritter?

Die Stimme war leise, wie ihr Schritt, und schüchtern, wie ihre Augen.

Mein Name ist Clementine, fuhr sie in demselben sanften Tone fort, als Eleonore ihre Frage mit einer stummen Verbeugung beantwortet hatte; Kitties ältere Schwester. Die Mama und Kittie lassen sich entschuldigen – eine unerwartete Einladung zum Thee bei einer befreundeten Dame, der sie nicht wohl absagen konnten – aber sie werden sicher nicht lange bleiben– bitte, wollen Sie nicht inzwischen ablegen und Platz nehmen? Oder darf ich Sie lieber gleich in Ihr Zimmer geleiten?

Ganz wie Sie meinen, gnädiges Fräulein, sagte Eleonore.

Dann, bitte, folgen Sie mir!

Sie ging auf eine Tapetenthür zu, die Eleonore noch nicht bemerkt hatte. Bei den ersten Schritten, die sie, jetzt vor ihr her, that, sah Eleonore, daß die junge Dame, wenn nicht hinkte, so doch das rechte Bein nachschleppte, und daß die linke Schulter nicht unbedeutend höher war, als die andre. So erklärte sich denn auch der krankhafte Zug in dem bleichen Gesicht und die durchsichtige Weiße der schmalen Hand, die sie ihr bei den letzten Worten zaghaft-hastig gereicht hatte, als wollte sie ein Versäumtes, solange es noch Zeit sei, nachholen.

Die Tapetenthür aus dem Salon führte in ein großes Speisezimmer, über dessen mit den Vorrichtungen zum Thee und zwei Couverts besetztem Tisch eine Gaslampe brannte: aus dem Speisezimmer gelangte man auf einen schmalen langen Korridor mit vielen Thüren, deren dritte oder vierte Clementine mit der Bitte einzutreten öffnete.

Ein kleines, zweifenstriges, bereits von einer Lampe erhelltes, recht einfach möbliertes, aber doch anheimelndes Gemach, an das ein noch kleineres einfenstriges stieß. In jedem ein Bett: das in dem kleineren frei, das in dem ersten größeren mit Vorhängen verhüllt. Hier sah Eleonore neben der Waschtoilette auch ihre beiden Koffer.

Sie müssen sehr vorlieb nehmen, sagte Clementine, indem sie Eleonore Hut und Mantel ablegen half. Unser Fremdenzimmer ist während des Sommers nicht in Ordnung; so habe ich Mama gebeten, Ihnen mein Zimmer hier abtreten zu dürfen. Ich werde, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, da nebenan schlafen.

Aber weshalb nicht umgekehrt, gnädiges Fräulein? sagte Eleonore lächelnd; ich nebenan und Sie in Ihrem Zimmer, wie es in der Ordnung wäre.

Man bietet einem lieben Gaste doch gern das Beste, was man hat.

Es war von der leisen Stimme in einem so herzlichen Tone gesagt, und in dem bleichen, unschönen Gesicht eine so liebliche Röte aufgestiegen – Eleonore hatte mit beiden Händen die schmalen weißen Hände des schüchternen Mädchens gefaßt.

Sie sind ein Engel!

O, wie können Sie das nur sagen?

Weil sie es sind. In meinen Augen sind alle guten Menschen Engel. Ist es doch fast übermenschlich schwer, gut zu sein.

Clementine antwortete nicht; aber aus den großen, dunklen Augen kam ein Strahl tiefer, freudiger Dankbarkeit. Eleonore fühlte sich innig gerührt. Das arme Mädchen, sagte sie bei sich, ist durch Freundlichkeit nicht verwöhnt.

Es gab noch einen Koffer aufzuschließen, um Eleonores Nachtsachen und Toilettenkasten herauszunehmen. Dann standen die Mädchen wieder an der Thür.

Darf ich Sie noch um eines bitten? fragte Clementine, bereits mit der Hand auf dem Drücker.

Was ist es, gnädiges Fräulein?

Bitte, bitte, nennen Sie mich nicht gnädiges Fräulein!

Aber wie denn?

Fräulein Clementine, wenn andre Leute dabei sind – und sonst Clementine.

Wenn Sie mich ebenso Eleonore nennen. Wollen Sie?

Ach ja!

Abgemacht!

Ich danke Ihnen! O, wie sehr ich Ihnen danke!

Clementine hatte die neue Freundin umschlungen und ihr einen Kuß gegeben, den Eleonore von Herzen erwiderte.

Dann verließen sie das Gemach und begaben sich in das Speisezimmer, wo unterdessen der Diener die Flamme unter dem Theekessel entzündet hatte.

Clementine bereitete und servierte den Thee, nachdem der Diener auf ein freundliches: Wir brauchen Sie nicht mehr, Johann! das Zimmer verlassen. Ihre Schüchternheit war nicht verschwunden, aber jetzt nur noch wie ein Schleier, den sie aus Gewohnheit festhielt, und durch den doch eine liebevolle, liebebedürftige Seele hell und heller schimmerte. Auch schien es Eleonoren unmöglich, daß hinter dieser von so ausdrucksvollen Linien umschriebenen Stirn nicht ein geschäftiger Geist lebte; dieser Mund, der jetzt wie von verhaltenen Schmerzen zuckte, und um den dann wieder ein so feines Lächeln spielte, nicht gar viel zu sagen wüßte, wenn er nur den Mut zum Reden fände.

Das war aber vorläufig entschieden nicht der Fall. Selbst auf die paar diskreten Fragen, mit denen sich Eleonore in ihrer neuen Situation zu orientieren suchte, kamen die Antworten sparsam und zögernd. Vertrauen erweckt Vertrauen, dachte sie, und begann aus ihrem Leben zu erzählen, wie es eben kam: von ihrer Jugend, ihren Reisen in fremden Ländern, ihrem Aufenthalte in England. Es waren zum Teil dieselben Dinge, welche sie bereits heute vormittag der Generalin und Fräulein Kittie zum besten gegeben hatte, aber jetzt in andrer Form, in andrer Weise. Jetzt brauchte sie die Gegenstände nicht zu wählen, ihre Worte nicht abzumessen. Während sie so von einem auf das andre kam und sich immer mehr in die Lust des Erzählens hineinsprach, mußte sie an Münchhausens eingefrorenes Posthorn denken, das in der Nähe des warmen Ofens auftaut und seine muntern Weisen eine nach der andern erklingen läßt. Es waren auch nicht immer muntere Weisen; hin und wieder mischten sich vorübergehend ernste und melancholische ein – durfte sie doch sicher sein, daß ihrer Zuhörerin alles willkommen, daß sie für alles dankbar war. Je nach dem Inhalte der Erzählung kam und ging eine sanfte Röte auf ihren Wangen; verschleierten sich die großen dunklen Augen, oder erglänzten in einem wundervollen Licht; hob und senkte sich die eingesunkene Brust langsamer oder schneller. Eleonore mußte ein paarmal ordentlich an sich halten, daß sie nicht aufsprang und dem lieben Mädchen einen Kuß auf die vor Erregung zitternden Lippen drückte. Besonders interessant schienen Clementinen ihre Berichte aus England zu sein, gerade wie heute vormittag für die Generalin und Kittie. Sie machte eine dahin zielende Bemerkung und fragte:

Woher ist Ihnen allen diese Vorliebe gekommen?

Ich finde die englische Litteratur so schön, erwiderte Clementine verwirrt und wie aus einem holden Traum erweckt; ich – ich – und Sie sollen ja so entzückend englisch sprechen.

Woher wissen Sie denn das? gab Eleonore lachend zurück. Ich habe, soviel ich mich erinnere, auch nicht ein Wort englisch mit Ihrer Frau Mama und Fräulein Kittie gesprochen.

Sie können es auch nicht, sagte Clementine leise. Wie denn? rief Eleonore erstaunt, aber so lesen sie es doch.

Auch das nicht.

Seltsam! dachte Eleonore; die Damen sprechen, lesen nicht englisch; und thaten, als ob sie in Gedanken wenigstens halb in England lebten.

Sie blickte Clementine fragend an, was ihr denn freilich nichts helfen konnte, da diese mit gesenkten Augen und mehr als vorher geröteten Wangen in sichtbarster Verwirrung dasaß.

Aber Sie selbst? fragte sie, um aus der fast peinlichen Pause herauszukommen. Sie sprechen es doch?

Ich? erwiderte Clementine mit einem schnellen, erschrockenen Augenaufschlage. Ich – sprechen? Ach, nein, sprechen kann ich es nicht – gar nicht; nur lesen; ich lese es schon seit dem zehnten Jahre.

Wie kam das? Bitte, erzählen Sie es mir!

Ich war zehn Jahre – ein wildes Ding – bitte, lachen Sie nicht! Ich war es wirklich – und wollte für Kittie im Garten Kirschen aus dem obersten Gipfel eines Baumes holen und that einen schweren Fall. Da habe ich über ein Jahr liegen müssen, um so aufzustehen, wie – wie ich jetzt bin. Es war eine traurige Zeit für mich, können Sie sich denken, und die Weile wurde mir so lang. Wir hatten einen Pastor auf dem Nachbardorf – einen alten, guten Mann – er ist nun schon lange tot –, der kam oft zu mir und saß stundenlang an meinem Bett; erzählte mir, wie Sie mir eben erzählt haben, und unterrichtete mich, damit ich doch nicht ganz und gar dumm wurde. Er war in seiner Jugend als Erzieher in England gewesen und liebte die englische Litteratur sehr. Eines Tages brachte er den Vicar of Wakefield mit und übersetzte mir, was er für mich passend hielt, aus dem Stegreife. Es wurde ihm nicht leicht – er fand auch sonst die Worte immer nur langsam – und es that mir leid, daß der alte Mann sich um meinetwillen so quälen mußte. Da fragte ich ihn, ob er mich nicht englisch lehren wolle, damit ich so schöne Sachen auch einmal für mich allein lesen könne. Das hat er denn gethan. Sie können denken, wie große Mühe ich mir gab, um ihm möglichst geringe zu machen. Nach vier Wochen konnte ich den Vicar lesen.

Das ist erstaunlich, sagte Eleonore.

Ist es? rief Clementine freudig. Ach, Sie sind zu gut. Und dann: es handelte sich ja nur um das Lesen. Das Sprechen hatte mein guter alter Pastor längst wieder verlernt, wenn er es je recht gekonnt, woran ich zweifle. Und, wie ich schon sagte, er starb schon ein paar Jahre später. Da habe ich in der vielen, vielen Zeit, die ich hatte – ich war noch oft krank, auf Wochen und manchmal Monate im Zimmer, meistens im Bett – jetzt geht es mir besser – ja, da habe ich immer so fort gelesen, was ich mir eben verschaffen konnte – alles durcheinander – Romane, Gedichte, Historisches, sogar theologische Bücher. Aber Romane und Gedichte waren mir natürlich das Liebste, besonders Gedichte. Ich meine, es kann keine Sprache auf der Welt geben, in der sich so schöne Gedichte machen lassen, wie in der englischen.

Und wer ist Ihr Lieblingsdichter?

Früher waren es Lord Byron und andre; jetzt ist es Robert Browning.

Er ist nicht leicht zu lesen. Sie kennen vermutlich nur seine kleineren, in einem Bande gesammelten Gedichte?

Hat er noch mehr geschrieben?

O, eine lange, lange Reihe Bände, die wundervolle Sachen, aber auch manch seltsam krauses Zeug enthalten.

Wie gern ich die läse!

Dazu kann Rat werden. Ich besitze den ganzen Browning in einer prachtvollen englischen Ausgabe und so vieles aus der neuen und älteren Litteratur – eine ganze, große Kiste voll. Ich muß nur nicht vergessen, morgen, ehe wir reisen, an meine Tante –

Weshalb lachen Sie?

Weil ich noch immer nicht weiß, wohin wir morgen reisen werden. Ihre Frau Mama hat mir den Namen der Stadt genannt, in deren Nähe Ihr Gut liegt – ich habe alles total vergessen.

Clementine nannte die Stadt, die aber nur ein ganz kleines Landstädtchen sei. Der Name unsres Gutes, fuhr sie fort, ist Seehausen; und es liegt auch wirklich an einem See.

Und wo auf der Karte von Deutschland – denn Deutschland ist es doch wohl? – hat man Stadt und Gut und See zu suchen?

Bevor Clementine antworten konnte, wurde die Flurglocke laut gezogen.

Die Mama und Kittie! rief Clementine.

Die freudige Erregung, die während der ganzen Unterredung ihr Gesicht belebt und verschönert hatte, war urplötzlich verschwunden; sie sah auf einmal um zehn Jahre älter aus.

Armes Mädchen! dachte Eleonore, während die Generalin und Kittie in das Zimmer rauschten.


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