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Viertes Kapitel.

Frau Johansen hatte bereits zweimal die Kanne mit heißem Wasser vor der Kammerthür ihres Gastes wechseln müssen, bis sie ihn endlich aufstehen hörte und, anklopfend, fragen durfte, ob der Herr Baron nicht heute ausnahmsweise ein paar Eier zum Frühstück wünsche? Die Antwort fiel zu ihrer Befriedigung bejahend aus, und Ulrich fand, als er sein Zimmer betrat, sein Morgenmahl bereit. Neben dem Theebrett lag ein Brief – von Hertha. Er las ihn, während er seine erste Tasse schlürfte. Seit den zehn Jahren ihrer Ehe hatte er vielleicht ebensoviele Briefe von seiner Frau erhalten. Welche Ursache hätten sie gehabt, einander zu schreiben, da sie fast beständig beisammen waren? Dieser war genau wie seine Vorgänger: knapp und kurz, als hätte die Schreiberin Eile gehabt, fertig zu werden, nachdem sie kaum begonnen, und kühl, wie jemandes, dessen Herz bei dem Schreiben nicht im mindesten beteiligt ist: zu Hause stehe es beim alten, nur daß am Montag die Roggenernte begonnen habe, die sich nicht länger habe hinausschieben lassen, da der Weizen in den letzten heißen Tagen stark ins Reifen gekommen sei. Er möge aber darum nicht eine Stunde früher nach Hause kommen, wenn sie auch nach seinen Briefen annehmen müsse, daß ihm der Aufenthalt an der See nicht viel helfen werde. Indessen, er sei einmal da, und so möge er aushalten, vielleicht komme die gute Wirkung nach. Ihr gehe es gut, wie immer, desgleichen den Kindern. Helene habe in der vergangenen Woche etwas Katarrh mit Fieber gehabt, und sie gefürchtet, es möchte Scharlach werden; jetzt sei sie wieder zuwege. Er dürfe nicht vergessen, wenn es regnete oder sonst schlechteres Wetter wäre, das wollene Unterzeug anzuziehen, das sie ihm nachgeschickt habe. Dazu dann »tausend Küsse«, eine Wendung, mit der sie ihre Briefe regelmäßig schloß.

Ulrich hatte die Briefe seiner Frau niemals kritisiert; heute zum erstenmal fiel ihm auf, daß ihr Stil so ungelenk war wie die Handschrift. Einzelne Worte kehrten beständig wieder; von einem regelrechten Satzbau konnte kaum die Rede sein, von Interpunktion noch weniger: ein Mädchen, das eben vom Lande in die Pension gekommen, mochte so schreiben. Freilich! bei ihrem Mangel an Uebung! Und dann: sie suchte auch im Sprechen nicht nach feinen Wendungen, weshalb sollte sie es beim Schreiben thun? Und die Kühle des Briefes! Wer konnte besser wissen, als er, wie warm ihr Herz für ihn schlug, so daß die Kinder selbst sich mit einem Pflichtteil von Liebe begnügen zu müssen schienen. Was ja wieder nur ein Schein war bei ihr, die sich für jedes sorgte und quälte und über all der quälenden Sorge nie zum rechten Genuß ihres Mutterglückes kam. Und auch sonst nicht zum Genuß des Lebens, an dessen Horizont für sie beständig Wolken heraufzogen, mochte der Himmel über ihr noch so hell erglänzen.

Ulrich starrte vor sich hin, während er zwischen der ersten und der zweiten Tasse diesen Betrachtungen nachhing. Sie kamen ihm nicht zum erstenmal. Wie oft hatte er im stillen diese melancholische Disposition Herthas beklagt! wie oft ihr freundlich zugesprochen, doch auch für die Sonnenseiten des Daseins Blick und Anerkennung zu haben! Nur gesellte sich dazu heute ein weiterer Gedanke: er war von Haus aus kein trübsinniger Mensch, er war es erst im Laufe der Jahre geworden. Er hatte es allmählich über sich kommen fühlen, wie den drückenden Einfluß der schwülen Hitze gestern, unter der er zuletzt ersticken zu müssen gemeint hatte, bis – ah!

Er sprang vom Sofa auf und trat an das Fenster, das er aufstieß. Da strömte ihm die reinste, kraftvollste Luft entgegen, die er mit vollen Zügen einsog, und droben blaute der klarste Aether, in dessen unergründlichen Tiefen sich der Blick verlor. Das war das Bild des Lebens, nach dem er sich alle diese Jahre gesehnt, wie der Wanderer der Wüste nach dem Rieseln der Quelle; des Lebens, dessen wahrhaftiges Sein sich ihm gestern offenbart, als er sich gegen die Wut des Orkans mit Aufbieten aller seiner Kraft stemmen mußte, um das wankende Mädchen in seinen Armen halten zu können. Und ihre Blicke ineinander ruhten – für einen Moment – einen Moment, den er nie wieder vergessen würde – nie! so wenig wie Paulus den, an welchem ihm der Herr erschien auf dem Wege nach Damaskus –

Als Frau Johansen eine Viertelstunde später das Zimmer betrat, hatte der Herr Baron bereits die Theesachen eigenhändig beiseite geschoben und schrieb eifrig – »er wird der lieben Frau von dem Sturm gestern erzählen,« sagte Frau Johansen bei sich. Das that denn auch Ulrich wirklich mit Ausführlichkeit und einem stilistischen Schwung, den gegen die Nüchternheit des Briefes seiner Frau auszuspielen ihm völlig fern lag. So wenig wie die freundlich-liebevollen Worte, mit denen er ihre obligaten »tausend Küsse« erwiderte. Dennoch, als er den Brief wieder überlas, kam ihm die Schilderung des Abenteuers recht farblos vor. Er hatte es ganz, wie es sich zugetragen, erzählen wollen. Aber als er nun Eleonore in Scene setzen mußte, wie er sie, aus den Dünen auftauchend, über sich auf dem Vorsprung zeichnend erblickte, hatte er die Feder niedergelegt und nach kurzen. Besinnen zu sich gesagt: »Laß das! Hertha würde es nicht verstehen. Sie hat eine tiefinnere Abneigung gegen alles, was außerhalb des gewöhnlichen Weges sich umtreibt. Zumal gegen außergewöhnliche Frauen. Zehn gegen eins: sie würde in ihr eine Abenteurerin wittern. Es ist lächerlich; aber es ist so. Laß das!«

Und er hatte es gelassen, dafür hinzugefügt, daß er in den letzten Tagen doch die heilsame Wirkung des Aufenthaltes an der See zu spüren beginne und möglicherweise noch um Nachurlaub Einkommen werde, den guten Fortgang der Roggenernte und der übrigen häuslichen Dinge vorausgesetzt.

Damit schloß er den Brief und sah nach der Uhr. Es war bereits elf. Sollte es die rechte Zeit sein zu dem Besuch bei einer Dame? Er hatte so gar keine Erfahrung für diesen Fall. Aber bis er sich besuchsmäßig angezogen und mit dem Brief den Umweg bis zur Post gemacht, würde es zwölf werden. Das würde wohl nicht zu früh sein.

So war es denn wirklich beinahe zwölf geworden, als er im breiten Schatten des Kirchturms stand und nach dem Häuschen hinüberspähte, in welchem sie wohnte. Bis dahin hatte er bei dem Gedanken, sie wiedersehen zu sollen, nur ein wohliges Gefühl gehabt, wie ein Schulknabe, der in die Ferien geht; plötzlich schlug ihm das Herz, als ob, was er vorhabe, etwas besonders Wichtiges und Entscheidendes sei. Das war ja lächerlich! Die Erfüllung einer einfachen Höflichkeitspflicht! Aber wenn sie seinen Besuch nicht höflich, sondern aufdringlich fand? oder meinte, er wolle sich den Dank für das Wiederbringen der Mappe holen, woran doch seine Seele nicht dachte? Thäte er nicht besser, umzukehren und es dem Zufall zu überlassen, ob er ihr noch einmal begegnen solle oder nicht?

In diesem Moment erschien in der oberen offenen Hälfte der Hausthür die vierschrötige Gestalt der Wirtin, die denn alsbald auch die untere Hälfte aufklinkte und in das Gärtchen hinaustrat, wo sie sich bückte und sich mit den Blumen, oder was es sonst war, zu schaffen machte. Ulrich durfte eine so günstige Gelegenheit nicht vorübergehen lassen. Die Frau, als sie das Gatterpförtchen hörte, richtete sich aus ihrer gebückten Stellung auf, warf einen prüfenden Blick auf den Eindringling, den sie sofort wiedererkannt haben mußte: etwas wie ein Lächeln flog über ihr breites Gesicht, und sie kam auf ihn zu, in der linken Hand ein Büschel Reseda, während sie ihm die fleischige Rechte zum Gruß reichte. Der freundliche Empfang schien Ulrich ein gutes Zeichen; mit leidlicher Ungezwungenheit brachte er seine Frage nach dem gnädigen Fräulein vor. Das Fräulein war vor zehn Minuten baden gegangen und würde gewiß sehr bedauern, den Herrn verfehlt zu haben. Die Mappe, die sie ihr gestern abend sogleich aufs Zimmer gebracht, habe ihr große Freude gemacht, und sie habe sich gar nicht erklären können, wie der Herr in stockfinsterer Nacht den Weg zu dem Badekarren gefunden. Auch habe sie heute morgen einen Brief an den Herrn geschrieben, den Nantje, sobald sie aus der Schule käme, zu ihm bringen sollte. Nantje sei noch nicht zurück; so liege der Brief noch drinnen auf dem Tisch. Da könne ihn der Herr ja gleich an sich nehmen.

Ulrich protestierte; die Eifrige ließ sich nicht irre machen, ging in das Haus und kam alsbald mit einem Billet wieder, das Ulrich erst nicht nehmen wollte, dann aber doch nahm, nachdem er sich überzeugt, daß es sorgfältig geschlossen war und auf dem Couvert sein voller Name stand in einer schönen, runden, englischen Hand. Er wußte mit Bestimmtheit, daß er sich Fräulein Ritter nicht Baron, sondern nur Ulrich von Randow genannt hatte; aber wozu gab es denn Kurlisten? Die Frau, die sich inzwischen als Frau Nilsen und nebenbei als Schwester seiner eigenen Wirtin vorgestellt – die Aehnlichkeit war allerdings auffallend genug –, schien ein wenig erstaunt, daß der Herr das Billet, anstatt es sofort zu lesen, hastig in der Brusttasche seines Rockes verschwinden ließ, aus der er dann ein Portefeuille nahm und ihr eine Visitenkarte überreichte mit der Bitte, sie dem gnädigen Fräulein auf den Tisch zu legen.

Ja, das will ich, sagte Frau Nilsen, und will sie neben die Reseda legen, die ich vorhin gepflückt habe. Die hat sie so gern, und allemal, wenn sie aus dem Bade kommt, findet sie einen frischen Strauß auf ihrem Tisch. Wir haben ja genug davon.

Sie deutete auf ein Resedabeet in der Ecke des Gärtchens, das dichtgedrängt voll blühender Büsche stand und mit seinem süßen Duft die sonnige, mildwarme Luft durchwürzte. Ulrich fühlte sich so angeheimelt; er hätte noch lange mit der guten Frau weiterplaudern, manche Frage an sie richten mögen: ob das gnädige Fräulein erst vor kurzem gekommen sei? wie lange sie zu bleiben gedenke? ob sie regelmäßig des Abends in den Dünen zu zeichnen pflege? wo sie zu Mittag speise? Aber er wollte um alles nicht indiskret sein, und das Billet da in seiner Tasche brannte ihm förmlich auf dem Herzen. Um keinen Preis hätte er es hier und jetzt gelesen. So reichte er denn Frau Nilsen nochmals die Hand; bat sie, ihn dem gnädigen Fräulein zu empfehlen, klopfte noch schnell Nantje, die aus der Schule kam, die rundliche Wange und machte sich eilends davon unter der Entschuldigung, daß es die höchste Zeit für ihn sei, sein Bad zu nehmen.

Aber kaum war er in das Seitengäßchen eingebogen, das von dem kleinen Platz vor der Kirche nach den Dünen führte – es wahr dasselbe, das er gestern abend mit ihr gegangen – und hatte sich überzeugt, daß niemand ihn beobachte, als er das Billet hervorzog, öffnete und las:

»Werter Herr!

Eine wie große Rolle auch der Zufall im menschlichen Leben spielt, so ist doch auf ihn kein Verlaß. Ich möchte deshalb nicht warten, bis es ihm beliebt, mir eine zweite Begegnung mit dem Manne zu verstatten, der sich gestern meiner so ritterlich angenommen und sich, damit nicht zufrieden, die heroische Extramühe gemacht hat, im Graus der Sturmnacht meine Unglücksmappe dem Untergang in den Wellen zu entreißen, den sie so reichlich verdient hätte. Ich bin kein Dichter und kann kein ›Lied vom braven Mann‹ singen, sondern Ihnen nur in schlichter Prosa, darum aber nicht minder herzlich, für Ihre große Güte danken. Sollte der Zufall seine kapriziöse Hand nicht wieder für mich aufthun, so ist dafür gesorgt, daß ich eine Begegnung, die unter so merkwürdigen Umständen stattfand, nicht vergessen werde.

Nochmals innigen Dank!

Eleonore Ritter.«

Ulrichs erste Empfindung war, das Blatt, auf dem die kleine Hand geruht, die er gestern so gern geküßt hätte, an seine Lippen zu drücken. Aber da kamen gerade ein paar Herren von der Dünenseite her in das Gäßchen hinein; er setzte, das Billet wieder einsteckend, seinen Weg fort, froh, einer Regung nicht gefolgt zu sein, die ihm nun knabenhaft dünkte. Jedenfalls schickte es sich nicht für den verheirateten Mann, in verliebte Ekstase zu geraten, weil eine Dame ihm für einen Dienst, den er jeder andern auch geleistet haben würde, ein paar freundliche Dankeszeilen geschrieben. Und wenn er vorhin Hertha das kleine Abenteuer verschwiegen hatte, so war es doch aus einem Grunde geschehen, dessen er sich nicht zu schämen brauchte; dies zu verschweigen hätte er einen weniger unverfänglichen Grund gehabt. Ueberdies, für sie war zweifellos mit dem Briefchen der Handel zu Ende: »sollte der Zufall seine kapriziöse Hand nicht wieder aufthun« – das hieß doch klärlich: Ich werde dem Zufall nicht vorgreifen und nehme an und wünsche, daß dies auch Ihrerseits nicht geschieht.

Es ist auch besser so, sprach Ulrich bei sich.

Nichtsdestoweniger war ihm plötzlich, als scheine die Sonne weniger hell, und förmlich körperlich fühlte er, wie sich die alte gewohnte Schwere wieder um sein Herz legte. Er wollte den Druck von sich schütteln; es gelang nicht.

Auch das prachtvolle Bad das er nun in den mächtig heranrollenden, von Sonnenschein überglänzten Wogen der Hochflut nahm, gab ihm das Frohgefühl von gestern abend und heute vormittag nicht zurück. An den köstlichen Schwebetraum der Nacht mochte er gar nicht denken.

So etwas passiert einem einmal und nicht wieder, sprach er bei sich. Oder es können Jahre darüber vergehen, so viele, wie von deiner Kindheit bis jetzt. Und darüber wirst du ein alter Mann. Recht betrachtet, bist du es bereits schon jetzt. Wie wäre es auch anders möglich gewesen bei dem Leben, das du geführt hast, dem öden Einerlei, in welchem ein Tag genau so aussieht, wie der andre, es mag nun Sommer oder Winter sein! Und in dem kein Zufall vorkommt! Niemals! Es ist kein Verlaß auf ihn, sagt sie. Mag sein. Gewiß. Aber schön, unsäglich schön ist es doch, wenn so ein Zufall einmal in die Alltagsschwüle hereinbricht, wie gestern abend der Sturm. Großer Gott, wie viele deiner miserablen Alltagstage wiegen so ein paar grandiose Sturmstunden auf!

Während er nach dem Bade zwischen den anderen Herren auf dem sonnigen Strande seinen einsamen Spaziergang machte, redete sich Ulrich immer tiefer in diese melancholische Stimmung hinein. Gegen seine Gewohnheit stieg er zur »Giftbude« hinauf und ließ sich ein Glas Wein geben, um bei ihm, an einem der Fenster sitzend und auf das bewegte Meer starrend, weiter zu brüten. War es nicht das beste, wenn er den trostlosen, nichtsnutzigen Aufenthalt hier Knall und Fall abbrach und sich zu Hause um seine Roggenernte kümmerte? Pasedag freilich wußte genau Bescheid und würde die Sache gerade so gut machen, wie er selber. Oder auch besser. Wozu war er denn eigentlich auf der Welt? Die Kinder! Nun, nach Menschengedenken war für sie gesorgt, und nach ein paar Jahren hätten sie ihn doch sicher vergessen. Hertha! Freilich! ihr war er viel und, wie sie sagte, alles. Aber das redete sie sich schließlich nur so ein. Einem andern Menschen alles zu sein, wenn man sich selbst so wenig ist, das ist, bei Licht besehen, ein lächerlicher Widerspruch. Und sie war eine Seele, die aus dem Leben ihre Kraft sog, das sich so weiter fortspinnt, mag der, der einem alles ist, leben oder tot sein. Sie würde das Leben dann vielleicht noch etwas schwerer nehmen. Vielleicht auch nicht: ihrer größten Sorge, ihrer ewigen Angst – der Sorge und Angst um ihn wäre sie dann ledig gewesen.

Ein paar Herren am Nachbartisch, die über ihrem Porter immer lärmender wurden, schreckten den Brüter auf. In seiner einsamen Ecke bei Otterndorf würde ihn niemand stören. Auch war seine Mittagsstunde gekommen. Nach Tische wollte er sich wieder das mörderische Gewehr holen, das er heute morgen zum Reinigen dem kupfernasigen Schmied zurückgeschickt hatte, und so weit über die Weiße Düne hinausschweifen, als er noch Sand unter den Füßen fühlte. Darüber konnte es später Abend werden. Die Nacht würde wohl ebenfalls hingehen, wenn auch ohne Schwebeträume. Und morgen früh wollte er fort. Unbedingt.


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