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Zehntes Kapitel.

Verzeihung, sagte Hertha noch einmal, auf sie, die sich von dem Schreibtisch erhoben hatte, mit ausgestreckter Hand zukommend. Ich hätte gestern schon um die Erlaubnis gebeten; aber man sagte mir unten, daß Sie unwohl seien. Ich würde Sie hernach wohl gesehen haben, aber ich hätte vielleicht nicht die Zeit gefunden, Ihnen zu danken, – von ganzem Herzen zu danken.

Wofür, gnädige Frau? sagte Eleonore.

Sie hatte Hertha den bequemeren Sessel, von dem sie aufgestanden war, geboten und sich einen Stuhl herangerückt. Hertha hatte sich bei ihrer in kühlem Ton vorgebrachten Frage entfärbt. Eleonore schlug das Gewissen. Welchen Sinn hatte es, diese Frau, die immer freundlich zu ihr gewesen, die jetzt wieder in offenbar guter Absicht zu ihr gekommen war, entgelten zu lassen, daß sie zwischen ihr stand und ihrem Glück? dem Glück, auf das sie verzichtet hatte!

Ich bitte, verzeihen Sie mir! sagte sie, bevor Hertha noch antworten konnte; mein Gemüt ist durch das, was ich in diesen Tagen erlebt – und erlitten habe, sehr verdüstert. Es wird mir schwer, Freund und Feind zu unterscheiden. Ich sollte wissen, daß Sie das letztere nicht sind.

Nein, erwiderte Hertha, wirklich, das bin ich nicht. Sie haben an meiner verstorbenen Schwester so gut gehandelt! Das hat mir den Mut dazu gegeben.

Wozu, gnädige Frau?

Hertha errötete leicht und strich über eine Falte ihres Trauerkleides.

Ich bin gekommen, Sie um einen großen Dienst zu bitten.

Der worin bestände, gnädige Frau?

Hertha strich weiter an der Falte und fuhr, immer mit niedergeschlagenen Augen, fort:

Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, daß mein Mann nicht so – nicht so frisch ist, wie – wie zu wünschen wäre. Er hat sich deshalb auch versagen müssen, zur Beerdigung hierher zu kommen – vielleicht noch auf den Friedhof. Doktor Balthasar und ich, wir dringen schon lange in ihn, Wirtschaft Wirtschaft sein zu lassen, sich eine Zerstreuung zu gönnen, eine Reise zu machen oder so was. Er hat immer nicht gewollt; jetzt sieht er ein, daß wir recht haben. Wir wissen noch nicht, wohin wir gehen werden – ich habe einen der italienischen Seen oder die Riviera vorgeschlagen, weil es doch schon so spät im Jahre ist. Mir ist ganz gleich, wohin – ich kenne das eine so wenig wie das andre – wenn ich nur meinen Mann herausbringe. Die Schwierigkeit ist nur, was unterdessen aus den Kindern werden soll. Von Mitnehmen kann keine Rede sein – dazu sind sie noch zu jung, und es würde auch so keine Erholung für meinen Mann. Kinder sind zu Hause immer am besten aufgehoben, vorausgesetzt, daß sie unter guter Aufsicht bleiben. Mademoiselle Didier hat manche gute Eigenschaft, aber die rechte Person dafür ist sie doch nicht. Ich hatte an Clementine gedacht – sie würde es ja gern gethan haben. Es hat nicht sein sollen. Nun sagte mir Mama gestern, daß Sie fort wollten – zu Ihrer Tante in Berlin. Ich – Sie verzeihen mir, wenn ich ganz aufrichtig bin – habe das nur für einen Vorwand gehalten – ich meine das mit der Tante –, um überhaupt nur fortzukommen. Ich verstehe das ganz gut; ich habe meiner Zeit auch keinen andern Gedanken gehabt. Wenn Sie nun zu mir kämen?

Erst bei diesen letzten Worten hatte Hertha die Augen aufgeschlagen, einen prüfenden Blick auf Eleonore zu werfen. Der Ausdruck, dem sie begegnete, schüchterte sie ein. Eine Antwort, die sie erwartete, kam nicht. So blieb ihr nichts übrig, als fortzufahren.

Ihnen würde ich so gern die Kinder anvertrauen, Sie sind – ich darf es wohl sagen – gutartig und würden Ihnen nicht allzu viele Mühe machen. Helene, gegen die ich ein Wort habe fallen lassen, ist außer sich vor Freude, daß Sie kommen. Ich bin überzeugt, sie wünscht nichts sehnlicher, als daß ich nur erst fort bin. Nicht wahr, ich brauche Sie nicht zu versichern: ich betrachte es nur als eine große Gefälligkeit, wenn Sie kommen und mir die Sorge abnehmen wollten. Es brauchte ja auch nicht bloß während der Zeit, daß wir fort sind, zu sein. Im Gegenteil! Je früher Sie kämen, je besser wäre es, damit Sie sich schon eingewohnt haben, wenn wir gehen. Am liebsten nähme ich Sie gleich heute mit mir. Aber wenn es Ihnen paßt. Und so lange es Ihnen paßt – das versteht sich. Und je länger, je lieber. Bitte, bitte, sagen Sie ja!

Sie hatte die Hand ausgestreckt, die Eleonore aber nur flüchtig berührte. Der Ausdruck in ihrem Gesicht, der Hertha vorhin schon nicht gefallen hatte, war noch düsterer geworden, und die sonst so weiche und doch klare Stimme klang eigentümlich verschleiert und rauh, als sie jetzt fragte:

Ich darf annehmen, daß Sie im Einverständnis – im vollen Einverständnis mit Ihrem Herrn Gemahl zu mir gekommen sind?

Aber das ist doch selbstverständlich, liebes Fräulein! erwiderte Hertha verwirrt.

In der That! sagte Eleonore.

Eine Pause entstand. Eleonores Pulse klopften. Gleichviel! Mochte die andre zusehen, wie sie es fertig brachte, zu erklären, was nur eine Erklärung hatte: diese Frau wußte alles! Von wem sollte sie es wissen, als von ihm! Und die dann erfolgte Aussöhnung war eine vollständige gewesen! Diese projektierte Reise, die sich zu einer Hochzeitsreise gestalten würde; diese Röte, die auf die kürzlich noch so bleichen Wangen zurückgekehrt war; diese triumphierende Freude an einem Tage der Trauer in den Augen, die noch vor ein paar Tagen so hohl und verzweifelt geblickt hatten – es waren der Beweise genug und zu viel. Und hätten sie es doch unter sich abgemacht! Es war ihr recht. Aber zu ihr zu kommen und es ihr ins Gesicht zu sagen und sie einzuladen, Zeuge der neuen entente cordiale zu sein – sie fand es schamlos.

Ich will ganz offen sein, begann Hertha von neuem mit unsicherer Stimme. Nein, mein Mann war mit meinem Vorschlage nicht einverstanden. Er meinte, Sie würden nicht kommen. Aber wenn Sie nun doch kämen, so bin ich überzeugt –

Weshalb meint Ihr Herr Gemahl, daß ich nicht kommen würde? unterbrach sie Eleonore.

Mein Gott, rief Hertha, die zu ihrem Schrecken sah, daß hier kein Ausweichen mehr war, Sie dürfen es mir – uns beiden auch nicht zu schwer machen. Zuerst, ich schwöre es Ihnen: ich weiß es nicht von meinem Mann. Ein Herr von Odebrecht – Sie kennen ihn nicht – er ist ein Jugendbekannter von Ulrich, aber sie stehen sich sehr schlecht. Er hat Sie zusammen auf Norderney gesehen und es mir auf dem Seefeste gesagt. Mein Mann stellt es nicht in Abrede, leugnet gar nicht, daß er sich sehr für Sie interessiert hat – ich finde es ja so begreiflich. Ueberhaupt – mein Gott! – so etwas kann doch am Ende vorkommen; aber es läßt sich wieder ins Gleiche bringen, wenn man nur den guten Willen dazu hat. Ich habe ihn – weiß es Gott! und mein Mann hat ihn, und ich kann mir nicht denken, daß Sie ihn nicht auch haben sollten. Ich begreife ja jetzt – anfänglich verstand ich es nicht und war empört –, daß mein Mann mir alles verschwiegen hatte; und gewiß, es wäre besser gewesen und hätte uns viel Kummer erspart, wenn er zu mir gekommen wäre und hätte gesagt: sieh, Hertha, so und so! Nachdem er einmal ein Geheimnis für mich daraus gemacht, was konnten Sie thun, als ebenfalls schweigen, wenn auf Norderney die Rede kam? Nun ist es aber herum oder kommt doch herum, denn ich habe Herrn von Odebrecht für seine häßlichen Reden nicht gerade freundlich behandelt – das können Sie sich denken. Und eben unten – im Vorübergehen – hörte ich von Kittie eine Aeußerung, die ich mir nicht anders deuten kann, als daß auch sie schon mehr weiß, als sie wissen dürfte. Wenn Sie nun zu uns kämen, so sähe doch alle Welt, daß an dem ganzen häßlichen Gerede nichts ist. Daran muß Ihnen doch auch gelegen sein – ich sollte meinen: so viel wie uns. Ich werde es meinem Mann schon begreiflich machen. Und was mich betrifft, ich sagte Ihnen schon und wiederhole es: ich hege keinen Groll gegen Sie. Sie haben mir viel Herzeleid bereitet, viele, viele Thränen gekostet; ich bin völlig verzweifelt gewesen; ich kann ohne Ulrich nicht leben; ich liebe ihn heute noch, wie ich ihn je geliebt habe, ja, hundertmal mehr. Aber wir sind ja nun wieder vollkommen ausgesöhnt, ich habe ihn ja wieder; und da wäre es gewiß schlecht von mir, wollte ich Ihnen nicht von ganzem Herzen verzeihen.

Wirklich? sagte Eleonore.

Hertha blickte, von neuem erschrocken, auf. Es hatte so schneidend herb geklungen, und derselbe Ausdruck lag auf Eleonores Gesicht. Es war bleich bis in die zusammengeklemmten Lippen; die feinen Nasenflügel zuckten; die Brauen berührten sich fast; unter den Brauen starrten die großen Augen, die völlig schwarz erschienen, trotzdem sie unheimlich funkelten.

Wirklich? wiederholte sie. Freilich, ich hätte Ihnen ums Haar den Gatten geraubt! Das wäre ein Kapitalverbrechen gewesen. Welche schnöden Künste muß ein Mädchen angewandt haben, bevor sie einem Manne, der zu Hause Frau und Kinder hatte, anziehend erschien, ihm wohl gar eine Leidenschaft einflößte? Denn daß es Künste waren, die sie spielen ließ aus lästerlicher Eitelkeit oder schändlichem Eigennutz – das liegt doch auf der Hand. Kann sie sich nicht begnügen, als einsames, armes Mädchen sich unter fremden Leuten durch die Welt zu drücken? Wie kommt sie zu der Frechheit, auch einmal geliebt sein zu wollen, einen Gatten haben zu wollen, der sie schützt, ein Haus, ihr Haupt ruhig niederzulegen, Kinder, sie an ihr Herz zu drücken, wie – die andre?

Sie war von ihrem Stuhle aufgesprungen und ging jetzt in dem Zimmer mit schnellen, ungleichmäßigen Schritten hin und her, die Arme unter dem wogenden Busen verschränkt, sich in den schlanken Hüften wiegend, daß die Schleppe ihres schwarzen Gewandes bald nach rechts, bald nach links raschelte. Hertha, die voller Bestürzung sitzen geblieben war, hatte den Eindruck, daß jene ihre Gegenwart so gut wie vergessen hatte und ihre leidenschaftlichen Worte weniger zu ihr als für sich selbst sprach.

Aber die andre! Sie ist im Besitz – der ist doch heilig! Zehn Jahre lang hat sie ihren Gatten lieben, drei Kinder hat sie ihm schenken dürfen – das will doch respektiert sein! Daß es der pure, blöde Zufall war, der sie in den Besitz brachte; daß, hätte der Mann vor zehn Jahren die Nebenbuhlerin gesehen und gekannt, diese heute an der Stelle stehen würde, wo die andre steht – in fiebernder Angst um den köstlichen Besitz, der ihrer ohnmächtigen Hand zu entgleiten droht – solche frevlen Gedanken muß man sich natürlich aus dem Sinn schlagen. Nun denn, ich habe es gethan; ich habe den Besitz heilig gehalten; ich habe das plumpe Recht der Jahre respektiert; ich habe nicht gesagt: ich kann ohne dich nicht mehr leben, obgleich es bei Gott keine Lüge gewesen wäre; habe nicht gedroht, daß ich Gift nehmen oder ins Wasser gehen würde, wenn er mich verließe; ich habe den Mann, den ich liebte und liebe mit erster, reiner, heiliger, allgewaltiger Leidenschaft, von meinem Herzen gerissen, an das er sich wie ein Verzweifelter klammerte; mein Ohr gegen sein Bitten und Flehen, gegen sein Drohen und Wüten geschlossen und ihn wieder zu seiner Gattin zurückgeschickt.

Sie war vor Hertha in der Entfernung von ein paar Schritten stehen geblieben, mit furchtbarem Hohn auf sie herabblickend.

Ja, gnädige Frau, zurückgeschickt! Es ist mir nicht leicht geworden. So etwas wird einem nicht leicht, wenn man weiß, daß es einen nur ein Wort kostet, den geliebten Mann zurückzuhalten. Und abermals nur ein Wort, ihn wieder zu seinen Füßen zu sehen. Sie glauben das nicht? Wollen Sie es darauf ankommen lassen? Soll ich das Wort sprechen? soll ich?

Mit jedem der wilden Worte, die Eleonore hervorschleuderte, hatte sich Herthas immer mehr die zermalmende Gewißheit bemächtigt, das sie hilflos in der Gewalt dieses Mädchens sei, es von seiner Gnade abhange, ob sie leben oder sterben solle. Mit einem Schrei der Verzweiflung war sie von ihrem Sessel aufgesprungen und hatte sich ihr zu Füßen geworfen, ihre Knie umklammernd.

Barmherzigkeit! wimmerte sie. Seien sie barmherzig!

Der Orkan, der durch Eleonores Seele gewütet hatte, war vertobt. Wie aus schwerem Traum erwachend, strich sie sich mit beiden Händen über Stirn und Augen, hob Hertha auf, zu sich empor; und sie mit den Armen umschlingend, ließ sie die Aermste sich an ihrem Busen ausweinen, Worte leise sagend, welche wie Balsam in das wunde Herz fielen:

Es kam so über mich – verzeihen Sie mir! – Nun ist es wieder gut – es wird noch alles gut werden – ich will alles wieder gut machen. Jetzt zu Ihnen kommen kann ich nicht – Sie werden das begreifen – später vielleicht, wenn wir alle wieder ruhiger sind. Ich will Ihre Freundin sein – und denken auch Sie von mir nicht schlecht!

O nein! nein! rief Hertha schluchzend. Wie könnte ich das! O, mein Gott, mein Gott! es ist mir jetzt so vieles klar geworden! Sie haben so schrecklich gelitten, leiden noch so schrecklich, und ich bin so schlecht, so grausam gegen sie gewesen! Sie wollen wirklich, wirklich meine Freundin sein?

Ja, ja!

Sie hatten sich geküßt und losgelassen, als in diesem Augenblicke an die Thür geklopft wurde.

Es war Elise. Die Frau Baronin und das Fräulein möchten doch schnell herunterkommen. Der Herr Pastor sei schon seit zehn Minuten da. Man warte nur auf die Damen.

Das Mädchen war wieder davongeeilt; Eleonore bat Hertha, hinab zu gehen; sie habe, da sie unmittelbar vom Friedhofe aus in die Stadt fahre, einiges vorher zu ordnen.

Ich habe noch eine große Bitte! sagte Hertha, sie an beiden Händen fassend. Wollen Sie mich fortan ›Hertha‹ und ›du‹ nennen? und mir erlauben, daß ich ›Eleonore‹ und ›du‹ sagen darf?

Eleonore nickte mit einem melancholischen Lächeln; Hertha hatte sie ein letztes Mal umarmt und geküßt, bevor sie das Zimmer verließ.

Eleonore war auf derselben Stelle stehen geblieben.

Nun habe ich ihn wirklich aufgegeben, murmelte sie.

Die Augen waren ihr so heiß, die Kehle wie zusammengeschnürt. Sie stampfte trotzig mit dem Fuß.

Was soll das? Hinunter mit den Thränen! – sie nutzen nichts. Seien wir praktisch! Arrangieren wir uns! Es ist die Losung des Tages.

Sie trat an den Tisch, nahm aus der kleinen Schreibmappe den Brief, den sie vorhin an die Gräfin geschrieben, riß ihn in zwei Stücke, die sie wieder in die Mappe legte, schob mit einem Ruck den Sessel heran und schrieb!

»Gnädige Gräfin! Ich kann für den Augenblick Ihre gütige Einladung nicht annehmen, ich muß nach Berlin. Wenn ich später einmal kommen darf, ich weiß, daß ich mich auf Ihr und Ihres Herrn Sohnes Zartgefühl verlassen kann, auch wenn Sie es für gut fänden, ihm das Folgende mitzuteilen, woran ich zweifle. Ich bin genau in der Lage des Mädchens, von dem Sie mir neulich erzählten. Ich habe geliebt, wahnsinnig, grenzenlos, und dieser Liebe entsagen müssen. Ich halte es für unmöglich, daß ich so jemals wieder lieben und einem andern Mann mehr bieten kann, als was nach einer solchen Liebe in einem nicht unedlen Herzen an freundschaftlichen Empfindungen übrig bleibt. Ob diese Empfindungen und die Versicherung, die jenes Mädchen, von dem Sie erzählten, sich selbst gab und dem Manne, der dann ihr Gatte wurde, in unserm Falle es rechtfertigen, das Wort auszusprechen – jenes eine, das Sie von mir zu hören verlangten, und das mich für immer zu Ihnen zurückführen würde – ich überlasse es Ihrer Entscheidung. Sagen Sie, daß ich es darf, so will ich es hiermit ausgesprochen haben. Sagen Sie nein, so werde ich darum nicht weniger fortfahren, Sie wie eine Mutter zu ehren und zu lieben. – Eleonore.«

Sie faltete den kleinen Brief, steckte ihn in ihren Busen, trat vor den Spiegel, strich sich mechanisch über das Haar, zog ebenso die schwarzen Handschuhe an und ging hinab zu dem Flur, auf dem sie bereits durch die offene Thür, um welche sich die Dienstboten gedrängt hatten, aus dem Saale heraus die Stimme des Predigers vernahm. Dann stand sie im Saale in der Nähe der Thür mitten zwischen Herren in schwarzem Frack und schwarzen Binden, Der Prediger, von dem sie nur den grauen, in der Mitte geteilten Scheitel sah, sprach sehr lange und sehr salbungsvoll und laut; aber sie hörte nur den Schall der Worte, ohne einen Sinn damit verbinden zu können. Auch an die Tote im Sarge konnte sie nicht denken. Auf ihrem Hirn lag es wie Blei; die Menschen um sie her erschienen ihr schattenhaft, trotzdem sie sie deutlich sah.

Dann war sie in einer geschlossenen Kutsche an der Seite von Frau Besekow. Neben Herrn Besekow, ihr gegenüber, auf dem leeren Sitz lag ihre kleine Reisetasche, die ihr Elise in den Wagen gereicht hatte. Das Mädchen hatte geweint; auch Frau Besekow weinte, während Herr Besekow ein sehr betrübtes Gesicht machte. Sie konnte nicht weinen; sie war auch nicht betrübt; die seltsame Starrheit wollte nicht von ihrer Seele weichen.

Dann war sie auf dem Friedhof in einem großen Kreise schwarzgekleideter Damen und Herren, die das offene Grab umgaben, während der Prediger von dem niedrigen Erdhügel neben dem Grab abermals redete. Sie verstand wieder nichts. Und sah auch jetzt nichts mehr vor den bunten Flecken, die ihr vor den Augen tanzten, mit denen sie, ihr unbewußt, in die untergehende Sonne gestarrt hatte. Davon kann man blind werden, hörte sie ihren Vater sagen. Sie hielt ihn an der Hand, ein kleines Mädchen, oben auf dem Berge, auf dessen halber Höhe das Jagdschloß lag. Und sie blickten zusammen in die weite Landschaft, an deren Horizonte der rote Sonnenball schwebte, die Hänge der Hügel hier mit Purpur malend, dort der Herrschaft blauer Schatten überlassend, während aus der ferneren Ebene die Windungen des Flüßchens zwischen Weiden und Buschwerk zum Abschied rosig herüber und herauf grüßten.

Als sie, aus dem Traum erwachend, die geschlossenen Augen wieder öffnete, wünschte sie, sie hätte weiter träumen dürfen oder wäre im Traum erblindet. Aber sie träumte nicht mehr und sah ihn sehr deutlich – ihn an Herthas Seite, ihr gerade gegenüber, zwischen sich und ihm nur die Gruft, in die man zur ewigen Ruhe Clementine gebettet hatte, deren Herz gebrochen war über dem Schauspiel, das er und sie ihr geboten in der Laube beim Mondenschein.

Und während ihre Blicke, die sich begegnet waren, wie durch Magie gebannt, aufeinander geheftet blieben, vernahm sie die Worte des Predigers – jetzt zum erstenmale, als habe er bis dahin nur geflüstert und spräche plötzlich überlaut: Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel.

Wieder verdunkelten sich ihre Augen, diesmal von Thränen. Jemand führte sie vom Grabe weg: Guido. Sie hatte ihn vorher nicht gesehen; er hatte plötzlich neben ihr gestanden und ihren Arm genommen. Zwischen den andern Herrschaften gingen sie, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, den geraden breiten Weg, der auf die Ausgangspforte des Friedhofes mündete. Vor der Pforte auf der Landstraße fuhren die Wagen der Herrschaften einer nach dem andern vor. Gerade als sie aus der Pforte traten, war Ulrichs und Herthas Wagen an der Reihe. Ulrich half eben Hertha hinein. Zufällig noch einmal über die Schulter blickend, hatte Hertha sie gesehen, sprang von dem Tritt herab, auf sie zu, ihre Arme um sie schlingend, sie küssend, weinend ein paar Worte flüsternd, von denen sie nur: Hilf mir weiter! verstand. Hertha saß im Wagen, das Taschentuch in die Augen drückend, Ulrich an ihrer Seite, sich vor ihr und Guido, der ihr bereits wieder den Arm gereicht hatte, stumm verbeugend. Die Pferde zogen an; ein andrer Wagen war vorgefahren, dem die folgenden nachrückten – vorüber an ihnen, die auf dem schmalen Fußpfade, an der Friedhofsmauer hin, dem Ende der Reihe zuschritten, wo der Wagen des Herrn Besekow hielt, der sie in die Stadt bringen sollte. Herr und Frau Besekow, die den kurzen Weg durch die Felder nach Hause zu Fuß machen wollten, hatten sich schon an der Friedhofspforte von ihr verabschiedet.

Da war der Wagen, von dessen Bock herab der alte Jochen, der heute ausnahmsweise eine Art von Livree trug, den verschabten Hut mit der handgroßen, schwarzen Kokarde ehrfurchtsvoll vor dem Fräulein lüftete, das der Herr Graf am Arm führte.

Noch immer hatten sie kein Wort gesprochen. Guido hatte den Schlag für sie geöffnet, vor dem Blick der großen melancholischen Augen, die er auf sich gerichtet sah, verlegen die seinen senkend.

Graf Guido! sagte sie plötzlich.

Mein gnädiges Fräulein?

Ich muß Ihnen immer danken – heute wieder. Verzeihen Sie, daß ich erst jetzt ein Wort dafür finde. Es ist in diesen Tagen ein wenig viel auf mich eingestürmt; ich fühle mich sehr angegriffen und müde und verwirrt im Kopf. Ich weiß nicht einmal, ob es schicklich ist, Sie mit diesem Brief zu behelligen: an die Frau Gräfin – eine Antwort auf ihre Aufforderung, sie in Wendelstein zu besuchen. Sagen Sie ihr – aber das steht ja alles drin. Also, bitte, geben Sie ihr nur den Brief!

Guido hatte den Brief, den sie aus dem Busen gezogen, entgegengenommen und in die Seitentasche des Fracks gesteckt.

Haben Sie sonst keine Befehle für mich? fragte er mit zuckenden Lippen.

Nein, ich danke Ihnen!

Er hatte ihr die Hand gereicht, ihr in den Wagen zu helfen. Sie zögerte, der Aufforderung zu folgen, aber ohne seine Hand loszulassen.

So standen sie ein Weilchen.

Graf Guido –

Mein gnädiges Fräulein?

Es ist möglich oder wahrscheinlich, daß die Frau Gräfin meinen Brief beantworten wird, und nicht unmöglich, daß Sie sich veranlaßt finden, mir diese Antwort persönlich nach Berlin zu bringen. Lassen Sie sich in diesem Falle schon jetzt gesagt sein, daß Sie mir herzlich willkommen sein werden.

Guido errötete bis in die Stirn und wurde ebenso plötzlich wieder bleich.

O, mein Gott! murmelte er. Wäre es möglich – mein gnädiges Fräulein – Fräulein Eleonore –

Nein, nein, lieber Freund, unterbrach sie ihn hastig, nicht jetzt! nicht hier! Später vielleicht – in Berlin! Leben Sie wohl!

Sie war in den Wagen gestiegen, aus dem heraus sie ihm noch einmal mit schwermütigem, freundlichem Lächeln die Hand reichte, die er stürmisch wiederholt an seine Lippen drückte.

Dann stand er allein auf der Landstraße, dem Wagen nachblickend, der bereits in dem aufgewühlten Staub verschwinden wollte.

Eine Viertelstunde später konnte man Graf Guido auf seinem Rappen den Weg nach Wendelstein reiten sehen in einer Eile, als gelte es ein Königreich zu erjagen.

Aber alle Reiche der Erde würde er freudig dahingegeben haben für das, was jetzt endlich, endlich sein liebendes Herz zu hoffen wagte.


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