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Drittes Buch.

Erstes Kapitel.

Ulrich hatte Norderney verlassen in einem Seelenzustand, der an Wahnsinn grenzte. Vergebens, daß er sich wieder und wieder sagte, er selbst sei vierundzwanzig Stunden vorher entschlossen gewesen, sich aus dem Bann der Zauberin zu lösen und zu Frau und Kindern und seinen Geschäften zurückzukehren. Aber da hatte er nicht gewußt, daß seine Liebe erwidert wurde. Nun wußte er's. Er hatte sie in seinen Armen gehalten, ihr Busen hatte an seiner Brust gebebt, ihre Lippen hatten auf seinen Lippen gebrannt. Was hieß denn das, wenn nicht: jetzt sind wir eines, unlösbar verbunden? Und doch! Hätte sie den Entschluß, sich von ihm zu trennen, in einem Augenblick überspannter Erregung gefaßt und ausgeführt – das würde er zur Not begriffen haben. Aber so war es nicht gewesen; ihr Brief bewies es. Nicht losgerissen hatte sie sich von ihm! nein, losgelöst! mit geschickten zierlichen Händen eine Schlinge nach der andern gelockert, um dann mit anmutig resigniertem Lächeln und einem frommen Blick nach oben zu entschlüpfen!

Wohin?

Auch nicht die leiseste Ahnung sagte es ihm. Mit fieberhafter Spannung suchte er in seiner Erinnerung nach dem, was sie bei dieser, bei jener Gelegenheit über ihre persönlichen Verhältnisse geäußert. Es war sehr wenig: sie stand so ziemlich allein in der Welt, hatte keine Eltern mehr, Brüder und Schwestern nie gehabt. Ein paar Verwandte lebten ihr noch, aber wo? Ihm war, als habe sie Berlin genannt; es konnte ebensogut jede andere Stadt gewesen sein. Den Namen der Verwandten hatte er nie gehört oder doch vergessen. Mein Gott, er hatte ja nur in ihr gelebt, die zu ihm aus himmlischen Gefilden herabgeschwebt war! Wenn sie eine irdische Gefolgschaft hatte, was ging sie ihn an? Jetzt fluchte er seiner Gedankenlosigkeit, die ihm unfaßbar, völlig kindisch erschien und ihn zu der kläglichen Rolle eines Knaben im Märchen verdammte, der sich im Walde verirrt hat.

Und in ihrem Briefe keine Andeutung, die ihn hätte auf ihre Spur bringen können! Das war es! Es sollte keine Spur zu ihr führen; sie wollte nicht gefolgt, wollte von ihm befreit sein ein für allemal! Das war ihr Dank für seine abgöttische Liebe!

Nun brannte sein Herz in wildem Zorn. Er hätte den Brief, den er in der Brusttasche trug, zerreißen und die Fetzen in die Wellen schlendern mögen, die am Bug des Dampfers vorüberzischten; erwürgen, erdolchen hätte er sie mögen, die schöne Zauberin, die lachend mit der Seele, die sie ihm gestohlen, davongeflohen war!

Oder heischte sie noch einen Dank dafür, daß jetzt nicht zu geschehen brauchte, was hätte geschehen müssen, wäre sie geblieben? Aber mußte es nicht trotzdem geschehen? Wie konnte er jetzt noch zurückkehren zu der Ahnungslosen? sie in seine Arme schließen mit der Liebe zu der andern im Herzen? Oder ihr sagen, wie es um ihn stand, und sie aus dem Himmel ihres Vertrauens in die Hölle der Verzweiflung stürzen? Das eine war so unmöglich wie das andre; und ein drittes, einen Ausweg aus dem schaudervollen Dilemma, gab es nicht.

Es hätte denn der sein müssen: da hinab in die graublaue Tiefe. Er konnte sich ja zu weit über den Bord gelehnt und das Gleichgewicht verloren haben. Der Dampfer ging jetzt, aus dem Wattenmeer heraus, mit voller Geschwindigkeit. Ehe man stoppte und zu der Stelle zurückkehrte, wo er versunken war, mußten im besten Falle zehn, fünfzehn Minuten vergehen; und daß er lebend nicht wieder an die Oberfläche kam, war seine Sache.

Seine scheuen Blicke schweiften über das Verdeck: es wimmelte bei dem prachtvollen Wetter von Passagieren. Ein Herr, der eine bereits in Norderney angeknüpfte flüchtige Bekanntschaft an Bord erneuert hatte und ihm kaum von der Seite gewichen war, trat abermals an ihn heran: er habe eben in der Bremer Zeitung von einem furchtbaren Hagelschlage gehört, der besonders den östlichen Teil von Pommern vor einigen Tagen heimgesucht haben solle. Ob der Herr Baron etwas Genaueres darüber wisse? Es interessiere ihn sehr wegen eines Bruders, der Kornhändler sei und in jener Gegend seine Haupteinkäufe zu machen pflege.

Ulrich erwiderte, daß in den letzten Briefen, die er von zu Hause gehabt, nichts von der Sache gestanden habe; die Briefe seien allerdings wohl von älterem Datum. Der Herr, der froh war, einen neuen Gesprächsstoff gefunden zu haben, fuhr fort, über Kornhandel, Kornzölle, russische und amerikanische Konkurrenz und einschlägige Themata zu sprechen, die ihm, als Besitzer eines großen Mühlenwerks bei Frankfurt an der Oder, sehr geläufig waren, und über welche er die Ansichten des pommerschen Großgrundbesitzers gern gehört hätte. Ulrich konnte ohne grobe Unhöflichkeit nicht ausweichen; ja, als Herr Lohbrecht schließlich den Vorschlag machte, angesichts von Bremerhaven, das immer deutlicher aus dem Wasser auftauchte, eine gemeinschaftliche Flasche Sekt auf die glückliche Beendigung des Badeaufenthalts und gutes Gedeihen der Kur zu trinken, ging er auch darauf ein. Es war immer noch besser, als in das Wasser zu starren mit dem Wunsch, da unten zu liegen, wenn man nicht den Mut hatte, dem Wunsche die That folgen zu lassen.

Bereits in Bremerhaven war es Ulrich geglückt, sich von dem redseligen Mühlenbesitzer loszumachen. Während der Weiterfahrt hatte er über einen Brief gesonnen, in welchem er Hertha die volle Wahrheit eingestehen wollte, aus der dann der Schluß, daß ein weiteres Zusammenleben zwischen ihnen zur Unmöglichkeit geworden sei, von selbst sich ergab. Noch heute abend sollte der Brief geschrieben werden. Es wurde sehr spät, bis man nach Bremen kam. Als er in seinem einsamen Hotelzimmer die Thür hinter sich abgeschlossen, packte ihn der Jammer seines Verlassenseins so fürchterlich, daß er sich auf den Teppich des Fußbodens warf und weinte und schluchzte wie ein Kind. Dann raffte er sich wieder auf, voll Scham über seine unmännliche Schwäche, und setzte sich an den Tisch, den Brief zu schreiben. Er hatte den Text so sicher zu haben geglaubt; nun konnte er nicht drei Worte davon zusammenbringen. In seinem Kopfe war es wüst und leer. Er trank ein paar Gläser Wein. Es wurde nicht besser. Dazu die Bleischwere in den Gliedern. Kein Wunder: die vergangene Nacht hatte er kaum eine Stunde geschlafen, und dann die lange Reise heute! Also morgen!

Dem Uebermüden brachte die Nacht keine Erquickung. Aus kurzem Schlummer schreckten ihn wirre, wahnwitzige Träume. Er strebte sie einzuholen, die vor ihm floh, und rang mit den Hindernissen, welche sich ihm auf Schritt und Tritt entgegentürmten. Bald waren es nächtliche labyrinthische Gassen, in denen er ratlos umherirrte; bald ein finsterer Urwald, dessen Schlingpflanzen sich um seine Glieder schnürten; bald ein altes vermodertes Schloß mit endlosen engen Korridoren und verfallenen Wendeltreppen. Endlich fand er sie doch in einem lauschigen dunklen Garten, in den von irgendwoher ein matter Lichtschein fiel, und dessen weiche Luft von Resedaduft ganz erfüllt war. Aber in dem Momente, als er ihren schlanken, elastischen Leib in seine Arme pressen wollte, wies sie mit einer Gebärde des Schreckens auf eine weibliche Gestalt, die in dem Lichtschein stand, bleich wie der Tod mit starren glasigen Augen, während aus den zuckenden Lippen ein Schrei brach wie einer Gemarterten, gell und gräßlich – und Ulrich saß im Bette aufrecht, in Angstschweiß gebadet, mit wildklopfendem Herzen, sich bewußt werdend, daß er selbst es gewesen, der den Schrei ausgestoßen.

Der Morgen fand ihn seelisch und körperlich einen Schatten seines sonstigen Ichs. Sein gestriger Vorsatz, Hertha schriftlich von dem Geschehenen zu unterrichten, erschien ihm heute als eine barbarische Feigheit, wie der Dolchstoß eines Meuchelmörders aus dem Dunkel heraus. Mußte es gesagt sein, so hatte sie das Recht, es aus seinem Munde zu hören.

Aber auch zu der Weiterreise, die ihn schließlich zu ihr gebracht hätte, fand er nicht den Mut. In diesem Zustande durfte er nicht vor sie treten. Erst mußte er wieder Herr seiner selbst sein, seine Haltung, seine Mienen, seine Worte in der Gewalt haben. Es würde auch dann noch an Furchtbarkeit nichts zu wünschen lassen.

Also irgend eine Ausrede, weshalb er, trotzdem er den Aufenthalt in Norderney abgebrochen, nicht zurückkehrte: er wolle nur gestehen, daß ihm das Bad – wenigstens vorläufig – nicht gut gethan habe, und er seine Hoffnung auf eine Nachkur setze, die er aber nicht zu Hause anstellen möchte, wo ihn die Arbeit sofort in Beschlag nehmen würde. Ueberdies sei die Gelegenheit, Bremen, wo er sich augenblicklich befinde, Hamburg, Lübeck, Kiel, vielleicht auch Kopenhagen kennen zu lernen, gar zu verlockend. So wolle er denn noch acht, vielleicht vierzehn Tage weiter in der Fremde leben, vorausgesetzt, daß die Nachrichten von Hause fortführen, gut zu lauten. Er werde regelmäßig schreiben, erbitte aber die Antworten nach den Etappen seiner Reise, die er angeben werde, poste restante, da er die betreffenden Hotels nicht kenne, noch wisse, wie lange er sich an den verschiedenen Orten aufhalten werde.

Es fiel ihm wie eine schwere Last von der Seele, als er diesen Brief in den am Hotel befindlichen Kasten gethan hatte. Eine Galgenfrist freilich nur, immerhin eine Frist. In der Geflissentlichkeit, mit der er Hertha über den Fortgang seiner Reise im ungewissen gehalten, sah er nichts Entwürdigendes, sondern einfache Notwehr. Wußte er doch, daß sie, sobald er einen bestimmten Aufenthaltsort angab, sich auf die Reise begeben würde, um die nun erregte Sorge zu beschwichtigen oder ihm, falls es not that, Hilfe zu leisten. Und der Gedanke, sie so plötzlich vor sich zu sehen mit ihrer liebevollen ängstlichen Miene, die sich schon in der nächsten Minute in das verzerrte Todesgesicht von heute nacht verwandeln mußte, erfüllte ihn mit Grauen.

Er nahm einen Wagen und hieß den Kutscher, ihn durch die Stadt zu den verschiedenen Sehenswürdigkeiten fahren. Der intelligente junge Mensch entledigte sich seiner Aufgabe mit ebensoviel Geschick wie Gründlichkeit. Ein anderer hätte nach einer Fahrt von vier oder fünf Stunden behaupten dürfen, Bremen gründlich kennen gelernt zu haben; was galt ihm dies alles ohne sie! Wochenlang hatte er nichts gesehen, außer durch ihre Augen; keinen Gedanken gehabt, den er nicht für sie gehabt hätte, nur, damit er ihn ihr mitteilen und ihre Erwiderung hören konnte. Und diese süßeste Lust, Seele um Seele auszutauschen, daß aus den beiden eine würde, die sich in dieser Verdoppelung von hundertfachem glühendem Leben erfüllt wußte – sie sollte nun entschwunden und dahin sein für immer? Es war nicht zu fassen, nicht auszudenken. Wie der leere Platz im Wagen neben ihm ihrer zu harren schien, die nicht kam, so würde nun fortan die ganze Welt für ihn leer sein mit all ihrer Herrlichkeit, ja, um so leerer, je herrlicher sie war. Kein Vogel würde singen, keine Blume duften, keine Sonne scheinen, keine Musik erklingen, keine Dichtung, kein Werk der Kunst ihn entzücken, ohne den Schmerz der Sehnsucht nach ihr zu verschärfen, ohne ihn fühlen zu machen, daß alle Lust des Lebens, alles Glück der Erde ohne sie sich in Bitternis und Gram verwandelten.

Und dann überkam ihn wieder der Zorn, daß sie, wenn sie ihn schon geliebt, nicht den Mut ihrer Liebe gehabt und ihn mit sehenden Augen in dies Elend gestoßen hatte. So war denn ihre Liebe auch nicht die starke Liebe gewesen, die vor dem Verbrechen selbst nicht zurückschreckt. Und hatte sie sich klüglich salviert, er hatte es doch im Geist schon begangen, mußte es noch in Wirklichkeit begehen, oder so in der Schmach täglicher und stündlicher Lüge weiter vegetieren. Daß er ihr das nicht in das erbleichende Gesicht schleudern durfte! Warum war er ihr nicht auf der Stelle nachgeeilt? hatte Emden auf irgend einem Wege zu erreichen gesucht, um da auf ihre Spur zu kommen und die zu verfolgen, bis er sie gefunden? Nun war ihr Vorsprung zu groß geworden; nun konnte sie sich von Hannover nach Osten oder Westen gewandt haben, – wahrscheinlich nach Westen, um in Paris oder London vor ihm für immer sicher zu sein.

Es war Nachmittag geworden, als Ulrich in sein Hotel zurückkehrte. Der Abend desselben Tages fand ihn in Hamburg. Da er Kiel als seinen nächsten Aufenthaltsort genannt, hatte er in Hamburg eine Ueberraschung nicht zu fürchten. So blieb er hier acht Tage, stundenlang von seinem Fenster im Hotel de l'Europe das Kommen und Gehen der kleinen Dampfer auf der Alster mechanisch beobachtend oder am Hafen in das Gewühl der Schiffe starrend. Der erste wilde Schmerz hatte sich ausgetobt; die Stumpfheit und Dumpfheit, die dafür in seine Seele eingezogen war, erschien ihm als ein verhältnismäßiges Glück. Den Gedanken, diesem elenden Dasein ein Ende zu machen, wie oft und wie verlockend er sich ihm aufdrängen wollte, wies er zurück nicht aus religiösen Bedenken, sondern weil er sich sagte, daß er die That nur im schroffsten Widerspruch mit seiner ganzen Vergangenheit vollbringen könnte. Hatte er bis jetzt immer nur für die andern gelebt – er wollte nun nicht für sich selbst sterben. Wem denn sonst hätte sein Tod genützt? Ihr wahrlich nicht, die durch ihre Flucht bewiesen, daß sie sehr wohl ohne ihn leben könne. Und nicht der andern, die ohne ihn nicht leben konnte. Und es am Ende doch wohl lernte, wenn er sie bat: sei gut und verständig, wie du es ja immer bist! Sieh, ich will für dich und die Kinder sorgen und arbeiten noch viel mehr als bisher; nie sollt ihr ein unfreundliches Wort aus meinem Munde hören. Aber verlange nicht von mir, was ich dir nur scheinbar gewähren könnte, nur, indem ich dich durch eine fortgesetzte Lüge täuschte, für die wir beide zu gut sind. Es wird nur noch der Schatten eines Lebens sein, und den wir doch heilig halten müssen um der Kinder willen.

Er klammerte sich an diesen Gedanken wie an einen letzten Rettungsanker, ohne doch seiner Hilfskraft recht zu vertrauen. Wohl war Hertha gut und verständig bis auf einen Punkt, auf den doch hier gerade alles ankam: sie war unlenkbar und kannte kein Kompromiß und keinen Mittelweg, sobald es sich um seine Liebe zu ihr handelte oder auch nur zu handeln schien. Wenigstens war es bis jetzt noch immer so gewesen. Er erinnerte sich an eine Episode, die vor acht Jahren gespielt hatte, im zweiten Jahre ihrer Ehe.

Ein Herr aus Ostpreußen hatte in der Nachbarschaft ein frei gewordenes Gut gekauft und alsbald bezogen: ein schon älterer Mann, Witwer mit einer einzigen Tochter, einem schönen, hochgewachsenen, etwas herrischen und phantastischen, aber reich begabten Mädchen, das gegen Menschen, die ihr sympathisch waren, von hinreißender Liebenswürdigkeit sein konnte. Zwischen den beiden Familien hatte sich bald ein freundschaftlicher, durch die nahe Nachbarschaft noch besonders begünstigter Verkehr herausgestellt. Hertha, deren Freundschaftsbedürfnis sonst nicht eben lebhaft war, fühlte sich augenscheinlich zu dem schönen Mädchen hingezogen, um so mehr, als ihr hier Gelegenheit geboten wurde, der Fremden bei der Einrichtung einer neuen Wirtschaft mit Rat und That sich hilfreich zu erweisen. Und da er bei Lidas Vater in andrer Weise dieselbe Rolle gern übernommen, sah man einander immer häufiger, zuletzt fast täglich. Das ging so zwei Monate hindurch, ohne daß ein Wölkchen das herzliche Einvernehmen getrübt hätte. Dann plötzlich fing Herthas Freundeseifer sichtlich an nachzulassen. Er selbst hatte dessen kein Arg, auch nicht, als er von Lida darauf aufmerksam gemacht und um die mögliche Ursache befragt wurde. Wie konnte er die wissen? Sorge um Baby vielleicht, die mit den Zähnen umging, oder etwas der Art – sicher nichts von Bedeutung und über das sich Lida Skrupel zu machen brauchte. Aber als er eines Abends allein drüben gewesen war und ziemlich spät nach Hause kam, fand er Hertha bleich, mit verweinten Augen, in einer furchtbaren stummen Erregung, die sich endlich in Worten Luft machte. Sie habe es längst kommen sehen und es still getragen; aber ihre Kraft sei zu Ende. Es sei klar, daß er Lida liebe, die denn freilich jede Kunst der Koketterie habe spielen lassen, ihn in ihr Netz zu ziehen. Man brauche ja nur auf die Veränderung des Tones ihrer Stimmen zu hören, sobald sie miteinander sprächen, ganz zu schweigen von den Blicken, die hinüber und herüber gewechselt würden längst schon mit einer Rücksichtslosigkeit, welche bewies, wie weit es zwischen ihnen schon gekommen sei. – Hätte er sich ganz unschuldig gefühlt, würde er ihre Heftigkeit durch seine Ruhe habe entwaffnen können; aber er mußte im stillen zugeben, daß ihre Anschuldigungen keineswegs aus der Luft gegriffen waren. Lidas Geist und Schönheit hatten einen Eindruck auf ihn gemacht, dessen Stärke ihm vielleicht erst in diesem Augenblicke klar wurde. Er hatte das selbstverständlich nicht eingeräumt, statt dessen für das Recht eines Mannes plädiert, dem Geist und der Schönheit zu huldigen, wo immer er sie fände; und eine Ehe, die sich anmaße, ihm dies Recht zu rauben, eine Sklaverei genannt, der er für sein Teil sich jetzt und niemals unterwerfen werde. So hatte ein Wort das andre gegeben, bis er zornig ausgerufen hatte: dann bleibt nur eines übrig: wir müssen uns trennen. Das grausame Wort hatte eine fürchterliche Wirkung gehabt. Hertha war mit gerungenen Händen durch das Zimmer geirrt, in schreienden Tönen rufend: Ulrich will mich verlassen! Ulrich will mich verlassen! bis sie plötzlich ohnmächtig zusammengebrochen war.

Ein trauriges Ereignis hatte dem ehelichen Drama, das sich zu einer Tragödie verfinstern zu wollen schien, ein rasches Ende bereitet. In derselben Nacht war der Vater Lidas erkrankt und nach wenigen Tagen eine Leiche. Einem so großen Unglück gegenüber hatte die persönliche Empfindlichkeit schweigen müssen, und der Appell an Herthas Hilfbereitschaft war nicht vergeblich gewesen. Sie hatte sich in der umsichtigen, thatkräftigen Sorge, mit der sie sich der Verwaisten, Ratlosen annahm, selbst übertroffen. Dann war Lida bereits nach kurzer Zeit zu ihren ostpreußischen Verwandten zurückgekehrt, die Regelung der geschäftlichen Angelegenheiten Ulrich überlassend. Dies Verhältnis hatte einen Briefwechsel zwischen ihnen notwendig gemacht, der auch fortgesetzt wurde, als es Geschäftliches nichts mehr zu verhandeln gab, und erst bei Lidas zwei Jahre später erfolgter Vermählung mit einem hochgestellten Offizier aufhörte – jedenfalls zu Herthas Genugthuung, trotzdem sie sich stets die Miene gegeben hatte, von dieser Korrespondenz keinerlei Notiz zu nehmen.

So wenig wie später von dem Verhältnis, in welches er im Laufe der folgenden Jahre zu Clementine getreten war. Freilich kannte sie sicher die Innigkeit dieses Verhältnisses nicht, sah in ihm von seiner Seite nichts als die verwandtschaftliche Teilnahme an einem von der Natur vernachlässigten, von der Familie zurückgesetzten Kinde, die von jenem mit der gebührenden Dankbarkeit erwidert wurde. Welch tiefes Gemüt, welch geschäftiger Geist in der gebrechlichen Hülle des aus dem Kinde zur Jungfrau herangereiften Mädchens lebte, davon hatte sie keine Ahnung, wie denn auch niemand sonst in der Familie außer ihm selbst, der diese Entwicklung mit immer wachsendem Interesse beobachtet und gefördert. Für sie schien die jetzt Neunzehnjährige neun Jahre alt geblieben zu sein – eine Täuschung, die allerdings zum guten Teil auf Clementinens grenzenlose Scheu und Zurückhaltung kam. Und er selbst hatte sich wohl gehütet, sie eines andern zu belehren. Weshalb ihr den heimlichen Schatz entdecken, aus dem er so oft in seiner geistigen Verarmung borgte? die versteckte Oase, an deren frischem Quell er gelegentlich die verschmachtende Seele laben durfte? Hätte es doch nur ihre mit halbgeschlossenen Augen schlummernde Eifersucht erweckt!

Im übrigen hatte es zu einer Katastrophe wie jener im Beginn ihrer Ehe an jeder Gelegenheit gefehlt. Und so hatte sich allmählich für sie beide ein Leben gestaltet, in welchem sie ein volles Genügen fand, und von dem sie sicher annahm, daß es auch ihn durchaus befriedigte, weil er sich längst entwöhnt hatte, einen Wunsch zu äußern, der über das engumgrenzte Treiben des Alltagsdaseins nach andren Regionen deutete.

In dies Leben, das allen, die einen Blick hineinwerfen konnten, ein Musterleben schien und ein so glückliches, wie es selten den Menschen zu teil wird, sollte er den Lavastrom leiten, der im Nu das von jedermann bewunderte Campanertal in ein Wüstenfeld verwandelte!

Da lagen, als er nun endlich in Kiel war, vier Briefe vor ihm – sämtlich in diesen letzten Tagen geschrieben – kurze Briefe und in Herthas gewöhnlichem, wenig sorgsamen Stil. Aber welche treue Sorge sprach aus jedem ungeschminkten Wort! Er solle ja fortbleiben, wenn er glaube, damit seiner Gesundheit nützen zu können. Das sei die Hauptsache, gegen die jedes andre Bedenken zurücktreten müsse. Sie wisse, wie sehr er sich nach Haus sehne; und von ihrer Sehnsucht, ihn wieder zu haben, wolle sie schon gar nicht reden; aber sie und Pasedag hätten sich bis jetzt wacker durchgeschlagen und würden es auch für den Rest der Ernte thun, die nebenbei ihre höchsten Erwartungen übertreffe. Sie bitte nur um eines: daß er ihr über seinen Zustand die volle Wahrheit sage und, wenn er sich wirklich krank fühle oder auch nur glaube, ihre Anwesenheit könne zu seiner Behaglichkeit beitragen, sofort telegraphiere, worauf sie selbstverständlich alles stehen und liegen lassen werde, um zu ihm zu eilen.

Konnten leidenschaftliche Ergüsse überströmender Zärtlichkeit beredter sein als diese scheinbar so nüchternen Worte und abgegriffenen Phrasen? Ulrich fühlte es wohl, aber wie sollte es werden, wenn seine vielgerühmte Gutmütigkeit auch jetzt wieder die Oberhand gewann, und er die schlaffe Hand bot zur Fortführung eines Lebens, in welchem Ernte und sonstige Vorkommnisse des Tages und sein und der Kinder körperliches Wohlsein die Hauptrolle spielten und alles, was darüber hinausging, vom Nebel gewesen wäre, wenn man überhaupt davon gewußt hätte? Nein! lieber in der Wüste unter Räubern hausen, als in dieser gesitteten Atmosphäre vor lauter steifstelliger Tugend zum geistigen Krüppel werden!

Und er schrieb zurück, daß es ihm einmal besser, das andre Mal schlechter gehe, ein Grund zu wirklicher Besorgnis aber keinesfalls vorliege. Hertha möge deshalb ruhig zu Hause bleiben, um so mehr, als er am Abend niemals wisse, ob ihn nicht der nächste Morgen auf der Heimreise finde.

Am Abend desselben Tages war er auf der Fahrt nach Kopenhagen.

In seinem seelischen Zustand war inzwischen doch, ihm unbewußt, eine Veränderung eingetreten. Zwar durfte er noch immer nicht an die Tage von Norderney denken, ohne daß Wehmut ihn zu überwältigen drohte; aber es kamen doch Augenblicke, in denen er an den Dingen und Menschen um ihn her ein lebhafteres Interesse nehmen konnte. Seine einstige Sehnsucht nach fremden Ländern, die er längst gestorben glaubte, erwachte wieder; das Thorwaldsenmuseum erschien ihm wie eine Vorhalle zu Italien und Griechenland. Ah! jene Thäler, jene Gebirge, jene Städte zu durchwandern an der Hand seiner alten Klassiker, die ihm ja wohl treu geblieben waren! Jene Meere zu durchschiffen, auf deren Inseln, an deren Küsten sich Ilias und Odyssee abspielten, von denen er noch halbe Gesänge auswendig wußte! Und sein fast vollendeter Kommentar zur Poetik des Aristoteles, der seine Doktordissertation hatte werden sollen! Wie kam denn jetzt das alles ihm in die Erinnerung zurück, als wäre in einem verschlossen gehaltenen Raum ein Laden aufgethan, und man sähe plötzlich in hellem Licht tausend schöne Dinge, welche so lange in Dunkelheit, Stand und Moder verschollen gewesen waren! Was sonst als die Liebe zu einem ihm ebenbürtigen Weibe hatte das Wunder zu Wege gebracht? Nein, er durfte nicht wieder zurücksinken in die geistige Versumpfung, aus der sie ihn mit starker Hand gerissen! Und sollte er sie nie wiedersehen – das war er dem Andenken jener seligen Tage schuldig. Vielleicht war sie nichts andres gewesen als sein Genius, der ihm erscheinen mußte, damit er sich selbst wiederfand.

So sollte es sein. Er wollte vorerst einmal auf Reisen gehen, selbstverständlich allein. Hertha mußte sich darein finden, gleichviel, wie sie es anfing. Möglich immerhin, daß seine Leidenschaft für Eleonore eine Illusion war. Es würde sich inzwischen herausstellen. Dann war aber auch sicher jede höhere Aspiration, wie er sie jetzt empfand, eine Täuschung, und er mochte sich weiter in die banausische Wirklichkeit schicken, wie er es bisher gethan. Oder – worauf er hätte schwören mögen – seine Liebe senkte nicht die Schwingen, trug ihn in immer reinere, lichtere Regionen – nun, dann mußten die da unten sehen, wie sie ohne ihn auskamen. Sie hatten während seiner Abwesenheit Gelegenheit gehabt, sich an ein Leben ohne ihn zu gewöhnen. Sie brauchten noch lange nicht verloren zu sein, weil er sich wiedergewonnen hatte. Im Gegenteil! Erst dann konnte er ihnen eine feste Stütze bieten, während er jetzt nur ein morscher Stamm war, der über kurz zusammenbrechen würde.

Ohne ein paar peinliche Tage freilich des Wiedersehens und des Abschieds konnte es nicht geschehen. Das mußte in den Kauf genommen werden.

Möglich, daß in diesem Kalkul irgendwo ein Fehler steckte und sein Entschluß doch weiter nichts als ein Kompromiß zwischen der neuen Leidenschaft und der alten Gewohnheit des Daseins war. Es wollte ihm manchmal so bedünken. Aber er war froh, da es so nicht bleiben konnte, zu irgend einem Resultat gekommen zu sein. Mochte dann die Logik der Thatsachen in ihre Rechte treten und dem martervollen Grübeln ein Ende machen – so oder so.

Er schrieb an Hertha, er werde nach einem vermutlich nur kurzen Aufenthalte in Marienlyst auf dem Seewege über Stralsund oder Stettin heimkehren. Tag und Stunde der Ankunft müsse er von den Zufällen der Reise abhängen lassen, womit denn zugleich gesagt sei, daß er sich alle Empfangsfeierlichkeiten freundlichst verbeten haben wolle.


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