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Fünftes Kapitel.

Bereits seit einer Viertelstunde saß Ulrich in seiner einsamen Ecke bei Otterndorf, der Suppe harrend, wie das halbe Dutzend andrer Gäste, das sich heute eingestellt und hie und da an den übrigen Tischen Platz genommen. Es mochte in der Küche ein Unfall stattgefunden haben, oder Herr Otterndorf, der von Zeit zu Zeit seinen Kopf aus der Küche in die Gaststube steckte, war der Ansicht, daß noch mehr Kunden kommen müßten, bevor die Verteilung seiner kulinarischen Genüsse sich der Mühe verlohne. Einige Gäste begannen ungeduldig zu werden; Ulrich, der die Gepflogenheiten des seltsamen Wirtes kannte, blätterte geduldig in einer alten Bilderbibel. Er hatte sie seit acht Tagen regelmäßig auf dem immer unbesetzten zweiten Stuhle an seinem Tischchen gefunden. Vorher war es eine Woche lang eine Emdener Stadtchronik aus dem siebzehnten Jahrhundert gewesen. Vermutlich hielt ihn Herr Otterndorf, nachdem er ihm gleich anfangs ein paar zweifelhafte Delfter Krüge abgekauft, auch für einen Bibliomanen. Ulrich hatte seinen Entschluß gefaßt: kam die Suppe binnen fünf Minuten, wollte er heute zum Abschied das immerhin wertvolle Buch kaufen; wenn nicht, nicht.

Während er, halb spöttisch, halb wehmütig lächelnd, auf die Uhr in seiner Hand sah, hatte er die Eingangsthür des Speisezimmers gehen und zugleich Herrn Otterndorf aus der Küche kommen hören. Herr Otterndorf hatte die Gewohnheit, einem neuen Gaste gegenüber sich die Miene zu geben, als habe er keine Ahnung, in welcher Absicht der Betreffende gekommen sei. Der Gast sollte wissen, daß er – Otto Heinrich Otterndorf – an seinem Tische Platz zu nehmen nicht für ein ordinäres Wirtshausrecht, sondern für eine Gnade halte, die er, je nachdem der Neuling ihm gefiel oder mißfiel, erteilen oder auch verweigern könne. Ulrich wunderte sich deshalb nicht, den Gestrengen fragen zur hören, was zu Diensten stehe?

Ich bitte um Entschuldigung, sagte die Stimme der Person, die eingetreten war, ich glaubte, ich könnte hier zu Mittag speisen.

Im Nu war Ulrich aufgesprungen.

Sie hier, mein gnädiges Fräulein? sagte er, mit einer Verbeugung zu Eleonore hintretend.

Wie angenehm! erwiderte sie, ihm die Hand reichend.

Es war keine Phrase, er fühlte es an dem festen Druck der kleinen Hand; er las es von ihrem Gesicht, das ihm in seinem leichten Erröten mit dem freundlichen Lächeln noch viel holdseliger erschien als gestern.

Wollen die Herrschaften Platz nehmen? sagte Herr Otterndorf mit einer befehlshaberischen Geste nach Ulrichs Tischchen, auf dem jetzt statt des einen Couverts von vorhin zwei standen, und verschwand in der Küche.

Die Röte auf Eleonores Wangen hatte sich noch etwas erhöht.

Sie müssen sich schon drein geben! flüsterte Ulrich, unser Wirt duldet keinen Widerspruch.

Aber ich thue es ja gern, erwiderte sie vertraulich leise und – was Ulrich vollends beruhigte – mit lachenden Augen.

Sie hatten sich an dem Tischchen einander gegenüber gesetzt.

Wie um alles in der Welt kommen Sie hierher? fragte Ulrich.

Haben Sie je an einer der hiesigen großen Table d'hotes gespeist? erwiderte sie.

Gott sei es geklagt! In den ersten acht Tagen. Ich glaubte närrisch zu werden in dem wüsten Lärm.

Ganz mein Fall. Nur daß mir die Furcht schon nach drei Tagen gekommen ist.

Erst so kurze Zeit sind Sie hier?

Denken Sie! Und habe bereits eine Bekanntschaft gemacht! Und muß diesen Bekannten, ohne den es mir gestern schlimm genug ergangen wäre, heute in dieser wundersamen Höhle wieder treffen!

Sie ließ ihre Blicke durch das große, niedrige Gemach schweifen, das denn allerdings mit seinen altertümlichen Schränken, ausgestopften Vögeln und Fischen und dem krausen Bric-à-brac auf den Schränken und Regalen der Wände einen wundersamen Anblick gewährte.

Es muß ein sonderbarer Heiliger sein, unser Herr Wirt, fuhr sie, sich wieder zu Ulrich wendend, fort. Freilich, meine Wirtin hatte mich darauf vorbereitet. Ich glaube, ohne Ihre gütige Intervention hätte er mir die Thür gewiesen. Sie verpflichten mich zu immer neuen Dank. Gestern wäre ich ohne Sie ertrunken, heute verhungert. Ich war wirklich nahe daran.

Dafür kommt denn jetzt auch die Suppe, und ich darf im voraus sagen, daß sie ausgezeichnet sein wird.

Herr Otterndorf war mit einer mächtigen Suppenschüssel erschienen, deren Inhalt er, an dem schmalen Ende des großes Tisches in der Mitte des Gemaches stehend, würdevoll verteilte, während ein halb wie ein Kellner, halb wie ein Schiffer aussehender junger Bursche die gefüllten Teller umhertrug.

Wirklich ausgezeichnet! sagte Eleonore, eifrig, aber mit großer Zierlichkeit den Löffel zum Munde führend.

Nicht wahr? sagte Ulrich.

Es entstand eine Pause in ihrem Gespräch, die Ulrich sehr gelegen kam. Vorhin, als er ihre Stimme hinter sich hörte, hatte sein Herz einen Sprung gemacht und schlug ihm noch jetzt so heftig, daß er alle Mühe hatte, seine Erregung nicht sichtbar und hörbar werden zu lassen. Glücklicherweise schien sie nichts davon zu merken, wie denn jedenfalls ihr Benehmen, nach dem ersten leichten Erröten, längst völlig frei und unbefangen war, und ihr die Worte so leicht von den Lippen kamen, als plaudere sie an einem Familientheetisch mit einem alten Freunde.

Warum sollte sie auch nicht? sprach er bei sich, sie könnte ja beinahe meine Tochter sein.

Dieser glückliche Gedanke machte ihm Mut, sie zum erstenmal heute voll anzusehen. Sie trug, statt des grauen Wollkleides von gestern, ein helleres, zierlicheres, aber doch wieder völlig einfaches Kleid aus irgend einem Sommerstoff, das ihr allerliebst stand, ebenso wie der Promenadenhut, den sie aufbehalten, als er ihr vorhin den langstieligen Sonnenschirm und das Jäckchen – diesmal ein gelbes – abgenommen hatte. Das dunkle, vorn und an den Schläfen aus dem Hütchen hervorquellende Haar war hinten, wie gestern, nur in einem leichten Knoten geschürzt. Die kleinen Hände mit den zierlichen, spitz zulaufenden Fingern waren ringlos, wie sie denn auch sonst nicht den mindesten Schmuck an sich zeigte. Ihre Augen erschienen noch größer und sprechender. Nur über die Farbe konnte Ulrich, da sie in dem schon keineswegs hellen Gemach dem Lichte abgewendet saß, wiederum nicht ins reine kommen. Ihre Gesichtsfarbe wäre vielleicht bleich gewesen, nur daß Sonne und frische Luft ein paar kräftigere Töne darüber gehaucht hatten. Um die Winkel des nicht kleinen, aber schön geschweiften Mundes fiel Ulrich jetzt zum erstenmal ein melancholischer Zug auf, um so mehr, als er nicht schwand, wenn sie lächelte.

Ein schmackhaftes Fischgericht war der Suppe gefolgt; Ulrich fragte, ob sie Wein befehle? Sie dankte, da sie selten oder nie Wein trinke. Er aber sollte sich ihrethalben keinen Zwang auferlegen.

Ich muß sonst fürchten, fügte sie hinzu, daß Sie einer doch möglichen dritten Begegnung mit mir sorgsam auszuweichen suchen.

Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, sagte Ulrich, das glauben Sie doch selbst nicht.

Sie haben recht, erwiderte sie unbefangen; es war eine Phrase, Ihnen gegenüber vollends deplaciert.

Warum mir gegenüber?

Weil Sie selber keine machen.

Wissen Sie das so genau?

Ich glaube, ja. Jedenfalls hatte ich gestern keine einzige aus Ihrem Munde gehört.

Vielleicht nur, weil ich keine Zeit dazu hatte.

Sie lachte ein kurzes herzliches Lachen und sagte:

Freilich, für Allotria war gestern wenig Zeit. Apropos! Sie haben mein Briefchen erhalten. Haben Sie nichts darin vermißt?

Nein. Was?

Die Schelte, die Sie verdienen für die Tollkühnheit, sich nach allem, was sie schon durchgemacht hatten, noch einmal in die Nacht hinaus zu wagen um meiner dummen Mappe willen.

Die Tollkühnheit war nicht so groß; und was man gern thut – ich hoffe, Sie werden das nicht für meine erste Phrase halten – pflegt einem nicht schwer zu werden. Nebenbei hat mich mein nächtlicher Gang das wundersamste Naturschauspiel erleben lassen.

Das Meerleuchten? Es soll sehr schön gewesen sein. Am Damenbade wurde viel davon gesprochen, obgleich es keine gesehen zu haben schien. Ich habe es oft gesehen – nie großartiger als auf dem Mittelmeere während einer Dampferfahrt von Syrakus nach Malta.

So weit sind Sie gekommen?

Sogar noch weiter, bis nach Aegypten, genauer Nubien, stromaufwärts bis zum Felsentempel von Abu Simbel. Da sind wir umgekehrt.

Ulrich hätte sehr viel darum gegeben, zu wissen, wer unter dem »Wir« zu verstehen sei. Zu fragen wagte er nicht. Dafür sagte er mit einem leisen Seufzer: Ich habe mich statt dessen mit der Lektüre von Büchern über das Pharaonenland begnügen müssen, von denen mir namentlich eines, das übrigens gar nicht gelehrt war, besonders gefallen hat, weil man, während man es las, ordentlich ägyptische Luft zu atmen glaubte.

Darf ich einmal raten? Es war: Nile Notes of an Howadji von William Curtis.

Wahrhaftig, das war es! Nur habe ich es nicht im Original gelesen.

Aber Sie lesen englisch?

Aufzuwarten.

Und sprechen es?

Ein wenig.

Da werden wir uns fortan englisch unterhalten.

Um Himmels willen nicht!

Um Himmels willen, ja! Sie müssen wissen, daß ich bis vor ungefähr vierzehn Tagen vier Jahre lang nichts als englisch gesprochen habe und es nicht verlernen darf, da es das einzige Hab und Gut ist, mit dem ich durch die Welt komme. Und, wie Sie gehört haben, sogar ziemlich weit, auf die bequemste Weise: mit Kurier, einem Diener, zwei Kammerjungfern und einer ganzen lordlichen Familie, aus Vater, Mutter, zwei erwachsenen Töchtern und einer so ungefähr erwachsenen Miß bestehend, deren letzterer deutsche Governeß ich zu sein die zweifellos hohe Ehre und das manchmal etwas zweifelhafte Vergnügen hatte.

Ulrich lachte das Herz, nicht bloß, weil sie es in einem so freien, munteren Ton und mit einem so fröhlichen Lächeln gesagt hatte, daß diesmal auch der melancholische Zug um den Mund völlig verschwunden war. Hatte sie vorhin die Frage nach dem »Wir« in seinen Augen gelesen? Gleichviel! Mit weiblichem Takt hatte sie empfunden, daß der Mann da ihr gegenüber wünschen müsse, etwas Näheres über ihre Verhältnisse zu erfahren, und die erste schickliche Gelegenheit ergriffen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

Dann, im nächsten Moment, durchfuhr ihn ein wehmutvoller Gedanke. Bei seinen Kindern hatte er nun schon die dritte »Gouvernante«, mit der sich Hertha so wenig stellen konnte wie mit ihren Vorgängerinnen. Zu anspruchsvoll! Lieber Gott! und er hatte die armen Dinger in ihrer Abhängigkeit und Hilflosigkeit immer von Herzen bedauert, wenn er auch ihre mancherlei Unzulänglichkeiten einräumen mußte! Und diesem entzückenden Geschöpf war kein besseres Los geworden! Sie stand, in wie reichem Maße sie auch die Bewunderung und Liebe der Menschen verdiente, gesellschaftlich auf derselben bemitleidenswerten Stufe, allein, sehr wahrscheinlich, und arm – um durch die Welt zu kommen – sie hatte es eben selbst gesagt – nichts zum Hab und Gut als ihr Englisch und die sonstigen Governeßkünste!

Nun, sagte er, ihren munteren Ton, so gut es ging, kopierend, da haben Sie es jedenfalls besser gehabt als ich, der ich, außer einmal ein paar Meilen in die Schweiz hinein, nie über die deutsche Grenze hinausgekommen bin. Als Tourist wenigstens; denn die paar Wochen oder Monate böhmisch-österreichischen Feldzuges vor zwei Jahren waren alles andere, nur keine Vergnügungstour.

Es war in einer der langen Pausen, welche Herr Otterndorf zwischen den einzelnen Gängen eintreten zu lassen für gut fand.

Sie hatte das Kinn leicht auf die gebogene Hand gestützt. In ihren großen Augen, die sie voll auf ihn gerichtet hatte, lag nicht Neugier, nur herzliche Teilnahme, die auch aus dem Ton ihrer Stimme klang, als sie jetzt sagte: Und Sie hatten das Verlangen fremde Länder und Menschen zu sehen?

Das allergrößte. Schon als Knabe wußte ich mir keine liebere Lektüre als Reisebeschreibungen, wie denn auch die Geographie mein bevorzugtes Studium war. Das ich dann freilich, als ich die Universität bezog, mit dem der Geschichte vertauschte; aber Geographie und Geschichte, wissen Sie, gehen Hand in Hand. In diesen Dingen, zu denen später noch ein bißchen Sprachen und Philosophie kam, hatte ich drei Jahre lang, ich darf sagen, recht fleißig gearbeitet, so fleißig, daß mein guter Vater, der mich in Heidelberg besuchte, darauf bestand, ich müsse, bevor ich in die letzten Semester und das Doktorexamen ging, eine Erholungsreise machen: die Schweiz – Italien – vielleicht noch ein Stückchen Griechenland – so ein sechs – acht Wochen während der Ferien. Aber ich kam nur bis Bern. Da, auf dem Schänzli – ich hatte kaum den ersten bewundernden Blick hinüber nach der fernen Alpenkette geworfen, noch ungewiß, ob das, was ich vor mir sah, Wolken oder wahrhaftige Berge seien – holte mich ein Bote aus dem Hotel ein, der mir eine Depesche brachte: Ich müsse augenblicklich nach Hause kommen, mein Bruder sei krank und in großer Gefahr. Ich hatte nur den einen, den ich sehr liebte. Wenige Jahre älter als ich, ein alle Wege prächtiger Mensch, geborener Landmann, wie er denn auch später die väterlichen Güter übernehmen sollte; leidenschaftlicher, kühner Reiter, war er bei einem Sturz mit dem Pferde verunglückt. Als ich nach Hause kam, fand ich ihn bereits tot. Aber warum erzähle ich Ihnen so traurige Dinge!

Sie hatte die Haltung nicht verändert; ihre Blicke ruhten auf ihm mit demselben warmen, herzlichen Ausdruck.

Bitte! sagte sie leise, kaum die Lippen bewegend; weiter!

Ich kam nicht wieder auf die Universität und zu meinen Studien zurück. Der Vater, der schon lange gekränkelt hatte, konnte den furchtbaren Schlag nicht verwinden, er siechte zusehends dahin. Die Mutter war uns längst gestorben. Sie hätte auch, eine sinnige, der Außenwelt abgewandte Natur, hier nicht eingreifen können. Und es mußte eingegriffen werden. Die Wirtschaft, die schon seit Jahren ganz in den Händen des Bruders gelegen hatte, unfähigen oder nicht völlig integern Inspektoren anzuvertrauen, konnte sich der Vater nicht entschließen; die Güter zu verpachten ebensowenig, da zu diesem Zwecke die Konjunktur besonders schlecht war. Auch sonst war unsre Lage gerade jetzt schwierig. Ein allerdings schließlich gewonnener Erbprozeß hatte große Summen verschlungen; gewisse kostspielige wirtschaftliche Neuerungen wollten durchgeführt sein; meine ältere verlobte Schwester konnte ohne eine bedeutendere Mitgift nicht heiraten. Ich sollte in dieser Not der Retter werden; ich, der ich von der Wirtschaft, und was dazu gehört, nicht mehr verstand, als ein auf dem Lande aufgewachsener junger Mensch so mit der Luft einatmet. Wäre mir noch eine Wahl geblieben, so konnte nach dem Tode des Vaters – er starb ein Jahr später – davon nicht mehr die Rede sein. Die Schwestern – ich hatte außer der älteren noch zwei heranwachsende – waren auf mich angewiesen. Ein Familienchef mit dreiundzwanzig Jahren! Es war ein lästiges Stück Arbeit, kann ich Sie versichern, um so lästiger für mich, als ich mich im stillen, während ich die Felder abritt und Rechnungen revidierte, nach meinem lauschigen Studierzimmer in Heidelberg und den geliebten Büchern zurücksehnte. Aber – Wallenstein sagt das ja wohl? »an was gewöhnt sich nicht der Mensch?« Auch daran, die Zukunft, die er sich einräumt, die Hoffnungen, in denen er sich gewiegt, die Entwürfe, die er geplant – alles eines nach dem andern zu Grabe zu tragen.

Ulrich schwieg. Sie ließ den Arm, auf den sie noch immer das Kinn gestützt hielt, langsam in den Schoß gleiten und atmete einmal tief auf, erwiderte aber nichts.

Es wäre auch jetzt kaum die Zeit dazu gewesen. Ein neues Gericht wurde aufgetragen. Sie verzehrten es schweigend. Erst als der Nachtisch kam, begann Eleonore von neuem: Das ist sehr traurig, was Sie mir da von Ihrem Leben erzählt haben. Ich denke es mir schrecklich, so von einer Bahn abgedrängt zu werden, auf die man durch Neigung und Talent gewiesen ist. Und das Schicksal hat nicht versucht, das Unrecht, das es Ihnen auf diese Weise gethan, in anderer Weise wieder zu vergüten?

Es mochte ein Zufall sein, daß ihr Blick, während sie das sagte, über seine linke Hand glitt, an welcher er den Trauring trug.

Du thust schon besser, ihr auch das zu sagen, sprach Ulrich bei sich, und laut sagte er, sich zu einem heitern Tone zwingend: Doch! es hat es versucht, und gar so übel ist der Versuch nicht ausgefallen. Es hat mich zum Gatten einer braven Frau und zum Vater von drei Kindern gemacht, welche besonders höfliche Gäste – ich referiere hier nur, mein gnädiges Fräulein – für die schönsten im dreimeiligen Umkreise erklären.

Und Sie sind mit dem Schicksal ausgesöhnt?

Auf Ulrichs Lippen schwebte die Antwort: In diesem Augenblicke bin ich es. Statt dessen sagte er nicht ohne eine gewisse Unsicherheit: Ich muß wohl. Und am Ende: was nutzt es, mit ihm zu hadern? Jedenfalls habe ich nicht die Absicht gehabt, es zu thun, als ich Ihnen diese lange, uninteressante Geschichte erzählte. Wie kam ich eigentlich dazu? Jaso! Ich wollte erklären, wie es geschah, daß ich von der schönen Welt draußen nichts als die Berner Alpen aus der Ferne sah. Die von Kriegsdiensten erdrückten römischen Proletarier hatten ein bitteres Wort: sine missione nascimur – wir werden geboren, um niemals Urlaub zu haben. Für meine letzten zwölf Jahre, oder so, kann ich das auch von mir sagen.

Hier trat Herr Otterndorf an den Tisch, den ihm schuldigen Tribut einzufordern, was er stets persönlich that. Dabei richtete er an Eleonore in mürrischem Tone die Frage, mit der er einen Neuling, wenn er ihm gefallen hatte, entließ: Sie kommen morgen wieder?

Eleonore blickte den unhöflichen, finstern Mann erstaunt an, um dann ihre Augen sofort auf Ulrich zu richten.

Ulrich lächelte.

Muß ich mich darüber schon heute entscheiden? fragte sie in gleichgültigem Ton, langsam ihre Handschuhe zuknöpfend. Allerdings!

Ich denke, das gnädige Fräulein wird kommen, sagte Ulrich.

Ist gut.

Der seltsame Mensch hatte sich zu andern Gästen gewandt; Ulrich und Eleonore standen auf der Dorfgasse.

Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, sagte Ulrich, daß ich mir erlaubt habe, für Sie zu antworten. Ich kenne meinen Mann; er wäre imstande gewesen, Ihnen eine Scene zu machen. Und übrigens hat meine halbe Zusage für Sie keine Verbindlichkeit. Ich nehme die Sache auf mich.

Damit das Ungetüm Ihnen eine Scene macht? Da komme ich am Ende lieber selbst noch einmal in seine Höhle. Vorausgesetzt, daß ich Ihnen heute nicht zu lästig gefallen bin.

Sie hatte das alles mit dem heitersten Lächeln gesagt, indem sie ihren Sonnenschirm aufspannte. Mit dem Lächeln, in dem rosigen Licht, das durch den Schirm auf ihr Gesicht fiel, aus dem die großen, dunklen Augen leuchteten, während sie, bei den letzten Worten den Kopf anmutig ein wenig neigend, zu ihm aufblickte, erschien sie Ulrich als das entzückendste weibliche Wesen, das er je im Leben gesehen.

Sie wollen mich durchaus zu einer Phrase verleiten, erwiderte er. Es soll Ihnen nicht gelingen.

Das ist keine Antwort.

Nun denn, die Stunde, die Sie mir erlaubten, mit Ihnen zu verplaudern, ist mir ein hohes und seltenes Glück gewesen.

Und das wäre keine Phrase?

Ich gehe sogar noch weiter: ein Glück, das ich, seitdem ich von der Universität fort bin, nicht wieder genossen habe: das Glück, heraussagen zu dürfen, was einem so durch die Seele geht, in dem köstlichen Bewußtsein, daß der andere alles versteht, sich alles zu deuten weiß.

Also etwas gefunden zu haben, was man einen guten Kameraden nennt?

Wenn Sie so wollen.

Gewiß will ich es. Ich selbst lege auf gute Kameradschaft den höchsten Wert. Also gute Kameraden! Sehen Sie, das ist schön; das ist wirklich sehr schön. Besonders auf dieser seltsamen Insel, auf der man, wie es scheint, entweder mit Stürmen oder mit Ungetümen, bestenfalls mit der Langeweile zu kämpfen hat. Werden Sie noch längere Zeit hier bleiben?

Erst jetzt fiel es Ulrich wieder ein, daß er noch vor einer Stunde entschlossen gewesen war, morgen abzureisen. Welches Glück, daß er es nicht bereits nach Hause geschrieben hatte! Und dann: er sollte ja die bestimmte Zeit aushalten!

Eine Woche – mindestens, erwiderte er. Es können auch zwei werden.

Wieviel Stürme und Ungetüme werden wir da noch auszustehen haben!

Um hoffentlich auch manches Freundliche erleben.

Ich bin dessen gewiß.

Sie hatten den kurzen Weg bis zu Eleonores Wohnung zurückgelegt und standen vor dem Gartenpförtchen, Ulrich mit dem Hut in der Hand.

So denn, auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein!

Auf Wiedersehen – morgen! das heißt –

Er blickte sie, da sie zu sprechen aufhörte, erwartungsvoll an.

Ach was, sagte sie entschlossen. Das sind ja alles Alltagserbärmlichkeiten – wozu ist man denn einander guter Kamerad? Also, ich wollte sagen: der Tag ist noch verzweifelt lang, und wenn Sie mich zu einem Spaziergang abholen wollen – sechs Uhr, glaube ich, würde die richtige Zeit sein – so würde ich Sie hier auf dieser selben Stelle erwarten. Ist es Ihnen recht?

Ich wüßte nicht, was mir größeres Vergnügen gewähren könnte.

So denn, auf Wiedersehen um sechs!

Ich werde zur Minute hier sein.


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