Johann Gabriel Seidl
Bifolien
Johann Gabriel Seidl

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VIII.

Der alte Schiffer.

                      Ein alter Schiffer lebt' am Ostseestrand,
Den schon der Morgen stets am Meere fand;
In stiller Sehnsucht blickt' er da hinaus,
Als wär sein Herz nur auf der See zu Haus.

Sein Herz war dort, wo ach! sein Schatz, – ein Sohn,
Der längst ihm schlief im grünen Meere schon;
Vor seinen Augen hob ins nasse Grab
Ihn eine Wog' einst aus dem Kahn hinab.

Schon flochten drunten sein gebleicht Gebein
Meerlilien mit zähen Fasern ein;
Doch in des Vaters gramzerrissner Brust,
Umwob noch keine Hülle den Verlust.

Mit einer Trommel eilt er hin zur See,
Und löst den Kahn und steuert auf die Höh',
Und schlägt, daß weithin tönt die Morgenluft,
In stillem Wahnsinn auf das Fell und ruft:

»Mein Sohn, mein Sohn! Und hörst du mich denn nicht?
O komm herauf, bevor das Herz mir bricht!
Ich setz' in meinen Kahn dich neben mich,
O komm herauf, nach Hause führ' ich dich!

Und bist du tot, so grab' ich dir ein Grab
Auf unserm Friedhof, lege dich hinab,
Und pflanze Blumen und Gebüsch umher,
Liegst doch wohl besser, als im kalten Meer!«

Er ruft und ruft, bis längst die Sonn' erblich,
Dann kehrt er um und murmelt still für sich:
»Er hat's noch nicht gehört in seinem Haus, –
Nun, morgen fahr' ich weiter noch hinaus!«

Und eines Morgens fuhr er auf die See, –
Weit – weit hinaus – viel weiter, als noch je:
Gewiß hat endlich ihn sein Sohn gehört,
Weil er am Abend nimmer heimgekehrt.

 
Glück und Unglück.

        Wer, ein Betrachtender, so wandelt
Die Straßen einer Stadt entlang,
Dem mag es selten nur begegnen,
Daß ihm verleidet wird sein Gang.

Die Häuser stehn in blanken Zeilen,
Als wohnte nur die Lust darin,
Und unverdrossne Menschen treiben
Sich zwischen ihnen munter hin.

Man sieht hinein durch klare Fenster,
Und sieht im Innern keine Not;
Man tritt hinein zu offnen Toren
Und sieht im Hofe keinen Tod.

Man hört nicht Seufzer, hört nicht Hader,
Nicht Hilferuf, nicht Wehgeschrei,
Es ist, als ginge man behaglich
An Wohnungen des Glücks vorbei.

Und dennoch schleicht die böse Seuche,
Das Unglück, durch die Straßen fort,
Vergiftet, quält, entpresset Tränen,
Und übt Verrat und Meuchelmord.

Verliere drum die Fassung keiner:
Denn einem Acker gleicht die Welt,
Wo mitten in das Korn der Freuden
Gar manches Leideskörnlein fällt.

Heil uns, wenn noch die Saat des Glückes
So reich hienieden wächst heran,
Daß hinter ihren grünen Halmen
Das Unglück sich verstecken kann!


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