Johann Gabriel Seidl
Bifolien
Johann Gabriel Seidl

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XII.

Der Bettelknabe.

              Vorm Stadttor saß in Regen und Wind
Ein kleines, armes, verlassenes Kind.
Frühmorgens zerrt' es ein rauher Mann
Stillschweigend am kranken Händchen heran;
Nur wenn er's am Weg auf den Boden gesetzt,
Begann er mürrisch: »Da bleibst du jetzt,
Und betest dein ›Vaterunser‹, doch laut,
Damit man dich hört und auf dich schaut;
Je lauter, desto besser für dich,
Und wenn du bemerkt dich siehst, so sprich:
»»Bitte, bitte, liebe Herrn, schöne Damen,
Um einen Kreuzer in Gottesnamen;
Fünf kranke Kinder sind wir zu Haus' –
(Es ist nicht so, doch mach' dir nichts draus!)
Der Vater ist krank – (hat's auch nicht Not) –
Die Mutter – (nun das ist wahr) – die ist tot!
Also bitte um einen Kreuzer recht schön!«« –
»Nun werden zwar viele vorübergehn,
Die's hören, ohne dir was zu schenken,
Müssen auf Ball und Komödie denken;
Dafür hat doch mancher ein Herz im Leib,
Und wirft dir was hin aus Zeitvertreib,
Dann rufe: ›Vergelt's Gott tausendmal!‹
Recht laut, das vermehrt der Geber Zahl:
Denn wenn sie dir einen Kreuzer gaben,
So wollen dafür sie Dukaten haben! –
So! Nun – und friert dich in Fuß und Arm,
So denk', unsre Stub' ist auch nicht warm;
Und meldet sich um Mittag der Magen,
So denk', zu Haus gibt's auch nichts zu nagen;
Und wenn es regnet, so nimm's als Spaß,
Wirst weiter, als bis auf die Haut, nie naß;
Wenn's finster wird, so hol' ich dich ab,
Und zähle zusammen, was man dir gab.
Das sag' ich dir, daß du dich gut beträgst,
Und nichts verabsäumst oder verschlägst;
Laß ja nicht mit leeren Taschen dich finden,
Verstehst du mich, sonst sollst du's empfinden!
Ein Krüppel wie du, der betteln kann,
Trifft's besser, als mancher Handwerksmann!«

Nach solchen weislichen Regeln und Lehren
Sah man den Alten den Rücken kehren.
Das Kindlein wußte nicht, wie ihm geschah,
Es saß mit gefalteten Händchen da,
Sah auf zum Himmel, wenn er blau,
Und sprach sein freudiges ›Vaterunser‹;
Sah auf zum Himmel, wenn er grau,
Und sprach sein klägliches ›Vaterunser‹;
Und zog sein Käppchen übers Ohr,
Und schlug die Ärmchen, wenn es fror,
Und kehrte fröstelnd dem Winde den Rücken,
Und sah auf die Leute mit flehenden Blicken,
Und merkt's in den Mienen des Mitleids Spur,
So rief's: »Bitte, bitte ein Kreuzerchen nur,
»Meine Mutter ist tot –« damit war's aus,
Die Lügen wollten ihm nicht heraus.

Da schritt wohl mancher Grämling vorbei
Und brummte: »Die lästige Bettelei!«
So mancher tänzelt singend vorüber,
Er hört nicht das Kind und fiel schier drüber;
So mancher fährt mit Bedacht in die Taschen,
Kann die rechte Münze nicht gleich erhaschen.
Doch mancher sieht das Kindlein an,
Und denkt sich: »Wär' ich ein reicherer Mann!«
Drückt ihm einen Kreuzer ins Händchen hinein:
's sieht aus wie ein Goldstück im Sonnenschein.
Und manche Frau, im Vorübergehn,
Beschenkt das Kind und will es nicht sehn;
Durch alle Nerven zuckt ihr ein Riß:
Was gilt's, das ist eine Mutter gewiß!
So ist das Kindlein mit seinen Schmerzen
Ein völlig Maß für der Menschen Herzen.

Lang saß das verkrüppelte Kind so dort,
Gut hatte der Alte gewählt den Ort:
Wohl trug des schmachtenden Würmchens Pein
Bisweilen ihm wuchernde Zinsen ein. –

Doch eines Tags war's nimmer da,
Mich drängt' es zu wissen, was ihm geschah.
Vielleicht erkrankt' es mehr und mehr,
Und läßt sein Plätzchen für lange leer;
Vielleicht ist endlich der Wackre gekommen,
Der mitleidsvoll es zu sich genommen,
Der sorgt, daß es warme Kleider hat,
Und der ihm spendet zu essen satt,
Und der ihm artiges Spielzeug gibt,
Und der es belehrt und der es liebt,
Und der's ihm beweist, nach langem Leide,
Daß Gott die Kindlein erschaffen zur Freude;
Gewiß, gekommen ist er der Mann,
Und nahm sich des armen, verlassenen an.

Und froh, als wär's mein eigner Gewinn,
Halt' ich des Kindleins Geschick im Sinn;
Und als ich abends zu Bette mich legte,
Und schon mich umkoste des Traumes Wehn,
Da war mir, als ob sich etwas regte,
Das Kindlein glaubt' ich vor mir zu sehn;
Ja – ja – da saß es wie sonst, vor dem Tor,
Und betet' und bat und weint' und fror,
Der Nord zerschnitt ihm die blauen Wangen,
Eiszäpflein hatt' es am Kleide hangen.
Schon gingen weniger Menschen vorüber,
Die garstige Kälte trieb sie nach Haus,
Und trüber wurd' es, immer trüber,
Und spärlicher fielen die Gaben aus;
Schon dämmert' unheimliches Abendlicht, –
Der grausame Alte kam noch nicht.

Da ward es dem Kindlein im Herzen bang.
»Ach,« rief es, »Vater, wo bleibst du so lang'?
Mich friert, mich hungert, ich kann's nicht ertragen,
Die Arme, die Füße wie abgeschlagen,
Im Herzen und Kopfe brennt es wie Glut, –
Komm, Vater, du weißt nicht, wie weh es tut! –
Du kommst nicht? – Hast du meiner vergessen? –
Schon lange genug bin ich hier gesessen! – –
Ach, Vater unser, so höre mich du,
Und schick einen freundlichen Führer mir zu,
Der meine Schritte nach Hause lenke,
Und mir ein kleines Almosen schenke;
Sonst schilt mein Vater mich zürnend aus:
Gar wenig bring' ich ihm heute nach Haus!« –

Und wie so das Kindlein verschmachtend fleht,
Da fühlt es sich plötzlich lau umweht,
Und glänzend tritt aus dem finsteren Tor
Ein freundlich lächelnder Knab' hervor,
Mit Locken so golden, mit Augen so licht,
Aus denen die Lieb' und das Mitleid spricht.
Der bleibt vor dem betenden Kinde stehn,
Und lispelt ihm zu: »Willst mit mir gehn?
»Ich führe dich sicher nach Hause mit mir,
»Das beste Almosen schenk' ich dir.«

Das Kind erwidert: »Ach Knabe fein,
Du mußt wohl ein Engel des Himmels sein!«
Ja, – Kinder und Engel erkennen sich! –
Der Engel faßt es gar mildiglich,
Es heimzuführen aus Kreuz und Not,
Und schenkt ihm der Almosen bestes, – den Tod.

———
Das war mein Traum von dem Bettelkind,
Will hoffen, daß Träum' oft Wahrheit sind!
Das Plätzchen vorm Stadttor aber ist leer,
Das Kindlein braucht nicht zu betteln mehr:
Es ist von dem dort aufgenommen,
Der gerne die Kleinen läßt zu sich kommen.

 
Ein trüber Gedanke.

              Die Lockungen der Freude dringen
Von allen Seiten auf mich ein,
Mir aber will es nicht gelingen,
So recht vom Herzen froh zu sein.
Wie Geisterstimmen hör' ich's beben
Durch jede heitre Melodie;
Hier Tanz und Spiel und Lust und Leben,
Und – anderswo verhungern sie!

Und zähl' ich meine kargen Schätze,
Und dank' ich meinem Gott im Geist,
Daß ich getrost zum Tisch mich setze,
An dem mein Fleiß mich sattsam speist,
So will mein Brot nicht recht mir munden,
Das gnädig mir der Herr verlieh:
Ich hab' es ohne Schweiß gefunden,
Und – anderswo verhungern sie!

Und schling' ich liebend meine Arme
Um Weib und Kind, um meine Welt,
So tu' ich's doch nicht sonder Harme,
Ich fühle, daß mir etwas fehlt;
Ich kann sie schützen vor Entbehren,
Sie darben und sie frieren nie:
Welch Glück, sein Weib, sein Kind zu nähren,
Und – anderswo verhungern sie!

Ich gönne jedem seine Wonnen,
Ich lasse jedem seinen Brauch,
Ich habe meinen Platz zum sonnen,
Und wünsch' ihn jedem andern auch.
Ich denke nie mir: »Wär' ich reicher?«
Doch wär' ich's, oh! ich wüßte, wie?
Ich dächte: »Du hast volle Speicher,
Und – anderswo verhungern sie!«

Mir ist die Kunst ein Gast vom Himmel,
Der Rosen uns aufs Leben streut,
Nur bangt mir vor dem Kunstgetümmel:
Es übertäubt den Ernst der Zeit;
Es ist mehr Trunkenheit, als Segen,
Ich such' umsonst die Harmonie:
Hier Blumenhagel, Demantregen,
Und – anderswo verhungern sie!

Sie faseln viel von Menschenliebe,
Sie streiten über Mein und Dein,
Sie greifen in das Weltgetriebe
Mit Schülerhänden meisternd ein,
Sie streuen goldne Zukunftsaaten,
Sie rühmen prahlend, was gedieh,
Sie sprechen, schreiben und beraten,
Und – anderswo verhungern sie!

Das eben scheucht mir von der Stirne
Die echte, rechte Fröhlichkeit;
Was schläft in einem Dichterhirne
Zum Troste für die Not der Zeit?
Was halfen je noch Reim' und Lieder
Dort, wo um Brot der Jammer schrie? –
Aus jeder Zeile tönt mir's wieder:
»Ach – anderswo verhungern sie!«


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