Johann Gabriel Seidl
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Johann Gabriel Seidl

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V.

Das Vaterunser.

        Ein Weib, das den Herrn voll Lieb' umfing,
Und an ihm wie ein Kind am Vater hing,
Trat abendlich, wenn es dunkel war,
Im Kirchlein vor den Hochaltar,
Und warf sich voll Ergebung hin,
Und schüttet aus den tiefsten Sinn.
Und dankt für Lust, erkennt das Leid
Mit kindlicher Unterwürfigkeit,
Gesteht jedweden Fall und Fehl,
Und hat auch das kleinste selbst nicht hehl,
Und spricht zum Schluß ein kurz Gebet,
Worauf es still von hinnen geht.

Der Küster, der das Weib allda
In jeder Abenddämmrung sah,
Steigt einmal, wie sie kommt, aufs Chor
Und legt sich lauernd auf das Ohr.
Und sieh! das Weib kniet wieder hin,
Und schüttet' aus den frommen Sinn,
Und dankt, erkennt, gesteht und fleht,
Und spricht zum Schluß ein kurz Gebet.

Und wie sie spricht, da rollen ihr
Die heißen Tränen für und für,
Und glänzen bei der Ampel Schein,
Als sollten's echte Perlen sein.
Und sieh! ein Täublein wunderbar
Schwebt auf sie nieder vom Altar,
Pickt weg die Tränen, wie sie sind,
Und fliegt damit empor geschwind.

Der Küster sieht's und schleicht ihr nach,
Und fragt sie, welch Gebet sie sprach,
Daß Gott, wie er es selbst gesehn,
Solch Wunder lass' an ihr geschehn;
»Ach,« sagt das Weib, »ich weiß nur eins,
Das Vaterunser, weiter keins!«

»»Das Vaterunser nur? – Ei, seht,
Das ist ja das allermind'ste Gebet!
Doch lerntet ihr einen Psalm gar ein,
Wie würde das erst Gott erfreun!?««

Dem Weibe geht dies Wort zu Sinn,
Und Tag' und Wochen bringt sie hin,
Lernt einen Psalm, gar schwer und lang,
Den schönsten schier, den David sang,
Und geht ins Kirchlein mit frohem Mut,
Und denkt, nun frucht' es doppelt gut.

Doch, wie sie sich abmüht, wie sie spricht,
So leicht ums Herz wird ihr doch nicht,
Und keine Tränen brechen hervor,
Kein Täublein sieht der Küster am Chor.

Drum als sie wieder beten geht,
Da fleht sie, wie sie sonst gesteht,
Und bringt, ergriffen wunderbar,
Gott nur ihr Vaterunser dar.
Und alsbald wieder rollen ihr
Die heißen Tränen für und für,
Und wieder fliegt das Täublein drauf
Und pickt die klaren Perlen auf,
Und schier vernehmbar weht sie's an:
»Ein jeder bete, wie er kann,
Nur warm und wahr, von Trug entfernt,
Nicht wie aus Not, nicht eingelernt;
Gott hört auch das Vaterunser gern:
Es ist ja das Gebet des Herrn!« –

 
Im Walde.

        Wenn ich in dichten Waldesräumen
Mir selbst oft überlassen bin,
Und unter hundertfältigen Bäumen
Hinwandle mit bewegtem Sinn,
Da fühl' ich von ganz eignem Bangen
Mich immer wunderbar befangen.

Die Eichen scheinen mir zu leben,
Voll Ernst auf mich herabzusehn,
Und mit der Blätter leisem Beben
Vernehmlich mir ins Ohr zu wehn:
»Wie wagst du's unter alten Leuten,
Du junges Blut, so keck zu schreiten?

Wir stehen da seit längren Jahren,
Als sie dir einer zählen mag!
Wo warst du noch, als wir schon waren?
Wo trifft dich unser letzter Tag?
Du wagst uns lächelnd anzublicken?
Uns dünkt, du sollst dich vor uns bücken!«

Und wenn mir solches kommt zu Sinnen,
Da zieh' ich allgemach den Hut,
Und schleich' in heil'ger Scheu von hinnen,
Ich unerfahrnes, junges Blut;
Sie scheinen dann mit mildem Fächeln
Des Jünglings Ehrfurcht zu belächeln.


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