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7.

Wunderbar ist eines Menschen und gar eines Dichters Herz. Wie Schilfrohr im Winde schwankt es hin und her, von jedem Lüftchen bewegt. Ein Blick aus einem schönen Augenpaar, ein Wort von süßen Lippen, das Wehen einer blonden Locke, der schwebende Gang einer schlanken Gestalt und alle Entschlüsse und Vorsätze sind dahin, wir sehen die Welt in einem andern Licht. Wo kurz vorher eine dunkle Wolke stand, strahlt jetzt der hellste Sonnenschein, wo wir noch im Augenblicke nur stechende Dornen sahen, sprießt ein blühendes Rosenfeld. Welch ein Zauberer ist unsere Phantasie, welch ein thöricht Ding des Menschen Herz, das sich von ihr leiten läßt! –

So erging es auch Milton, den die Erscheinung Alicens plötzlich von all seinen früheren Gedanken abzog. Mit einem Male war er nun wieder der Dichter, ganz berauscht von dem lieblichen Schauspiel, das er so eben genossen. Als das holde Mädchen indeß verschwunden war und die Richtung nach dem Garten eingeschlagen hatte, empfand auch er unvermuthet den lebhaftesten Wunsche den schönen Morgen im Freien zu genießen. Nirgends aber schien ihm die Natur schöner, die Luft milder, die Sonne heller als in dem Garten, wo er Alice wußte. Schnell wollte er seinen Entschluß ausführen, doch mitten in der Ausführung desselben erfaßte ihn eine unerklärliche Befangenheit. Es war ihm zu Muthe, als ob er im Begriffe stände, etwas Unrechtes zu begehen. Einige Augenblicke schwankte er unschlüssig wie Herkules am Scheidewege; zuletzt aber unterlag er der Versuchung. Nur noch einen Blick warf er auf den schlummernden Freund, der ruhig noch im tiefsten Schlafe lag, dann verließ auch er das Gemach. Langsam stieg Milton die breite Sandsteintreppe nieder, noch immer auf jeder Stufe überlegend, ob es für ihn auch schicklich sei, der Zauberin, die ihn so unwiderstehlich nach sich zog, zu folgen. Sein Weg führte ihn durch eine lange Gallerie, deren Wände mit den erlauchten Ahnen des Hauses bekleidet waren. Indem er einen flüchtigen Blick auf die stattlichen Männer und geschmückten Frauen warf, unter denen sich die höchsten Würdenträger des Staates befanden, fühlte er zum ersten Male die fast unübersteigliche Kluft, welche ihn von der Enkelin dieser hochgestellten Personen trennte. In den stolzen Zügen dieser edlen Lords und frommen Prälaten, zum Theil von Meisterhänden niederländischer Künstler gemalt, glaubte er eine entschiedene Mißbilligung seines Schrittes zu lesen. Erst als er die Gallerie durchschritten und an der geöffneten Pforte stand, welche in den Garten führte, verlor sich diese mit Ehrfurcht gemischte Beklommenheit.

Blumenduft und Vogelsang verscheuchten bald die aufsteigenden Besorgnisse des Dichters. Wie anders und um wie viel freier schlug sein Herz unter den rauschenden Bäumen, als drinnen in den hohen Hallen, deren gewaltige Masse ihn zu erdrücken, deren eisige Kälte ihn zu erstarren drohte. Hätte er Alice dort gefunden, wie verschieden wäre seine Begegnung mit ihr gewesen, kaum hätte er sie anzureden gewagt. Hier im Garten fehlte es ihm weder an Muth noch Luft dazu. – Es verging jedoch noch eine geraume Zeit, ehe er seinen Vorsatz auszuführen vermochte. Die sorgfältig gepflegten Kiesgänge führten nach den verschiedensten Richtungen, von denen Alice doch nur eine einzige eingeschlagen haben konnte. Milton irrte daher durch ein Labyrinth von Blumenbeeten, verschwiegenen Boskets und schattigen Laubgängen, ehe er das schöne Mädchen fand. Der Garten war im Geschmack jener Zeit äußerst weitläufig angelegt und zerfiel in mehrere Abtheilungen. Noch hatte damals nicht in England der französische Gartenstyl, der selber in seinem Vaterlande erst im Entstehen begriffen war, mit seinen steifen Formen Eingang gefunden. Weit mehr herrschte der italienische Geschmack in den Gärten der Vornehmen, angepaßt den eigenthümlichen Verhältnissen. Ein besonderer Raum war für Küchengewächse, ein eben solcher für die wichtigsten Heilkräuter abgezweigt, daran schloß sich der eigentliche Luxusgarten. Mehrere Stufen führten zu demselben hinauf, da er terrassenförmig den Berg emporstieg, auf welchem das Schloß lag. Eine Reihe von Orangen- und Citronenbäumen, damals noch eine größere Seltenheit als jetzt, faßten den Hauptweg ein. Zwischen ihnen standen einige Statuen nach griechischen Vorbildern von englischen Bildhauern gearbeitet, welche Zeugniß ablegten, daß auch dieser bisher vernachlässigte Kunstzweig eine sorgfältigere Pflege fand. Die Blumenbeete konnten allerdings keinen Vergleich mit unserer heutigen Kultur aushalten, da dieselben sich größtentheils auf einheimische Pflanzen beschränkten und alle die exotischen Gewächse der Neuzeit ihnen mangelten. Dafür entschädigten die üppigen Boskets und einzelne Baumgruppen von außerordentlicher Schönheit. Ein lebendiger Quell, welcher dem Felsen entsprang, rieselte in geschlängelten Windungen durch den ganzen Garten und verbreitete überall eine liebliche Kühle. Rauschend stürzte er in ein Bassin hernieder, in dessen Mitte sich eine Gruppe von badenden Nymphen und schwimmenden Tritonen befand, die in ihren Händen und an ihren Lippen gewundene Muschelhörner hielten. Um den Rand des Bassins waren mehrere Bänke von Sandstein angebracht, rings von schattigen Büschen umgeben. Von diesem lauschigen Winkel genoß man die köstliche Aussicht zugleich auf das Schloß und zwischen den benachbarten Hügeln den Fernblick auf die fruchtbare Landschaft. Dies Plätzchen war auch der Lieblingsaufenthalt Alicens und hier traf sie der Dichter nach längerem Umherirren in dem weitläufigen Garten.

Ihre zarte Gestalt im weißen Gewand mahnte ihn wohl an die Nymphe des Quells. Schüchtern und mit schwankenden Schritten nahte er ihr. Sie hatte ihn indeß bemerkt und war von ihrem Sitze aufgestanden. Ein zartes Roth färbte ihre Wangen, als sie ihn nach den Begegnissen des gestrigen Tages so unvermuthet wiedersah.

– Verzeiht, sagte Milton, indem er sich tief verneigte, wenn ich durch Zufall Euch in Eurer Einsamkeit gestört habe. Der herrliche Morgen und die Schönheit des Gartens haben mich verführt und da ich die Pforte offen fand, so bin ich ohne Erlaubniß eingedrungen. Zürnt mir nicht wegen meiner Vermessenheit. Ich will sogleich mich wieder entfernen.

– Ihr stört mich nicht, entgegnete sie nicht ohne Befangenheit. Als Gast unseres Hauses seid ihr überall willkommen und ich freue mich, wenn Euch der Garten gefällt. Ihr habt Euch gewiß schon ein wenig umgesehen, doch die schönsten Punkte kennt ihr noch nicht. Ich will sie Euch zeigen.

Ehe Milton ihr danken konnte, war sie behend an seiner Seite. Das zahme Reh, welches bisher zu ihren Füßen gelegen hatte, sprang in anmuthigen Sätzen jetzt nebenher und alle drei wandelten durch den duftigen Garten. Anfänglich stockte wohl noch zuweilen das Gespräch, bald aber überwanden Beide die unter solchen Verhältnissen natürliche Scheu. Alice fand zuerst die nöthige Sicherheit und Selbstbeherrschung wieder. Als Wirthin führte sie ihren Gast von einer Lieblingsstelle zu der andern und machte ihn auf die wechselnde Schönheit der Landschaft und des Gartens aufmerksam. Bald mußte er einen besonders prächtigen Baum, bald eine Blume, die sie selbst gezogen, bald die Aussicht auf eine Ruine aus der Römerzeit, oder auf ein verfallenes altbrittisches Castell bewundern. Zuweilen versetzte sie selbst ein derartiger Anblick von Neuem in Entzücken und sie unterbrach mehr als einmal das eben begonnene Gespräch mit dem Ausruf: O! wie herrlich, wie bezaubernd! – Dann ließ es Milton nicht an seinen beistimmenden Worten fehlen, wobei er mit seinem poetischen Sinn der Schönheit der Landschaft und des Schlosses die vollste Gerechtigkeit widerfahren ließ. Wunderbarer Weise stimmten Beide in ihrem Wohlgefallen immer überein und was Alicen hinriß, entzückte auch sicherlich stets den begeisterten Dichter. Nie hatte er so viel Schönheiten in der Natur entdeckt und genossen, als an der Seite seiner holden Begleiterin. In der That erschien ihm der Garten wie ein Paradies, worin er sich mit Alice die Rolle des ersten Elternpaars in Gedanken zuertheilt haben mochte. So gingen sie hin, vorüber wie im Traum an den duftenden Blumenbeeten, an den weißen Marmorbildern, durch die schattigen Laubengänge von rankenden Weinreben gebildet. Langsam stiegen sie zu der Terrasse empor, wo sie an die Steinbalustrade gelehnt in die Tiefe gedankenvoll niederschauten. Zu ihren Füßen breitete sich das sonnige Thal mit seinen zerstreuten Häusern und Hütten aus. Zwischen üppigen Wiesen und bläulichen Saatfeldern floß der ruhige Strom. Von seinen Wellen getrieben drehte sich das Mühlrad im raschen Schwung und die Tropfen, welche von den Speichen stäubten, funkelten im strahlenden Morgenlicht wie Schnüre von Demanten und Perlen. Sanft gleitete ein Nachen auf den Wellen hin und die Morgenglocken der ihren Blicken entzogenen Kathedrale von Ludlow tönten wie ferne Geisterstimmen zu ihnen herüber.

Hier genossen sie Augenblicke, wie sie nie im Leben wiederkehren, Momente des reinsten Glückes. Was Alice zu Milton sprach, klang wie eine Offenbarung für ihn. Die wundervolle Umgebung, der herrliche Maitag schloß ihre ganze Seele auf. Schnell hatte sie Vertrauen zu dem ihr nicht gänzlich unbekannten Dichter gefaßt; er war ihr kein Fremder mehr. Sie nahm keinen Anstand, ihm ihre innersten Gedanken und Empfindungen mitzutheilen. Was er hier entdeckte, glich der Natur, die ihn umgab. Frühlingswonne und Frühlingsleben wogte in ihrer Brust, sonnige Reinheit und Klarheit erfüllte ihre Seele und in ihrem Herzen blühte und duftete der Zaubers der Unschuld. Ihr hochgebildeter Geist erging sich an seiner Seite in dem Wunderreich der Poesie. Die Dichter ihres Vaterlandes waren ihre steten Freunde und Begleiter gewesen, aber selbst die Schriftsteller fremder Nationen, sogar das klassische Alterthum war ihr nicht ganz fremd geblieben. Alice hatte wie viele edle Frauen und Mädchen jener Zeit eine weit sorgfältigere Erziehung genossen, als unsere heutige Damenwelt. Sie hatte Ariost und Tasso im Original kennen gelernt und selbst den Versuch gewagt, Virgil und Horaz in der Ursprache zu lesen. Solche Kenntnisse waren in den Tagen der wieder erwachenden Wissenschaft unter den höherm Ständen nicht ungewöhnlich und man traf darunter so manche Frau, welche mit ächt weiblicher Anmuth und Liebenswürdigkeit eine tiefere Gelehrsamkeit und mehr als oberflächliche Kenntnisse des klassischen Alterthums verband. Die Töchter des Kanzler Morus, die durch ihr trauriges Schicksal berühmte Jane Grey und die Königin Elisabeth wetteiferten in dieser Hinsicht mit den gebildetsten Männern ihrer Zeit. Auch Alice, welche auf den Wunsch des Vaters an dem Unterricht ihrer Brüder Theil genommen hatte, überraschte den staunenden Milton durch einen Schatz von gediegenen Kenntnissen, die ihr in den Augen des jungen Gelehrten einen neuen Reiz verleihen mußten.

Wie entzückte es ihn, bald ein klassisches Citat, bald die melodischen Verse aus dem befreiten Jerusalem oder dem rasenden Roland von solch schönem Munde zu hören; und wie leuchteten dagegen ihre Augen, wenn er mit ihr von den Schönheiten des Alterthums, von den Gesängen Homers oder den erhabenen Dramen des Aschylus sprach. Sie vermochte ihm überall hin zu folgen und verrieth das innigste Verständniß mit einer Welt, welche sonst der gewöhnlichen Denkweise eines jungen Mädchens fern liegt. Unmerklich wurde sie zur Schülerin, die begeistert an den Lippen ihres neuen Lehrers hing. Wie Abälard und Heloise in früheren Jahrhunderten das süße Gift der Liebe aus dem Becher der Wissenschaft und Forschung leerten, so stahl sich auch hier die wachsende Neigung unter der Maske der Lernbegierde und des Bildungstriebs in die Herzen Miltons und Alicens ein. Die Strophen und Gesänge längst vermoderter Dichter glichen den Samenkörnern, welche man in Jahrtausende alten Gräbern Aegyptens aufgefunden hat, und die in fruchtreiches Erdreich gesenkt von Neuem keimen, blühen und Früchte tragen.

Aber nicht nur die Gedankenwelt der hellenischen und römischen Vorzeit bot ihnen unzählige Berührungspunkte, auch die Gegenwart mit ihrer aufgeregten, religiösen Stimmung forderte zu einem gegenseitigen Austausch der Ansichten auf, wobei die wichtigsten Fragen der Menschheit in Betracht kamen. Alice besaß wie die meisten Frauen ihrer Zeit ein lebendiges Gefühl für die ewigen Wahrheiten des Christenthums. Der Glaube an den göttlichen Erlöser und die volle Hingebung an seine Lehren und sein Beispiel bildeten den Grundton ihres ganzen Wesens. Der frühere Hauslehrer ihrer Brüder, Jeremy Taylor, welcher später einer der berühmtesten Theologen Englands und die Hauptzierde der bischöflichen Kirche wurde, hatte Alicens religiösen Sinn frühzeitig gebildet und eine bestimmte Richtung gegeben. Sie bekannte sich offen zu der herrschenden bischöflichen Kirche, während Milton sich schon damals zu der freieren Anschauung der verfolgten Sektirer hinneigte. Der Widerspruch, welcher sich in dieser Beziehung zwischen Beiden geltend machte, war für sie eher ein Anziehungs- als ein Scheidungspunkt. Gegenseitig bemüht, sich zu überzeugen, verliehen sie ihrer Unterhaltung ein eifriges Interesse und indem sie ihre abweichenden Meinungen vertheidigten, stieg die persönliche Hochachtung und Zuneigung füreinander.

Es war gewiß ein eben so eigenthümliches als anziehendes Schauspiel, das sich dem Beobachter hier darbot. Ganz im Geiste jener Tage tauschten diese zwei junge Leuten, deren Herzen von Liebe erfüllt waren, Angesichts der blühenden Natur, nicht ihre zärtlichen Gefühle, sondern scharfsinnige Ansichten und Gedanken über die subtilsten theologischen Fragen aus. Ein heiliger Bekehrungseifer röthete die Wangen des lieblichen Mädchens, ließ die glänzenden Augen des Dichters heller erstrahlen, wenn er angeregt von seiner Freiheitsliebe mit begeisterten Worten gegen die Tyrannei der Regierung und der Bischöfe seine Stimme erschallen ließ.

– Nein, nein! sagte er im Eifer des Gespräches. Ihr könnt nicht läugnen, edles Fräulein, daß die bischöfliche Kirche sich mit jedem Tage mehr der römischen wieder zuneigt und uns den Katholicismus mit dem ganzen Gefolge seiner Abgötterei und dem Geisteszwange der Inquisition wieder aufnöthigen will.

– Da sei Gott für, erwiederte Alice mit dem ungeheuchelten Entsetzen einer guten Protestantin jener Zeit.

– Hat man nicht, fuhr Milton fort, schon gewagt, unser heiliges, kaum errungenes Paladium wieder anzutasten? Mit scheelen Seitenblicken sieht man auf die Bibel, welche aus dem Staub gezogen und der Menschheit wieder gegeben ist. Will man uns nicht dieses Banner von Neuem entreißen, um das sich die nach Offenbarung dürstenden Seelen schaaren, das die Märtyrer aus ihrem Todesschlaf erweckt, damit sie laut ihr Zeugniß ablegen und die Finsterniß bekämpfen helfen, in welche man gewaltsam uns stürzen will. – Sprechen diese Anzeichen nicht vernehmlich und deutlich genug für den, welcher Ohren hat zu hören und Augen um zu sehen? Was ist diese bischöfliche Kirche anders, als der verkleidete Katholicismus?

– Ihr geht zu weit. Der König ist ein guter Protestant und wird den theuer errungenen Glauben nimmer mehr verrathen.

– Und hat er nicht durch die Wahl der katholischen Gattin dem hereinbrechenden Übel selber jeden möglichen Vorschub geleistet? Aber er wird seine Irrthümer zu spät einsehen. Statt das Königthum zu schützen und zu befestigen, hat dasselbe keinen tödtlicheren Feind als das Episkopat. Wenn dasselbe sich an den Thron anklammert, so geschieht es lediglich, um ihn zu stürzen. Freilich wird den Royalisten oft genug gesagt: keine Bischöfe, kein König mehr, aber sie wissen nicht, daß dieses Stichwort von den Jesuiten herrührt, um die Art der Reformation abzustumpfen, nachdem diese bereits die Wurzeln des Papstthums angetastet hat. Ich will nicht erst Beispiele anführen wie Thomas von Kanterbury und den stolzen Wolsey, welche gegen ihre Herrscher sich mit Rom verbündet hatten und die schlimmsten Feinde des königlichen Ansehens waren, nur die eine Frage sollt Ihr mir beantworten? Worauf stützt sich die Herrschaft der Fürsten, wenn nicht auf die Zahl, die Kraft, den Reichthum und die Liebe ihrer Unterthanen? Das Episkopat aber hat ohne Achtung und Gewissensbisse diese Bollwerke und Schutzwälle der Krone zerstört. Seine Hauptwaffe ist die religiöse Verfolgungssucht – Wer weiß nicht, wie viele tüchtige, freigeborne und christlich gesinnte Engländer den heimischen Herd um ihres Glaubens willen verlassen mußten und keine andere Zufluchtsstätte fanden als den wüsten Ocean und die wilden Einöden Amerikas? Ach! wenn unser theures Vaterland sich verkörpern könnte, in welcher Gestalt, glaubt ihr wohl, daß es in diesem Augenblick erscheinen würde? In Trauerkleidern, Asche auf das Haupt gestreut, die Augen in Thränen gebadet würde es vor uns stehn, weinend und klagend bei dem Anblick seiner verfolgten und vertriebenen Kinder, die nackt in das Elend hinausgestoßen werden, weil ihr Gewissen sich gegen den ihnen zugemutheten Zwang empört.

– Ich beklage gewiß mit Euch, sagte Alice von der Schilderung des Dichters ergriffen, diese traurigen Vorgänge, welche jeder Vernünftige mißbilligen muß. Auch mein Vater hat bereits sich in diesem Sinne ausgesprochen, selbst auf die Gefahr hin, am Hofe Mißfallen zu erregen. So viel an ihm liegt, sucht er gegen die Sektirer, ein mildes und schonendes Verfahren zu beobachten; aber verschulden nicht diese Puritaner und Presbyterianer ihr eigenes Geschick? Wollen sie nicht durch ihre gränzenlose Liebe zu einer mißverstandenen politischen und religiösen Freiheit die Grundfesten umstürzen, auf denen unser ganzes Staatsleben beruht, bedrohen sie nicht die geheiligte Majestät des Königs wie das Ansehen der Kirche?

– Verzeiht, mein edles Fräulein, aber ich höre Euch sprechen, wie die meisten Anhänger der bischöflichen Kirche. Seit ewigen Zeiten haben sich die Priester mit der Kirche selbst, oder vielmehr mit dem Glauben und der Religion verschmolzen hingestellt. Beide sind aber wesentlich von einander verschieden wie das Gefäß von seinem Inhalt; das Gold von dem Bergmann, der es gräbt, oder dem Arbeiter, der es formt. Der Wein bleibt Wein, ob er von irdenen oder silbernen Bechern umschlossen wird und das Gold verliert nicht seinen innern Werth, ob es diese oder jene Fassung an sich trägt. Nicht das Wort, sondern der Geist und der Gedanke machen lebendig.

– Aber der Inhalt verlangt auch seine bestimmte Form, ohne die er nicht bestehen und sich behaupten kann.

– Diese Form ist auch vorhanden und zwar gegeben durch Christus selbst, durch den Erlöser und den Heiland der Welt. Gerade dieses reine Gold wollen die so gänzlich verkannten Puritaner von allen irdischen Schlacken befreit wieder herstellen. Sie gehen zu den Urquellen des Christenthums zurück, aus den heiligen Büchern, welche uns die Apostel hinterlassen haben, schöpfen sie ihren Glauben. Das Wort soll nicht länger ein Wort bleiben, sondern Fleisch, das Christenthum zur vollen Wahrheit werden. Sagt selber, ob dies jetzt schon der Fall ist. Wo findet ihr in England christliche Liebe, Duldung, Selbstentsagung und Hingebung? Am Hofe herrscht der Uebermuth und das Laster zeigt sich ungeschminkt in der Nähe des Königs. Seine Höflinge geben ein tägliches Aergerniß durch ihren üppigen Lebenswandel, durch die Frechheit ihres Betragens. Die Bischöfe, welche sich die Nachfolger der Apostel nennen, sind weit davon entfernt, einem solchen Beispiele zu folgen. Sie würden über Eure Thorheit lachen, wenn Ihr ihnen zumuthetet in Armuth zu leben und sich die schweren Entbehrungen ihrer heiligen Vorgänger auszulegen. Statt dessen schwelgen sie in den reichen Einnahmen, welche sie dem armen Volke entpressen. Gleich aufgeblähten Schwämmen saugen sie sich voll von Gold. Wo ist die gepriesene Demuth hingerathen? Ihr geistlicher Hochmuth und Stolz hat keine Gränzen mehr. Wehe dem, der sich nicht vor ihrem Ansehen beugt. Die schwersten Bußen und Erpressungen werden ihm von der furchtbaren Sternkammer, diesem Gerichtshof der Hölle, auferlegt. Sagt selber, ob ich übertreibe. So werden die Lehren des Christenthums befolgt, das in solcher Gestalt nur wie eine große Lüge, eine furchtbare Heuchelei erscheinen muß.

– Und diese mächtige Revolution wollen Eure Puritaner vollbringen? Was können und was werden sie an die Stelle setzen?

– Gott und die Freiheit, rief der Dichter begeistert aus. Nicht jene irdische Willkür, welche zügellos zum Umsturz alles Bestehenden treibt und die gesellschaftliche Ordnung in ihren Grundfesten erschüttern will, sondern eine Freiheit des Geistes, eine Tochter des Himmels, die aus dem Christenthume und der heiligen Schrift selber entspringt und auf den ewigen Lehren derselben beruht. Wie wir im Staate einen König anerkennen, dem zur Seite die edelsten und würdigsten Bürger stehen, das durch die freie Wahl des Volkes hervorgegangene Parlament; so soll auch die Kirche in dem Könige, den Stellvertreter des Heilands, ehren, der nach der Schrift das Scepter Davids in seinen Händen hält. Um ihn aber müssen sich die weisesten und edelsten Männer schaaren, ebenfalls hervorgegangen aus freier Wahl, die Verkündiger des göttlichen Wortes. Die Kirche Englands will keinen unumschränkten Papst, keine Bischöfe, welche ein königlicher Machtspruch ernennt, sondern wie zu den Zeiten der Apostel, nur vom Volk bestellte Priester und Diakonen. Wenn diese dem Beispiele ihrer Vorgänger treulich folgen und aus denselben Quellen, wie jene schöpfen, dann wird auch das Christenthum zu seiner ursprünglichen Reinheit zurückkehren und Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe und Duldung die Herzen all seiner Bekenner erfüllen. Dann wird in Mitten der Hymnen und Hallelujahs der Heiligen sich eine Stimme in hohen Weisen und voll neuer und süßer Melodien vernehmen lassen, um der göttlichen Vorsehung Lob zu singen und sie zu preisen, daß sie dies Land für alle Jahrhunderte gerettet, diese Nation von allen Irrthümern befreit, und zu der weisesten frömmsten und besten auf der Erde erhoben hat. Schon sehe ich wie die Wollen zerreißen und strahlend das Heil der Welt auf uns nieder blickt, das auserwählte Volk segnet mit der Fülle seiner Gnade, ein Ende setzt jeder irdischen Tyrannei, und herausbeschwört ein Reich der Liebe und des Friedens, worin in Eintracht alle Gläubigen wohnen und laut die Güte und die Huld des Herrn preisen.

O, daß Ihr wahr sprächet, erwiederte Alice mit strahlenden Augen, daß dieser Wunsch in Erfüllung ginge! – Wenn ich Euch auch nicht in jeder Beziehung beipflichten kann, so doch in dem Einen, daß die Zeit der gegenseitigen Duldung und Nachsicht bald kommen möge. Wie oft hörte ich aus dem Munde meines verehrten Lehrers Jeremy Taylor ähnliche Worte. Auch er war ein Feind jeglicher Verfolgung und obwohl ein strenger Anhänger der bischöflichen Kirche, dennoch voll Milde und Sanftmuth gegen Andersgläubige. Wie wunderbar! Wenn ich Euch Herr Milton, sprechen höre, so ist es mir gerade zu Muthe, als stände er vor mir. Ihr besitzt dieselbe Begeisterung, dieselbe reich geschmückte, blühende Redeweise wie jener treffliche Mann und selbst der Klang Eurer Stimme mahnt mich an ihn. Er hätte Euch besser auf eure Gründe geantwortet als ein unwissendes Mädchen kann. Denn er war ein hochgelehrter Mann und in der Theologie besonders wohlbewandert. Gewiß er wäre für Euch ein ebenbürtiger Gegner gewesen. Wie Schade, daß er nicht mehr hier ist, denn trotz Eurer entgegengesetzten Meinung hättet ihr Euch sicherlich mit ihm befreundet. Edle Männer, so hörte ich. ihn oft sagen, bekämpfen einander, ohne sich zu verfolgen. Nur Gott allein kennt die Wahrheit, darum ist es sträflich, wenn Menschen sich zu Richtern und Rächern derselben aufwerfen wollen. Die verschiedensten Wege können zu demselben Ziele führen, an dem sich die Guten aller Zeiten und Länder, mögen sie auch von den entgegengesetzten Punkten ausgegangen sein, am Ende doch wiederfinden, um sich in Friede und Liebe die Hand zu reichen. So wollen wir auch jetzt thun, obwohl wir von einander, wie ich sehe, in manchem wesentlichen Punkt abweichen und wo wir uns auch treffen mögen, sei unsere Losung und das Wiedererkennungszeichen: Duldung und Nachsicht, Freundschaft und Liebe.

Leise flüsterte das treffliche Mädchen die letzten Worte, welche in ihrem Munde noch eine andere und süßere Bedeutung für den glücklichen Dichter erhielten. Milton ergriff die ihm dargebotene Hand und hielt dieselbe lange sprachlos in der Seinigen wie ein Pfand, das er nie wiederzugeben gesonnen war. So feierten hier in dem blühenden Garten die entgegengesetzten Parteien im Voraus das heilige Fest der Versöhnung, welche erst nach langen blutigen Bürgerkriegen England zu Theil wurde. Irdische und göttliche Liebe, wunderbar mit einander verschmolzen, vollbrachten in einem Augenblick das hohe Werk, woran die Staatskunst der größten Politiker, die Ueberredungskraft der bedeutendsten Redner, die Anstrengung eines ganzen, mächtigen Volkes vergebens viele Jahre arbeiteten. Ein flüchtiger Moment bewirkte, was Jahrzehnte nicht vermochten und füllte die Kluft aus, welche den Parteien unüberwindlich schien, heilte die tiefsten Wunden und goß den Balsam des Friedens in die aufgeregten Wellen der Zeit.

Willig überließ Alice dem Dichter ihre Hand. So standen sie auf der Terrasse, an die Ballustrade gelehnt und schauten bald in das sanfte Thal zu ihren Füßen, bald Aug in Auge tief versenkend. Die Begeisterung hatte sie stumm gemacht. Was konnten sie einander noch nach solchen Worten sagen? Jedes andere Gespräch hätte nur die Heiligkeit dieser Stunde und die ernste Weihe des köstlichen Augenblicks gestört. Nur die verhallenden Glockentöne der Kathedrale, welche Friede und Freude den Menschen verkündigten, fielen harmonisch in die Andacht der jungen Herzen ein, welche heute ihre Auferstehung, den Ostermorgen der erwachenden Liebe, feierten.


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