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Erstes Buch.

 


 

1.

Durch den Haywood-Forst, einen jener prächtigen Wälder, welche einst das alte England aufzuweisen hatte und die auch dort immer seltener angetroffen werden, ritten zur schönsten Frühlingszeit zwei junge Edelleute in Begleitung ihrer Schwester. Sie hatten ihren Verwandten in Harefield, dem edlen Hause der Derby's, einen Besuch abgestattet und kehrten nunmehr nach ihrer Heimat Ludlow-Castle zurück. Ihr Vater war der Graf von Bridgewater und zur Zeit Präsident von Wales. Er selber stammte von jenem berühmten Rechtsgelehrten Thomas Egerton ab, welcher unter der Regierung der Königin Elisabeth und ihres Nachfolgers das hohe Amt eines Schatzkanzlers bis in sein spätestes Alter mit Auszeichnung bekleidet hatte.

Ein solcher Adel der Gesinnung und Geburt hatte sich in der hochgestellten Familie fortgeerbt. Die Enkel, eben erst in das Jünglingsalter getreten, waren nicht aus der Art geschlagen und die reizende Schwester Miß Alice Egerton galt im ganzen Lande für eines der schönsten und liebenswürdigsten Mädchen. Die drei Geschwister blühten gleichmäßig im frischesten Jugendglanz. Eine innige Freundschaft hielt das Kleeblatt umschlungen und bisher hatte kein Unfall ihren reinen Lebenslauf getrübt; Lust und Freude leuchtete von ihren Wangen und strahlte aus den hellen Augen.

So ritten sie durch den frühlingsgrünen duftigen Forst in sorglos scherzendem Gespräche. Artige Neckereien, wie sie nur die Jugend kennt und liebt, erregten ihr frohes Gelächter, in das die Vögel des Waldes mit ihrem lustigen Zwitschern und Singen dann und wann harmonisch einfielen. – Der Forst von Haywood bestand, wie fast der größte Theil der Grafschaft Herefordshire, in der er liegt, aus einer Reihe wellenförmiger Hügel und Anhöhen, die hier mit mächtigen Buchen und Eichen bewachsen waren. Die Hauptstraße, auf welcher die Reisenden sich zur Zeit befanden, lenkte bald an einer tiefen Schlucht, bald an einem steilen Berg vorüber, von dem ein kleiner Waldbach rauschend niederschoß. Mannigfache Nebenwege kreuzten den Hauptpfad und führten immer tiefer in die Wildniß hinein. Dort gab es noch verborgene Stellen, die selten oder nie ein menschlicher Fuß betreten hatte, zu denen noch keine mörderische Art gedrungen war, jungfräuliche Heiligthümer mit allen Reizen und dem Schauer der einsamen, unentweihten Natur bekleidet.

Solch einen Nebenweg hatten die Reisenden ohne es zu ahnen im Eifer ihres Gespräches eingeschlagen. Sie merkten während ihrer emsigen Unterhaltung nicht, daß sie vom gebahnten Pfade und der bekannten Hauptstraße abgekommen waren. Der wunderbare Zauber dieser schönen Wildniß nahm sie gefangen. Es war so herrlich in der grünen Stille des Waldes. Da standen jene uralten Eichen, Patriarchen der Schöpfung, welche über ein jüngeres Geschlecht von schlanken Birken, Ahorn, Rüstern und wilden Kastanien wie segnend ihre knorrigen Arme breiteten. Um ihre mächtigen Stämme rankte der schmiegsame Epheu leicht empor, wuchsen, grauen Bärten gleich, die langhaarigen, silberfarbenen Moose, wucherten gelbbraune Schwämme und die geheimnißvolle Mistel, eine neue Pflanzenwelt, welche Leben und Nahrung aus diesem seltsamen in die Höhe strebenden Mutterboden sog. An den Spitzen der Aeste leuchteten die jungen röthlichen Triebe wie zuckende Flammen, die Zeugen einer noch immer ungeschwächten Kraft.

Das sind prächtige Burschen, bemerkte der jüngere Bruder Thomas Egerton, indem er heiter auf die Riesen des Waldes deutete. Solch schöne Eichen erinnere ich mich nie hier zuvor gesehen zu haben, obgleich ich doch mehr als fünfzigmal durch den Haywood-Forst geritten bin.

Ich glaube in der That, daß wir vom Wege abgekommen und zu tief in den Wald hinein gerathen sind, entgegnete der ältere John, bei Lebzeiten des Vaters Lord Brackley genannt. Die Gegend erscheint mir ganz fremd und unbekannt.

Aber wunderherrlich, rief mit leuchtenden Augen die schöne Alice, welche zwischen den beiden Brüdern auf ihrem weißen Damenzelter ritt. Hier möchte ich gleich den ganzen Tag verweilen.

Wie Celia im Ardennenwald, scherzte Thomas. Daran erkenne ich gleich meine liebe Schwester, die stets an ihren Shakespeare denkt. Wohlan! ich stehe zu Diensten; laßt uns hier Hütten bauen. Ich werde dein Orlando sein, wenn unser melancholischer Jaques nichts dagegen hat.

Mit diesem Namen aus Shakespeare's »Wie es euch gefällt« bezeichnete der heitere Jüngling den ernsteren Bruder, welcher als der Erstgeborne nach der Sitte des Landes eine gewisse Autorität über seine jüngeren Geschwister ausübte. Weit entfernt jedoch, von seinem Ansehen jetzt Gebrauch zu machen, fügte sich John ihren Wünschen, obgleich er durch das Abkommen vom rechten Wege mehr beunruhigt war, als er es sich merken ließ.

Gut denn! Wenn ihr müde seid, sagte er anscheinend sorglos, so können wir immerhin noch eine Stunde rasten. Die Sonne steht noch hoch und wir werden hoffentlich bald wieder auf die Hauptstraße kommen. Einstweilen wollen wir hier unser Mittagsmahl wie Robin Hood im Freien einnehmen und uns unter den schattigen Bäumen lagern.

Gesprochen wie ein Salomo, jubelte der lustige Thomas. Ich rufe mit Orlando aus: Ich sterbe fast vor Hunger, gebt mir Speise.

Mit diesem klassischen Citate, dem alten wohlbekannten Dichter entlehnt, sprang der Uebermüthige von seinem Roß herab und beeilte sich der geliebten Schwester seine Dienste als ihr Stallmeister anzubieten, während er dem bedächtigeren John die Sorge überließ, die Zügel der Thiere an einen Baumstamm zu befestigen und die mitgebrachten Vorräthe abzupacken. Die jungen Reisenden führten keine Diener mit sich, da sie zum Schutze für die Schwester ausreichten und keinen lästigen Begleiter in ihrer Nähe dulden wollten.

Auf dem weichen, grünen Rasen und unter dem Schatten einer jener uralten Eichen lagerte sich die fröhliche Karawane, um ihr einfaches Mahl einzunehmen. Die Brüder hatten für Alicen aus ihren Mänteln einen kostbaren Sitz bereitet und behandelten sie überhaupt mit der größten Aufmerksamkeit. Bei ihrem Benehmen verbanden sie den Ton der verwandtschaftlichen Liebe mit jener zarten, damals üblichen Galanterie, welche aus den Zeiten der Königin Elisabeth herrührte, als ganz England noch anbetend zu den Füßen seiner jungfräulichen Fürstin lag. Die Huldigungen, welche der ersten Frau der Welt gezollt wurden, gingen bald auf das ganze weibliche Geschlecht über und wurden zur Modesache. Es bildete sich ein ganz besonders überschwänglicher Kultus der Frauen mit eigenen Gebräuchen und Ausdrücken. Diese übertriebene Sprache der Höflichkeit verlieh der Unterhaltung der Geschwister einen gewissen phantastischen Reiz und mischte in ihre Gespräche die Würze einer feinen, schalkhaften Ironie. Besonders zeichnete sich in dieser Beziehung der jüngere Thomas aus. Er gefiel sich in der angenommenen Rolle eines irrenden Ritters und schmachtenden Schäfers jener Tage, die er mit eben so viel Grazie als sprudelnder Laune zu spielen wußte. Seine Schwester behandelte er ganz wie eine eingebildete Geliebte und überhäufte sie darum mit den zierlichsten Phrasen und gedrechselten Redensarten, die er den Modeschriftstellern der Zeit, einem Philipp Sidney und Walter Raleigh glücklich abgelauscht hatte. –

Edles Fräulein! sagte er, die Speisen ihr vorlegend und mit einem leisen Anstrich von heitrem Spott, wollt Ihr nicht von dieser zarten Wildpastete genießen. Schon lange sehnt sich dieser Rebhuhnflügel, die Bekanntschaft Eurer süßen Lippen zu machen. Könnt Ihr so grausam sein und ihm diese Gunst versagen?

Lachend und auf seinen Scherz eingehend dankte ihm Alice, indem sie ganz im Geiste der ihr zugedachten Rolle eines romantischen Fräuleins antwortete.

Wie, Ihr habt keinen Hunger? fragte er. Edle Dame, solltet Ihr vielleicht an einem geheimen Kummer leiden, und mit Eurem Appetit auch zugleich Euer Herz verloren haben? Ist es vielleicht jener blonde wallisische Ritter Namens Carbury, der mir Eure Gunst geraubt, oder unser Philosoph, Sir Kenelm Digby, der durch magische Künste schon manches weibliche Herz umstrickt hat, obgleich er noch immer den betrübten Wittwer spielt? – Antwortet, oder beim Zeus! diese Waffe, welche soeben erst die saftige Hammelkeule zerlegte, wird meinem elenden Dasein ein Ende machen, wenn Ihr mir keine Hoffnung gebt.

Haltet ein! rief Alice mit erheuchelter Angst. Ich schwöre Euch bei der keuschen Diana und allen ihren Nymphen, daß weder Sir Carbury noch unser Vetter Ding unserem Herzen näher steht als Ihr.

Aber auch kein Dritter? Da war noch in dem Hause der guten Tante Derby ein junges Dichterlein mit einem so feinen, schwärmerischen Angesicht, daß ich geneigt war, ihn für ein verkleidetes Mädchen, für eine arkadische Schäferin zu halten. Selbiger Poet beschäftigte sich ganz besonders mit meinem holden Schwesterchen und verwendete keinen seiner feurigen, stumm beredten Blicke von ihrem Angesicht.

Ich weiß wirklich nicht, wen du meinen kannst, erwiederte das erröthende Mädchen mit einiger Verlegenheit.

O Verstellung! dein Name ist Weib, parodirte der Jüngling im neckenden Tone. Solltest du wirklich nicht einen gewissen John Milton, den zierlichen Dichter der Ariadier, in dem Hause unserer Tante, der Gräfin Derby, bemerkt haben?

Allerdings habe ich ihn gesehen, entgegnete Alice scheinbar unbefangen. Auch habe ich einige Worte mit ihm gesprochen. Er schien mir einsylbig und menschenscheu.

Sag lieber unbeholfen und linkisch, wie die meisten Männer, welche mehr mit ihren Büchern, als mit der Welt und den Menschen verkehren, bemerkte der ältere Bruder, der bisher stillschweigend dem Gespräche zugehört hatte.

Ich finde diese Unbeholfenheit durchaus nicht lächerlich, antwortete das holde Mädchen ein wenig gereizt. Dichter sind wie die Nachtigallen; sie schweigen in laut schwatzender Gesellschaft und singen am schönsten in der Einsamkeit.

Gut gegeben, scherzte Thomas. Doch ich halte es lieber mit diesen gebratenen Fasanen als mit all euren poetischen Nachtigallen und ähnlichen unnützen Singvögeln.

Alice spöttelte lächelnd über die prosaische Natur des Bruders, während dieser sie im heiteren Tone mit ihrer Vorliebe für Poesie und Poeten anmuthig auszog. Der ältere Bruder hörte einige Zeit den hin- und herfliegenden Wortwitzen zu, ohne indeß seine gewohnte Vorsicht zu vergessen. Mehr als einmal schon hatte er voll Besorgniß die scherzhafte Unterhaltung durch seine Mahnung unterbrochen, das Gespräch zu beenden und sich auf den Weg zu machen, da die Zeit im raschen Fluge unbemerkt verstrich.

Nur noch ein Viertelstündchen, bat die liebliche Schwester, welche sich von dem reizenden Aufenthalte nicht so leicht zu trennen vermochte.

In der That war auch der Ort, den die Gesellschaft sich zum Ruheplatz gewählt hatte, von der Natur mit verschwenderischer Schönheit reichlich ausgestattet. Der grüne Rasen und das weiche Moos bildeten den zierlichsten Teppich, während die alte Eiche wie ein prächtiger Baldachin sich über ihre jugendlichen Häupter wölbte. Wilde Rosenhecken mit duftenden Blüthen bedeckt, schneeweißer Schlehdorn und immergrüne Kirschlorbeersträuche bildeten die zierlichste Einfassung dieses natürlichen Speisesaals. Würziger Thymian, Krausemünze und das ganze zahllose Heer der Waldkräuter und Blumen schwängerten die milde Luft mit süßen Wohlgerüchen. Lenzesluft und Frühlingsweben regten sich im stillen, grünen Forst. Finken und Grasmücken wetteiferten im Gesang und belebten das Schweigen der Natur. Aus der Ferne ließ der Kukuk seinen einförmigen, aber angenehm melancholischen Ruf erschallen und die Drossel schmetterte vom hohen Gipfel ihr kühnes Lied. Blaue und gelbe Schmetterlinge schwebten vorüber, kreisten um die Kelche der Blumen und schlürften aus goldenen Schalen mit langem, feinem Rüssel den Blüthennektar ein. Marienkäfer mit rothen schwarz punktirten Flügeldecken kletterten an den biegsamen Halmen empor und übten ihre halsbrechenden Seiltänzerkünste, während in den höchsten Aesten einer schlanken Silberbirke sich ein braunes Eichhörnchen wiegte und neugierig mit klugen Augen herabschaute. Zuweilen schlüpfte eine geschmeidige Eidechse durch das feine Moos und ein Sonnenstrahl vergoldete ihren grünlich schimmernden Gliederbau. Das Alles regte und bewegte sich im hellen Sonnenschein so freudig und des Daseins volles Glück genießend; und mitten in dieser seligen Einsamkeit ruhten die Geschwister aus, sie selbst die glücklichsten und zufriedensten Wesen dieser herrlichen Natur. Alle drei waren noch jung, schön und unentweiht von dem Getriebe des Lebens und der Welt, Kinder des Frühlings, Blüthen des Lenzes. Darum fühlten sie so froh und warm in der verwandten Umgebung. Frei von jedem Zwang überließen sie sich darum willig dem Zauber des Waldes, von dem sie sich nun schwer zu trennen vermochten. – Stunden entschwanden ihnen hier wie Augenblicke und als sie endlich aufbrechen mußten, war es ihnen als schieden sie von ihrem Paradiese.

Wirklich bedurfte es auch der wiederholten und immer dringenderen Aufforderung des älteren Bruders, ehe sich die kleine Karawane zum Aufbruch entschloß. Selbst die Pferde, welche hier einen trefflichen Weideplatz gefunden hatten, schüttelten wie mißbilligend ihre Häupter und ließen sich nur unter Sträuben von lautem, unwilligen Wiehern, begleitet, Zaum und Halfter wieder anlegen. Besonders schien der weiße Zelter Alicens die Vorliebe seiner Herrin für diesen romantischen Aufenthalt zu theilen. Mehr als einmal wendete er noch seinen Kopf zurück nach dem fetten Grasplatz, der ihm so sehr gefallen hatte. Zuweilen blieb er sogar gegen seine sonstige Gewohnheit stehen, um mit feinen rosenrothen Lippen einige Stauden und niedere Sträucher am Wege zu benagen. Alice ließ diese kleinen Abschweifungen ihres Zelters willig zu und wendete selbst von Zeit zu Zeit ihr liebliches Gesicht nach dem trauten Bläschen hin, wo sie einige Stunden so glücklich verlebt hatte.

Der bedächtige John eilte rastlos voran. Er gab noch immer nicht die Hoffnung auf, bald wieder die ihm bekannte Hauptstraße zu erreichen. Je weiter er aber ritt, desto fremder und unheimlicher erschien ihm der eingeschlagene Pfad. Bald verlor derselbe auch seine bisherige Breite und Wegsamkeit. Dichtes Gestrüpp und verwilderte Dornenhecken engten ihn von beiden Seiten ein, nackte Wurzeln krochen wie schwarze Schlangen drüber hin. Die Gegend hatte auch nach und nach ihren anmuthigen Charakter verloren und wurde immer düsterer. Finsteres Nadelholz war an die Stelle des heiteren Laubwaldes getreten und verbreitete eine melancholische Dämmerung. Das tiefste Schweigen herrschte weit und breit; denn selbst der Hufschlag der Pferde tönte gespenstisch gedämpft auf dem mit Kiefernadeln bedeckten Fußboden, welcher durch seine Glätte den sonst sicheren Tritt der Thiere öfter zum Straucheln brachte. Die Befürchtung, daß sie sich verirrt, drängte sich bald dem besorgten Führer als Gewißheit auf.

Wir kommen hier nicht durch und müssen auf den früheren Weg zurückkehren, sagte John.

Umkehren, erwiederte der kühnere Thomas, den jedes Abenteuer reizte. Bei dem Andenken unseres großen Ahnen, Robert Malpas, der die Schlacht bei Hastings mitgefochten hat, der Wahlspruch unseres Hauses lautet anders: sic – donec.

Ein leichter Schlag mit der Gerte trieb das feurige Roß, welches der Jüngling ritt, zu neuen Anstrengungen an. Alice hielt sich dicht hinter ihm und der ältere, bedächtige John sah sich gezwungen, gegen seine bessere Ueberzeugung den jüngeren, voraneilenden Geschwistern zu folgen. Das Glück schien auch anfänglich die kühnen Wagehälse zu begünstigen. Eine geraume Zeit verlief der Weg wieder hinlänglich breit und bequem, so daß die Reisenden denselben ohne besondere Schwierigkeiten länger als eine halbe Meile fortsetzen konnten. Schon überließen sie sich der angenehmen Hoffnung, in dieser Richtung die Hauptstraße wieder zu gewinnen; doch diese Erwartung täuschte sie schadenfroh. Plötzlich endete der tückische Weg in der Nähe einer Schlucht, welche einem vorhandenen Waldbach zum Bette gedient haben mochte. Vergebens spähten die Wanderer in die Nähe und Ferne. Erst nach langem, vergeblichen Suchen entdeckten sie einen schmalen Fußpfad, der nur zur Noth einem einzelnen kühnen Reiter gestattete, durch ein Labyrinth von stachligen Hecken und wucherndem Gestrüppe vorzudringen. Unmöglich konnten die Brüder die zartere Schwester den Beschwerden und selbst Gefahren eines solches Weges aussetzen.

Nach einer kurzen Berathung entschloß sich John, den vorhandenen Pfad zu verfolgen, der nach seiner Meinung zu irgend einer menschlichen Wohnung, einer Köhlerhütte oder einem einsam gelegenen Jägerhause führen mußte. Dort hoffte er einen Führer durch diese verwirrende Wildniß zu finden. Einstweilen sollte Thomas bei der Schwester zum Schutze bleiben und dieselbe unter keiner Bedingung verlassen. Wiederholt schärfte der ältere Bruder dem vorschnellen Jüngling diese Mahnung ein, ehe er sich, von den Wünschen der Geschwister begleitet, entfernte.

Diese blieben mit ihren Pferden in der Nähe der Schlucht zurück, welche ihnen einen keineswegs einladenden Anblick darbot. Die Spuren der Verwüstung, die der angeschwollene Waldbach im Beginn jedes Frühlings verursachte, waren noch ringsumher sichtbar. Weit und breit zeigte sich die Gegend unfruchtbar und versandet, mit den Trümmern des Gesteins bedeckt, das die wilde Fluth von den höher gelegenen Bergen abgespült hatte. Zwischen diesem Gerölle sprießte nur kümmerlich verkommenes Gras und dürftiges Haidekraut. Spärlich und vereinzelt standen einige verkrüppelte Tannen und ärmliche Fichten. Das tückische Wasser hatte die Wurzeln bloßgelegt und schwankend erwarteten die Bäume ihren Sturz von jedem heftigeren Windstoß. Andere Stämme waren bereits der Gewalt der Frühlingsstürme und der andrängenden Fluth erlegen. Die Baumleichen lagen gebrochen mit abgestorbenen Aesten und halb verfault. Aus der feuchten, vermoderten Rinde schossen giftige Pilze hervor und um die vergilbten, trocknen Zweige hüpften Krähen und freche Dohlen mit krächzendem Geschrei.

Unwillkürlich wirkte die traurige, landschaftliche Scenerie auf die Stimmung der Zurückgebliebenen. Die Scherze, mit welchen Thomas seine Schwester zu unterhalten suchte, bekamen etwas Gezwungenes. Bald stockte das Gespräch gänzlich und ungeduldig harrten Beide auf die Rückkehr des säumenden Bruders. Die Zeit wurde den Wartenden ungebührlich lang und die Minuten dehnten sich zu Stunden aus.

Ich kenne Bruder John, sagte der Jüngling nach einer längeren Pause fast unmuthig. Er ist immer so langsam und ich mache eine Wette, daß er jetzt an irgend einem Kreuzweg steht und vor lauter Bedenklichkeit und Ueberlegung, welche Richtung er einschlagen soll, nicht von der Stelle kommt.

Du thust ihm Unrecht, entgegnete Alice sanft ohne Vorwurf. Seine Vorsicht ist jedenfalls nur zu loben und er verdient deinen Tadel nicht. Hätten wir seinen Rath befolgt und wären wir gleich, als er es wollte, umgekehrt, so hätten wir gewiß den richtigen Weg gefunden und brauchten uns hier nicht zu langweilen.

Trotz der Milde, mit der die Schwester die Worte sprach, reichten dieselben doch hin, den leidenschaftlichen Jüngling zu reizen und zu betrüben. Er klagte sich mit übertriebener Heftigkeit seiner vorigen Thorheit an und hätte am liebsten, selbst mit Gefahr, die geliebte Schwester aus der gegenwärtig unangenehmen Lage befreit, die er zum Theil verschuldet hatte. Ueberhaupt war ihm die ihm zugetheilte unthätige Rolle verhaßt. Seine ganze Natur drängte ihn zu einem raschen und entschlossenen Handeln. Unruhig sprang er von dem Stein empor, auf dem er bisher gesessen hatte, mit heftigen Schritten ging er auf und ab längs der unheimlichen Schlucht, um einen anderen Ausweg zu entdecken. Bald blickte er auf den Fußpfad, welchen John eingeschlagen, bald schweiften seine Augen nach der entgegengesetzten Richtung, die doch irgend wohin führen mußte. Stolz und Ehrgeiz regten ihn leidenschaftlich auf. Er allein wollte der Retter Aller sein. Unbewußt schlummerte in seiner jungen Seele der Drang nach Auszeichnung. Mehr als einmal hatte er sich in seinen kindischen Träumen an der Spitze eines großen Heeres gesehn und Wunder von Tapferkeit verrichtet. Der chevalereske Sinn seiner Zeit und der Hang nach Abenteuern, welcher damals seine Landsleute auszeichnete, erfüllte auch seine Brust. Er wollte an Muth und Kühnheit Alle und besonders seinen älteren Bruder übertreffen, dessen durch Geburt und Herkommen begründetes Uebergewicht er nur mit Widerstreben anerkannte.

So verbarg sich in diesem jugendlichen Herzen unter der täuschenden Hülle des Leichtsinns und der Sorglosigkeit ein brennender Ehrgeiz und die Sucht nach Auszeichnung. Vergebens mahnte Alice, welche so oft eine große Gewalt über ihn ausübte und vermittelnd zwischen den Brüdern stand, zur Ruhe und Geduld.

Was thut's auch, sagte sie beschwichtigend, ob wir hier noch ein Stündchen warten. Wir kommen noch immer zeitig genug nach Ludlow-Castle. Der Tag ist so schön und ehe die Sonne untergeht, sind wir zu Hause.

Und da geht das Schelten wieder los, entgegnete der Jüngling im gereizten Ton. John wird wegen seiner Besonnenheit gelobt und ich wegen meines Leichtsinnes vom Vater gescholten werden.

Wir brauchen ja nur zu sagen, daß wir spät von dem Hause der Tante aufgebrochen sind. Daß wir uns verirrt haben, soll der Vater nicht von uns erfahren. Wozu auch? Er würde sich nur unnöthig ereifern und uns künftig nicht allein reisen lassen. Und ist selbst dies Abenteuer nicht ergötzlich? Wir verdanken ihm die schönen Stunden, die wir unter den Eichen so köstlich zugebracht haben. Kommt Orlando reich mir deine Hand und sieh nicht so finster drein, was dich gar nicht kleidet und was ich auch nicht leiden mag.

So suchte die holde Schwester mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit den trotzigen Wildfang zu besänftigen. Was ihr aber sonst stets mit Leichtigkeit gelang, scheiterte diesmal an dem Unmuth des Jünglings. Bei dem leisesten Geräusch fuhr er empor und gespannt horchte er auf jeden Ton aus der Ferne. Bald glaubte er nahende Schritte, bald das Geräusch menschlicher Stimmen zu vernehmen. –

Hast du nichts gehört? fragte er die Schwester heftig. Es müssen hier Menschen und ganz in der Nähe sein. Dort aus der Schlucht tönt es. deutlich zu uns herauf.

Vielleicht täuscht dich das Rauschen des Windes, oder der Schrei eines Vogels.

Sicher nicht. In der Schlucht sind Leute. Ich werde sie nach dem Wege fragen und kehre im Augenblick zurück.

Ehe Alice ihn hindern konnte, war der Ungeduldige bereits verschwunden. Mit raschen Schritten verfolgte er sein Ziel. Anfänglich eilte Thomas längs dem Bette des eingetrockneten Waldbachs, das einen ganz bequemen Weg ihm darbot. Bald aber machten herabgefallene Felstrümmer und eingestürzte Sandhaufen den Pfad beschwerlich und fast unzugänglich. Der Jüngling sah sich genöthigt, denselben wieder zu verlassen. Solche Hindernisse spornten aber seinen Eifer nur noch mehr an, statt ihn abzuschrecken. Auf dem Rücken eines benachbarten Hügels, den er erklommen, fand er deutlich die frischen Spuren von vielfachen, menschlichen Fußtritten. Bald vermehrten sich diese Merkmale und kreuzten sich in den verschiedensten Richtungen, Zuletzt führten all die Fußtapfen wieder nach dem trockenen Waldbach zurück, der von Neuem gangbar wurde. Thomas überzeugte sich mehr und mehr, daß Menschenhände diesen versteckten Pfad künstlich geebnet hatten. Seinem Scharfblick entging zugleich nicht, daß selbst die aufgethürmten Felsstücke absichtlich so geschichtet waren, um den Uneingeweihten den Zugang zu versperren. Diese unerwartete Entdeckung mahnte zur Vorsicht und machte ihn stutzen, sein kühner Muth schreckte jedoch nicht so leicht vor einem Wagniß zurück. Im Gegentheil fand sein abenteuerlicher Geist in all diesen Umständen nur frische Nahrung und das Geheimniß, welches sich hier verbarg, reizte seine Neugierde auf das Höchste.

Er drang daher ohne weiteres Besinnen tapfer vorwärts. Je weiter er kam, desto mehr breitete sich die Waldschlucht, welche in einen tiefen, abgeschlossenen Kessel zu enden schien, vor seinen Füßen aus. Der volle Einblick wurde ihm jedoch durch mächtige Baumgruppen und fast undurchdringliche Hecken abgeschnitten. Eine natürliche Mauer von verflochtenen Dornbüschen und jungem Unterholz drohte seinem ferneren Fortschreiten mit einem Male ein Ende zu machen. Schon zog er sein Schwert, das er nach der Sitte jener Zeit immer an der Seite trug, um sich mit der Waffe in der Hand einen Weg durch das Gestrüpp des Urwaldes zu bahnen, als er zu seiner Ueberraschung eine künstlich angebrachte Thür entdeckte, welche hinter Epheu und Tannenzweigen so geschickt verborgen war, daß das schärfste Auge sie nicht so leicht aufzufinden vermochte.

Einen Augenblick zögerte der Jüngling und überlegte gegen seine sonstige Gewohnheit, ehe er sich entschloß, in die Geheimnisse der Wildniß einzudringen. Wilddiebe und verwegene Räuberbanden gehörten in jenen Tagen keineswegs zu den seltenen Vorkommnissen und konnten hier, in diesem abgelegenen Schlupfwinkel ihr Wesen treiben. Es war daher nicht gerathen, als einzelner Mann sich tollkühn in eine solche Gefahr zu begeben. Auch hatte Thomas öfters von geheimen Zusammenkünften und unerlaubten Verbindungen der mit allzu großem Eifer verfolgten Religionssekten gehört. Sein Vater selbst, der Präsident von Wales, hatte mehr als einmal von der Regierung den Auftrag erhalten, mit gewaffneter Hand gegen derartige Konventikel einzuschreiten. Es war zuweilen selbst zu blutigen Auftritten gekommen, denn die Puritaner, Separatisten und wie die Leute heißen mochten, setzten sich, wenn sie zahlreich versammelt waren, muthig zur Wehre und leisteten einen verzweifelten Widerstand. Außerdem gedachte Thomas der harrenden Schwester, die er unüberlegt ohne jeglichen Schutz allein in dem Walde zurückgelassen hatte.

All diese Rücksichten hätten ihn vielleicht bestimmt, umzuwenden und ruhig auf demselben Wege zurückzukehren, wenn nicht in diesem Augenblick ihn die mächtigen Klänge eines feierlichen Chorals unwiderstehlich gefesselt hätten. Es war eine einfache, aber ergreifende Melodie, welche die tiefe Stille wunderbar mit einem Male unterbrach. Athemlos lauschte er dem erschütternden Gesang, der gedämpft aus der Ferne zu ihm herüberschallte. Diese Töne schienen keinen irdischen Lippen, sondern Geisterchören zu entstammen. Unwillkürlich wurde er von ihnen fortgezogen. Mit einem raschen und entschlossenen Griffe öffnete er die geheimnißvolle Thür und sein Auge überflog das wunderbare Schauspiel, das sich ihm plötzlich darbot.


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