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Reporter-Reisen

I. Udine in Italien.

Nachmittags-Vorstellung.

Ich schaute von ungefähr auf das Notizenblatt eines Triestiner Kollegen, und da stand es als Titel geschrieben, das Wort: »Nachmittags-Vorstellung« anstatt »Nachmittags-Sitzung«. Wer italienische Gerichtsverhandlungen kennt, versteht auch den Eindruck, unter welchem dieser komische und zugleich so bezeichnende Schreibfehler entstanden war. Die Scene hat entschieden theatralisches Gepräge. Die Uniformen der Carabinieri erscheinen uns wohlbekannt aus Theaterstücken, welche wir in der Provinz haben aufführen sehen. Wenn da irgend eine Person des Stückes – es ist zum großen Ingrimm des Publikums immer die unschuldigste – verhaftet werden soll, rasseln Säbel und vernimmt man Kolbenstöße hinter dem Prospekte. Dann öffnet sich die Thüre, und zwei altertümliche Soldaten fassen Posto an derselben. Diese tragen fast immer wattierte Uniformfracks, Zweispitze mit Federbüschen, Patrontaschen mit weißen Lederriemen und merkwürdige Säbel, dergleichen man nur mehr in den Auslagen der Trödler sieht. Im Hintergrunde gewahrt man noch einige Federbüsche, weiße Riemen und merkwürdige Säbel, deren Anwesenheit für den schwer bedrohten Helden die Bedeutung hat, daß er sich's nicht beifallen lassen soll, einen Fluchtversuch zu wagen. Die beiden altertümlichen Soldaten nehmen sodann auf Geheiß eines altertümlichen Feldwebels den unglücklichen Schauspieler in die Mitte und führen ihn weg – in ein schreckliches, turmartiges, finsteres Gefängnis, wie man sich es immer voll zitternden Mitgefühls vorstellt.

Bei allem Respekt vor jedweder Gerichtsbarkeit mußte ich doch an diese provinzmäßigen Bühnenhelden denken, als zwei Carabinieri in langschößigen Fracks mit Zweispitzen u. s. w. die Angeklagten Ragosa und Giordani in den Käfig brachten und sich zu beiden Seiten desselben mit aufgepflanztem Bajonette aufstellten. Dieser Käfig für die Angeklagten, wie er in Italien üblich ist, muß bei empfindlichen Naturen ein sanftes mittelalterliches Grauen erwecken. Ein starkes, mannshohes Gitter mit einer langen und zwei schmalen Seiten ist in die Wand eingelassen. Innerhalb des hierdurch geschlossenen Raumes, der solchermaßen einem Käfige für Galgenvögel gleicht, stehen einige dunkel angestrichene Bänke, auf welchen die Angeklagten sitzen und durch das Gitter auf die Richter und Geschworenen herausschauen – eine Situation, die ganz dazu angethan ist, beispielsweise den gemütlichsten Wiener Fiaker, wenn er dort säße, als eine der wildesten Bestien aus der Menagerie Kleebergs erscheinen zu lassen.

Unbeweglich, das Auge auf die Angeklagten geheftet, stehen die Carabinieri an dem Käfig. Im Hintergründe der Estrade, auf welcher der Publico Ministero (Staatsanwalt) und die drei Richter in schwarzer Robe, mit Barett und weißem Halsstreifen ihre erhöhten Plätze haben, verharrt während der ganzen Dauer der Verhandlung ebenfalls ein Zweispitz mit aufrecht stehendem Federbusch, während zu Füßen des Präsidenten, unmittelbar unter dem goldenen Wappen am Pulte desselben, der Cancelliere (Schriftführer) in seinem Talare an einem kleinen Tischchen mit Akten sitzt. Den Eingang in den Saal deckt der Usciere (Gerichtsherold), angethan mit schwarzem Mantel und schmalem weißen Busenstreife.

Der Usciere von Udine, ein alter Herr mit langem grauen Haar und Knebelbart, ist eine Figur, wie herausgesprungen aus einem Kupferstiche des sechzehnten Jahrhunderts. Wenn er die Hand erhebt und sein » Entra la Corte« (der Gerichtshof erscheint) in den Saal ruft; wenn dann die Roben und Baretts der Richter und Anwälte in der schon beschriebenen Umgebung des Käfigs und der Federbüsche sichtbar werden; wenn unter der Geschwornen-Estrade, gewissermaßen unter dem Schutze der rechtsprechenden Jury, der Beschädigte seinen Platz einnimmt; wenn der Blick auf die eigentümlichen glitzernden Uniformen der Offiziere am Eingange des Saales und auf die bunten Vorhänge und Fensterblenden fällt, durch welche das Licht in allen prismatischen Farben auf die ungewöhnliche Scenerie hinabströmt: da vermeint man sich der Gegenwart entrückt und in jene malerische Vergangenheit versetzt, mit welcher wir uns durch alte Bilder und Chroniken vertraut gemacht haben.

Natürlich wirft die südliche Lebhaftigkeit den alten Zopf häufig genug beiseite und tobt sich aus trotz Robe, Barett und Halsstreifen. Namentlich einer der Verteidiger im Prozesse Ragosa hatte eine eindringliche Art zu sprechen. Er begann ganz ruhig, schichtete einige Gesetzbücher vor sich auf, citierte hier, citierte dort, schlug die Bücher endlich wieder zu und blickte scharf auf die Geschwornen hinüber, als wollte er sagen: »Jetzt paßt auf, jetzt wollen wir die Geschichte verarbeiten.«

Und nun löste er den obersten Knopf seiner Robe, sodaß dieselbe langsam von seinen Schultern glitt, als er anfing in ungemein inquisitorischem Tone Fragen zu stellen, von welchen er voraussah, daß sie niemand beantworten werde. Bei jeder neuen Frage zog er die Robe wieder in die Höhe, als verleihe ihm dieselbe durch die Berührung mit seinen Schultern eine geheimnisvolle Kraft zu immer neuer Fragestellung an den Weltgeist oder eine andere bemerkenswerte Macht. Bebend vor Ungeduld, warf der Redner unter anderem die Frage auf, wer ihm wohl dafür garantiere, daß sein Klient Ragosa als Thatgenosse des Bombenmannes Oberdank in Österreich nicht gleichfalls gehenkt worden wäre – eine Garantie, die selbstverständlich keiner der Anwesenden übernehmen mochte, weshalb der Redner die Frage ebenfalls dem Weltgeiste zuwies und eine Art Triumphgeschrei anstimmte, das er aber plötzlich abbrach, indem er sich dichter in seine Robe hüllte und mit erstickter Stimme das Schicksal des in der Blüte seiner Jahre zu Triest gehenkten Freundes des Angeklagten betrauerte. Nachdem er die Herzen genugsam gerührt zu haben glaubte, warf er sich in seinen Sessel zurück, zeigte große Erschöpfung und bedeckte mit den Händen die Augen. Als er dieselben wieder erhob, hatte er wirkliche Thränen an den Wimpern.

Die beiden Angeklagten betrachteten den Mann, der sich ihre Sache so zu Herzen gehen ließ, mit Bewunderung. Ragosa, der geschniegelte irredentistische Jüngling, lächelte ihm sogar verführerisch zu, und die kraushaarigen, buntjackigen Gestalten im Zuschauerraum schienen nicht übel Lust zu haben, durch einiges Geschrei ihre Anerkennung auszudrücken. Allein Cavaliere Valsecchi, Oberrichter aus Venedig und delegierter Vorsitzender der Corte d'Assise von Udine, vermochte allen Temperamenten zum Trotz im Barreau einen Ton festzuhalten und über das leicht erregbare Publikum eine Herrschaft auszuüben, welche jedem Schwurgerichte der Welt zur Ehre gereichen würde. Er unterbrach nie einen Redner, duldete aber nicht das leiseste Zeichen von Zustimmung seitens der Zuhörer, welche er übrigens vortrefflich zu behandeln verstand. Er lobte sie nämlich jedesmal wegen ihrer bisherigen guten Haltung und sprach den Wunsch aus, daß sie dieselbe nicht verlieren möchten, schon darum nicht, weil er seinerseits zu allen erdenklichen strengen Maßregeln entschlossen sei. Und wenn der betreffende Verteidiger bei solcher Gelegenheit um die Bestätigung bat, daß er nichts dazu gethan habe, um Beifall hervorzurufen, erwiderte der Vorsitzende aufs höflichste, daß er sich den Fall, wo ein Rechtsanwalt eine derartige Absicht hege, gar nicht zu denken vermöge.

In geradezu antike Würde drapierte sich der Staatsanwalt Cisochi. Die vornehme und zuvorkommende Art, wie er und der Präsident mit den Rechtsanwälten verkehrten, hätte unsere jüngeren Verteidiger in Wien vor Freude erröten gemacht. Unverbrüchlichen Ernst und ruhige Aufmerksamkeit bewahrte während der ganzen Verhandlung die Jury, welche anscheinend aus halbwegs gemäßigten Elementen von Udine und Umgebung zusammengesetzt war.

Ich schreibe diese Zeilen während der Beratung der Jury, und bis jetzt ist kein ernster Zwischenfall bei dieser sehr explosionsfähigen Verhandlung vorgekommen. Die Leutchen machten sich nur später das Vergnügen, die freigesprochenen politischen Attentäter gegen Österreich auf ihren Schultern aus dem Saal zu tragen und die Stadt ein bißchen zu beleuchten.

Das italienische Volk braucht vermöge seines ganzen Wesens den theatralischen Aufputz bei Gerichtsverhandlungen; aber trotzdem und vielleicht gerade deshalb erfüllen dieselben ihre hohe Aufgabe im vollkommensten Maße. Die Robe und der Federbusch, der Zweispitz und das Barett sind Dinge, vor welchen selbst der Irredente noch einigen Respekt hat.

*

II. Pardubitz in Böhmen.

Sein Gemüt war zerrissen. Als der kleine, lebhafte Mann an der Seite seines Verteidigers den Nordbahnzug entlang trippelte und auf einem Waggon die Tafel »Wien-Dresden« erblickte, wurden ihm die Augen feucht.

»Säh'n Sie,« sagte er in seinem, trotz zehnjährigen Aufenthaltes in Wien noch immer sächselnden Dialekte, »mit demselben Eisenbahntreen bin ich sonst nach meiner Heimat gefahren, und heute geht's nu nach Beehmen und vielleicht ins Gefeengnis. Das wird eine distere Fahrt werden, ich komme mir schon vor wie ein Streefling, der mit Eskorte reist.«

Der Sprecher war Herr Karl Lehmann, Tierhändler am Ring, welcher im Begriffe stand, der Vorladung des Bezirksgerichtes Pardubitz wegen Amtsbeleidigung, begangen durch gröbliche Rücksendung eines czechischen Aktenstückes, Folge zu leisten. Die Neugierde auf die Erlebnisse, welche der tapfere Sachse anläßlich der für das Deutschtum Wiens eingelegten Lanze in der stockczechischen Stadt Pardubitz haben werde, bestimmten den Berichterstatter aus dem Gerichtssaale, diese Expedition mitzumachen.

Wir kamen bei Nacht und Regen in der fremden und fremdsprachigen Stadt an. Durch endlose, kotige, mittels Petroleumlampen nur notdürftig beleuchtete Straßen fuhr der Wagen zu einem Gasthofe mit anheimelndem deutschem Schilde. Der »Goldene Löwe« zeigte sich bald auch von Innen als ein gemütliches spießbürgerliches Wirtshaus. Alles sprach da deutsch, nur merkwürdigerweise der – Wirt nicht. In der Extrastube spielten zwei ältere Herren und eine dicke Dame Tarok. Auf einem langen, weißgedeckten Tische mit Holzrahmen lagen »Narodni Listh« und Wiener Blätter friedlich nebeneinander und im Schankzimmer ließ die Kellnerin, hart bedrängt von dem Bedienten eines zum Rennen anwesenden Aristokraten, häufig die deutschen Worte hören: »O, Sie schlimme Mensch!« woraus hervorging, daß sie genügend tief in den deutschen Sprachschatz eingedrungen sei, um zu wissen, wie dieser Ausruf stets, und namentlich von galanten Herrschaftsbedienten, gegenteilig gedeutet werde.

Der Angeklagte Lehmann schöpfte aus den eben angeführten behaglichen Umständen den Mut, sich in das Fremdenbuch als »Sprachenverteidiger aus Wien« einzutragen, worauf er um die Gunst eines düster aussehenden Einsamen in der Extrastube (den er nämlich für den Staatsanwalt hielt) buhlte, indem er mehrere Flaschen einheimischen Bieres trank und den böhmischen Brauereien im allgemeinen beträchtliches Lob spendete.

Am Morgen fehlte der Angeklagte Lehmann beim Frühstück. Sein Verteidiger wurde unruhig.

»Ich wette,« sagte er, »daß mein werter Klient in seinem Zimmer oben zum zwanzigsten Male eine Verteidigungsrede auswendig lernt. Horchen wir.«

In der That durchmaß Herr Lehmann unaufhörlich sein Zimmer und deklamierte folgende Ansprache an das Gericht:

»Seit zehn Jahren in der urdeitschen Stadt Wien ansessig, betrachte ich mich, obwohl geborner Sachchse, als Esterreicher und Wiener, zumal ich auch eene Wienerin geheiratet habe. Angesichts des Angriffes auf mein Deitschtum durch das Bezirksgericht Königgrätz, welches mir eenen czechischen Bescheid sandte, fiehlte ich nu einmal wie der Unmut des geschedigten Kaufmannes dem sonst heflichen Menschen in mir den Rang ablief und ...«

»Um Gotteswillen,« unterbrach ihn der Verteidiger eintretend, »Sie reden sich ja um den Kopf! Nicht ein Wort von alledem dürfen Sie sagen, wie oft soll ich Ihnen denn das noch einschärfen?«

Herr Lehmann machte sich sehr eingeschüchtert auf den Weg nach dem Bezirksgerichte. Dasselbe befindet sich hinter den noch wohlerhaltenen Ringmauern der alten, malerisch gelegenen Stadt in der ehemaligen Burg, und man muß den dräuenden, zackigen Turm an der Elbe, sowie den düstern Hauptplatz mit seinen mittelalterlich geschweiften Häusergiebeln passieren. Auf dem schweren Gange dahin verübte der Angeklagte noch ein wohlthätiges Werk, indem er einen Straßenjungen, welcher den Walzer »Nur für Natur« pfiff, beschenkte und ihn aufmunterte, in der Pflege des »deutschen Liedes« nur so fortzufahren, wovon der Pardubitzer Knabe natürlich kein Wort verstand.

Der Richter, vor welchem sich Herr Lehmann wegen Amtsehrenbeleidigung zu verantworten hatte, empfing seinen Angeklagten mit einer Höflichkeit, ob welcher der letztere fast beschämt war, da er sich offenbar jeden in so gewaltiger Veste amtierenden Richter als zürnenden Rächer des beleidigten Czechentums vorgestellt hatte. Der Richter schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sein Amt bei diesem Falle in besonders liebenswürdiger Form zu üben. Er bot dem Angeklagten einen Stuhl an. Nach Mitteilung des Klagegegenstandes, welcher darin bestand, daß Herr Lehmann dem Königgrätzer Bezirksgerichte außerordentliche Rücksichtslosigkeit und weit getriebenen Terrorismus vorgeworfen hatte, sprach der Adjunkt:

»Also der Herr staatsanwaltschaftliche Funktionär erhebt deshalb die Klage wegen Amtsbeleidigung.«

Bei diesen Worten verneigte sich stumm im Hintergrunde ein Herr mit einem wahren Ziskakopfe, als sei er nun bereit, den Inkulpaten zu übernehmen und ihn weiterhin peinlich zu behandeln. Es stellte sich aber bald heraus, daß die furchtbare Miene des Funktionärs nicht so ernst zu nehmen war, denn derselbe begnügte sich, als der Angeklagte ruhig sitzen blieb, auch damit, seine Hände an dem großen Kachelofen der Stube zu wärmen und mit dem Angeklagten gar nicht weiter in Verkehr zu treten.

Herr Lehmann führte zu seiner Verantwortung an, daß er wiederholt durch polnische und slovenische Bescheide zu Schaden gekommen sei, da er sie auf seine Kosten übersetzen lassen mußte. Er habe die österreichische Sprachenverordnung mißverstanden und – hier mußte doch ein Passus aus der vorbereiteten Rede heraus – »so sprach aus mir der Unmut des beschedigten Kaufmannes, der dem sonst heflichen Menschen den Rang ablief.«

»Ja, ich glaube und sehe, daß Sie sonst ein höflicher Mann sind,« sagte der Richter freundlich. »Aber erinnern Sie sich nur, daß Sie in Ihrer inkriminierten Eingabe von einem »Idiom« des Gerichtes sprachen. Ein Gericht bedient sich keines Idioms, Herr Lehmann, es bedient sich einer Sprache, und deshalb ist auch dieser Ausdruck unter Anklage wegen Beleidigung des Gerichtes.«

Nachdem der Verteidiger selbst mit Einwilligung des Richters das Verhörsprotokoll diktiert und der Funktionär die Anwendung des Gesetzes gefordert hatte, plaidierte der Wiener Rechtsanwalt unter Vermeidung aller politischen Anspielungen auf Freisprechung seines Klienten, dessen Auslassungen wohl unehrerbietige, aber nimmer ehrenrührige gewesen seien. Sorgfältigst diktierte der Richter dieses Plaidoyer zu Protokoll (selbstverständlich deutsch wie alles andere, was gesprochen worden) und fällte hierauf das Urteil auf Schuldig und zehn Tage Arrest mit der Begründung, daß der Angeklagte, wenn er wirklich bloß eine deutsche Erledigung erreichen wollte, als gebildeter Mann, wie er es zu sein scheine, sicherlich nicht solche Ausdrücke gewählt hätte. Da dies doch geschehen, so liege die Absicht zu beleidigen klar am Tage. Sollte der Angeklagte mit diesem Urteile nicht zufrieden sein, schloß der Richter mit sanfter Stimme und einer Verbeugung, so könne die Berufung an das Kreisgericht Chrudim geleitet werden.

»Chrudim?« seufzte Herr Lehmann.

»Ja, Chrudim« wiederholte der Richter und empfahl sich ebenso exquisit höflich wie er gekommen war.

Herr Lehmann schauderte zusammen! ... Chrudim! Wie unheimlich klang dieser-Name dem guten Sachsen.

*

III. Gravesend Aus dem Nachlaß von Charles Dickens, übersetzt von Edward Littlepez. Für die Echtheit dieser Reiseskizze können alle erdenklichen Bürgschaften – verlangt werden. in England.

Wir sahen ihn zuletzt in Gravesend. Er war in unseren Augen immer der erste und gewiß der glücklichste Sachwalter von London gewesen. Es krochen zwar in Lincolns Inn nicht wenig giftgeschwollene Geschöpfe herum, welche durch ihre Behauptungen über Mr. Scarpel für ewige Zeiten den Fluch der Lächerlichkeit gegen sich heraufbeschworen. Mr. Tomkin und Mr. Jakson wider Mr. Scarpel in das Feld zu führen, ist eine der lächerlichsten und für ihre Urheber verderblichsten Unternehmungen der Welt. Zugegeben, daß Mr. Tomkin in der That eine feurige Beredsamkeit und überraschende Kenntnis des Common Laws besitzt, so leidet sein Ruhm doch unter der unglücklichen Gewohnheit Mr. Tomkins, in seinem Klienten stets einen ausgemachten Hallunken zu erblicken, welche Überzeugung vor der Jury ganz zu verheimlichen, ihm auch durch die Entfaltung aller seiner rednerischen Mittel nicht immer gelingen will. Ja, es ist eine der gewöhnlichsten Phrasen Mr. Tomkins, daß er sich, wenn es bloß darauf ankäme, den Charakter feines Klienten zu verachten, keine Gewissensbisse daraus machen würde, diesem unter Umständen selbst in das Gesicht zu spucken; allein ihn wegen Verbrechens in den Kerker zu werfen, das sei eine schwierige Gewissenssache, und er bitte die Jury, mit einem freisprechenden Verdikte vorzugehen, da der Klient seiner Meinung nach erst nach einer Reihe weiterer Thaten für Old Bailey reif sein werde. Vor mehr als einer Geschwornenbank hat sich Mr. Tomkin schon mit seinem unseligen Rechtsgefühl bedeutend verrechnet, und hat dann die Jury ein Verdikt auf Schuld abgegeben, bloß um einen so gefährlichen Burschen, der sich nicht einmal die Achtung seines Sachwalters zu erwerben vermocht, auf geraume Zeit aus der menschlichen Gesellschaft zu entfernen. Was Mr. Jakson betrifft, so ist dies ein Schwätzer ersten Ranges, welcher stets damit beginnt, daß ihm kein Ehrenmann das Zeugnis versagen werde, er sei niemals vor eine auserlesene Richterschar hingetreten, ohne die tiefinnerste Überzeugung von der Ehrenhaftigkeit seines Klienten; er empfinde zu sehr die erhabene Sendung eines Anwaltes der Schuldlosen, um jemals für ein Individuum einzutreten, welchem er selbst nicht die vollständigste Absolution erteilen könne, und er glaube in dieser Hinsicht durch seinen tadellosen Charakter berechtigt zu sein, ein beachtenswertes Urteil über menschliche Irrtümer abgeben zu können, weshalb er im vorliegenden Falle angesichts Seiner Lordschaft sowohl, wie dieser intelligentesten Jury, die ihm je vorgekommen, kein Hehl aus seiner Meinung mache, daß der Angeschuldigte ihm weit geeigneter erscheine, eine öffentliche Ehrenstelle zu bekleiden, als den Rest seines Lebens in Old Bailey zuzubringen. Da Mr. Jakson nichtsdestoweniger in seiner Praxis schon die verruchtesten Spitzbuben auf diese Art loszubringen versucht hat, so verfängt die salbungsvolle Manier des alten eitlen Gecken höchstens noch vor den Assisen eines entfernten County, wohin die Zeitungen der Hauptstadt nicht mehr dringen.

Mr. Scarpel hingegen blieb in der Hauptstadt wie in Croydon, in Bedford wie in Leicester stets auf der gleichen Höhe der Beliebtheit und des Erfolges. Mr. Scarpel ist ein schöner Mann im mittleren Lebensalter, mit geistreichen Augen und einem Organe, das sich süß und einschmeichelnd hineinsingt in alle Menschenherzen. Seine Liebenswürdigkeit ist so groß, daß die Anrede, mit welcher er den Geringsten beehrt, der sich ihm naht, »Mein geliebter, teurer Freund« lautet, während der jüngste Clerk bereits mit »Mein hochgelehrter Kollege«, oder »Hochachtbarer Berufsgenosse« angesprochen wird. Wir selbst schmachten infolge längeren freundschaftlichen Verkehrs mit Mr. Scarpel unter dem Zauber seiner persönlichen Anmut und förmlich verzuckerten Geistesgröße, konnten aber nie begreifen, wie diese Eigenschaften ebenso mächtig auf Fremde zu wirken vermöchten. Da sahen wir ihn zuletzt in Gravesend, wo er drei Wochen lang vor Beginn der Assisen die Akten über einen reichen Irländer studierte, welcher einer, die Leser nicht näher interessierenden Lumperei beschuldigt war. Es war keine gute Stimmung gegen den Irländer in der Grafschaft und Mr. Scarpel schien sich vorgesetzt zu haben, zuvörderst die Voreingenommenheit wider seinen Klienten zu beseitigen oder zum mindesten die günstigste Meinung über seine eigene Person zu erregen. Er wohnte mit Mrs. Scarpel, seiner schönen und stattlichen Frau, sowie mit zwei Clerks nicht im Hotel Royal, sondern beim »Weißen Fuchs«, einem kleinen alten Gasthofe, wo die Kleinbürgerschaft von Gravesend ihre abendlichen Versammlungen abzuhalten pflegte. Nach wenigen Tagen schon war Joe Humpy, der dicke, politisch immer sehr aufgeregte Gastwirt, sein fanatischer Anhänger, denn Mrs. Scarpel hatte mit lauter Stimme wiederholt die Erklärung abgegeben, daß, mit Mrs. Humpys Küche verglichen, das vornehmste Speisehaus der City eine Fabrik von ungenießbaren Brocken sei; sie hätte nicht übel Lust, alljährlich einige Monate in Gravesend zuzubringen, bloß um hier gut und billig zu speisen. Mr. Scarpel und die beiden Clerks verbreiteten sich lobend über die sonstigen Genüsse, welche diese reizende Stadt dem Fremden biete, rühmten das höfliche, gefällige Wesen der Einwohner und gaben zu erkennen, daß sie es für eine hohe Auszeichnung und Erfüllung ihrer Herzenswünsche betrachten würden, während ihres Aufenthaltes zu Gravesend in den geselligen Kreis der Bürgerschaft dieser unvergleichlichen Stadt treten zu dürfen. Ein musikalischer Abend beim Mayor von Gravesend gab den Anlaß, »den berühmten Gast aus London: Mr. Scarpel Esquire samt Gemahlin und Begleitung« in die Gesellschaft einzuführen, wobei Mrs. Scarpel durch ihre, in einem Modesalon von Gravesend bestellte, ängstlich nach dem Muster der Gravesender Damen gehaltene Toilette, wie auch durch ihr leutseliges Benehmen das höchste Entzücken hervorrief. Mrs. Scarpel zeigte sich von da an auch auf der Straße nur mehr in der, ein wenig hinter der Weltmode zurückgebliebenen Tracht der Gravesender Bürgersfrauen, hatte ihren Sitz in der Kirche und nahm den Thee abwechselnd Lei der Gemahlin des Sheriffs oder des Coroners, welchen sie das Ehrenwort abverlangte, sie im nächsten Sommer auf ihrem Landsitze zu Brighton für längere Zeit zu besuchen.

Mr. Tufty, der jüngere Clerk Mr. Scarpels, hatte darnach den vortrefflichen Einfall, durch Vermittlung des ihn längst wegen seiner unverwüstlichen Spaßhaftigkeit vergötternden Joe Humpy, Einladungen zu einem »Anekdoten-Abende« ergehen zu lassen, in dessen Verlauf ein unaufhörliches Gebrüll über Mr. Tuftys schnurrige Geschichten und Nachahmung berühmter Personen den Saal vom »Weißen Fuchs« erschütterte. An anderen Abenden saßen die Gäste aus London inmitten der Gravesender Bürger im Schankzimmer unten, am Ehrenplatze neben dem Kamin, und da kam es vor, daß Mr. Buckle, der ältere Clerk, seinen Meister unverwandt mit traurigen Blicken anstarrte.

»Was haben Sie, Buckle?« fragte ihn liebevoll Mr. Scarpel. Mr. Buckle wandte sich ab und schien eine Thräne zu zerdrücken.

»Es ist nichts,« sagte er stockend, »ich erinnere mich nur so häufig an jene geschichtliche Unterredung des jungen Alexander mit seinem Vater Philipp, worin Alexander darüber klagt, daß ihm Philipp nichts mehr zu erobern übrig lassen wird. Mr. Scarpel, mit gebührendem Respekt: Sie sind Philipp, ich Alexander, und Sie werden mir nichts übrig lassen, um den Ruhm eines Barristers zu erwerben!«

Mr. Scarpels Blick wird kühl ob dieser selbstgefälligen Bemerkung des Clerks, von welchem er ohnehin alle Ursache zu der Meinung hat, daß sich derselbe nur an ihn herandränge, um sein Seelchen in den Ruhmesstrahlen, die über den Meister ausgegossen sind, ein wenig zu wärmen. Mr. Scarpel pflegt, wenn Mr. Buckle nicht anwesend ist, sogar zu Tusty die Bemerkung zu machen, daß es Leute gäbe, welche ihn an die dressierten Flöhe im Zirkus erinnern. Unbelebt, regungslos, so lange die wärmende Lampe ihnen nicht nahegebracht wird, thauen sie bei deren Annäherung auf und würden sich endlich sogar frech auf ihren Meister stürzen, wenn sie nicht angekettet wären. Der Meister aber ließe sie ihre Kunststücke machen und schöbe hierauf zu ihrer schmerzlichen Erkältung die Lampe wieder in die Höhe; so werde er auch mit Mr. Buckle, diesem heuchlerischen Streber, verfahren.

Die Aufregung zu schildern, welche sich Gravesends bemächtigte, als der längst berühmte und außerdem so rasch beliebt gewordene Mr. Scarpel endlich seine Verteidigungsrede für den Irländer hielt, wollen wir gar nicht versuchen. Aus dem überfüllten Assisenhofe mußten mehrere Personen, darunter die Coronersfrau, ohnmächtig weggetragen werden, noch ehe das Plaidoyer begonnen hatte. Einem der angesehensten Counsels der Stadt wurden die Schnallenschuhe im Gedränge von den Füßen getreten und der Bedauernswerte mußte zwei Stunden lang bloß in Strümpfen stehen, nach welcher Frist es ihm beschieden war, einen der Schuhe aufzugreifen; der andere blieb bis zur Entleerung des Saales verloren.

Die in Wirklichkeit ausgezeichnete Rede wurde, obschon die Persönlichkeit des in ihr behandelten Irländers dem Publikum nicht sympathischer geworden war, wiederholt durch lauten Beifall unterbrochen; derselbe nahm die Gestalt einer für Mr. Scarpel sehr schmeichelhaften Kundgebung des allgemeinen Vertrauens an, als der Redner über die Bemühungen der Gegenseite zu sprechen anhub, ihn selbst als einen Kompatrioten des Angeklagten zu verdächtigen. Mr. Scarpel erklärte dies mit brausender Stimme als einen elenden, meuchlerischen Schachzug, mit dem die Gegenseite sich selbst ihr Urteil gesprochen habe. Er sei gewohnt, sich gegen Angriffe zu wehren, aber noch nie habe er gegen solche Niedertracht und Lüge anzukämpfen gehabt. Er dürfe sich der Ehre rühmen, von vielen der Anwesenden anläßlich seines Aufenthaltes in dieser herrlichen, von Bürgertugend und loyaler Gesinnung wimmelnden Stadt ein wenig gekannt zu sein, und er glaube den ehrenwerten Männern, mit welchen er Umgang gepflogen, kaum erst die Versicherung geben zu müssen, daß sie ihre Gunst, ihr Wohlwollen nur einem unverfälschten Engländer zugewendet hätten. Es sei gewiß keine Schande, für einen Irländer zu gelten; wenn die Gegenseite aber den unwürdigen Versuch unternommen habe, solche Landsmannschaft doch als eine Schmach hinzustellen, so wende er (Redner) sich an die vorurteilsfreie, aus der Blüte der Bürgerschaft zusammengesetzte Jury, um ihr in dieser feierlichen Stunde seine Erwartung auszudrücken, daß gerade angesichts der Verhetzungen der Gegenseite ein freisprechendes Verdikt für den Angeklagten, den Irländer, der englischen Jury zu unauslöschlichem Ruhme gereichend, erfolgen werde.

Die Beglückwünschungen, welche Mr. Scarpel nach diesem klugen Plaidoyer von allen Seiten zu Teil wurden, waren noch nicht beendigt, als bereits der Obmann der Jury mit dem freisprechenden Verdikte erschien. Mr. Scarpel faltete die Hände über der Brust und verneigte sich gegen die Geschwornenbank. Sein Triumph fand später den entsprechenden Nachhall in den Zeitblättern Londons. Als Mr. Scarpel am anderen Morgen, nach herzlichem Abschiede von den Spitzen der Gesellschaft Gravesends, in der Londoner Postkutsche saß, sah er Mr. Tuftys verschmitztes Gesicht herausfordernd gegen das seinige gerichtet.

»Soll auf den Anekdoten-Abend ein Anekdoten-Morgen folgen?« fragte Mr. Scarpel lächelnd.

»Nein, Sir; freue mich bloß, daß wir so lange hier waren.«

»Warum, geliebter Kollege?«

»Habe herumgehorcht; Leute sagten: Irländer deswegen freigesprochen, um liebenswürdigem Mr. Scarpel und verehrter Mrs. Scarpel keine Kränkung anzuthun ... damit beide angenehme Erinnerung an Aufenthalt in Gravesend mitnehmen ... wirklich gemütvolle Einwohnerschaft!«

Mr. Scarpel nickte heiter und küßte die Hand seiner Gemahlin.

»Gott segne dich, meine Teure!«

* * *


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