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Die Anstandslehre

Eine Tanzmeister-Studie.

Herr Thomas Wolfert entdeckte eines Tages eine Lücke in seiner Bildung. Es fiel ihm ein, daß er niemals Unterricht in der Anstandslehre genossen habe, da er stets der Meinung war, ein Steinmetz brauche derlei Lebenskünste nicht zu kennen. Allein die zunehmende Verfeinerung des bürgerlichen Lebens ließ ihn oft schmerzlich den Abstand zwischen seinem Betragen und dem seiner Umgebung empfinden. Daß er bei Besuchen in jeden offenen Kohlenkübel hineinstieg, immer irgend jemandem den Rücken zukehrte und unter allen nicht gehörig angeschraubten oder vernieteten Gegenständen schreckliche Verheerungen anrichtete, wäre bloß als eine unglückliche Anlage zu betrachten gewesen. Aber er hatte auch die fatale Gewohnheit, zarten Frauen das Kompliment zu machen, daß sie wie Leichen aussähen, oder ihnen beim Speisen unter die Nase zu rauchen, welch' letzteren Vorgang er so selbstverständlich fand, daß er einst auf die ironische Frage einer Dame, ob er sich nicht etwa im Rauchen geniert fühle, weil neben ihm gerade gespeist werde, ganz ernsthaft die Antwort erteilte: »Was fällt Ihnen ein, Gnädige; Zwiebeln essen Sie ja nicht und alles andere kann ich vertragen.«

Die vorbesagte Entdeckung von der Lücke in seiner Bildung machte er anläßlich einer niederschmetternden Ungezogenheit, da er nämlich einem jungen Mädchen ins Gesicht sagte, daß es ohne Schnurrbart eine ganz hübsche Person wäre. Die tiefgehende Entrüstung, welche sich damals aller Ohrenzeugen bemächtigte, veranlaßte ihn, schon am nächsten Tage nach der Adresse eines Anstandslehrers zu forschen. Man empfahl ihm Herrn Ludwig Renzl, einen ältlichen Herrn, welcher bei Tage als erstes Vorstandsmitglied eines Leichenvereines wirkt und des Abends Tanzstunden giebt, sowie Unterricht in der Anstandslehre gegen das mäßige Honorar von einem halben Gulden per Stunde erteilt.

Einer auf dem »Grunde« Herrn Renzl's verbreiteten Legende zufolge, hatte dieser dereinst als Solotänzer einer bedeutenden, aber nicht näher bekannten Bühne angehört und sich dort bei einem Pas de deux beide Beine gebrochen, sowie ein Auge ausgeschlagen. Seitdem trägt er, um die angeblich durch jenen Sturz herbeigeführte Krümmung der Beine zu maskieren, stets ein Dutzend Hosen zugleich, deren oberste gewöhnlich aus gelbem Tuche verfertigt und durch die längst außer Mode gekommenen Strupfen an schwarzen Zeugschuhen befestigt ist. Eine Binde über dem linken Auge und ein gewisser Leichenbitterton in seiner Sprache vervollständigen die Eigentümlichkeit der Erscheinung Herrn Renzls.

Seine Wohnung liegt im obersten Stockwerke eines alten baufälligen Hauses. Aus guten Gründen duldet der Hausherr keine lärmende Partei und Herr Renzl hat deshalb die Einrichtung getroffen, daß seine Tanzschüler entweder bloß in den Strümpfen ihre Ausbildung genießen oder in sogenannten »Fleckerlpatschen«, wie solche, um den Schülern ein Beispiel zu geben, seine eigene etwas beleibte Frau stets an den todmüden Füßen hat, wenn sie ihr Gemahl herbeiruft, um mit den erschrecklich tölpelhaften Tanzschülern nach den Klängen eines von Herrn Renzl gedrehten Vogelwerkels herumzuwalzen.

Herrn Thomas Wolfert Tanzlektionen zu geben, weigerte sich der Tanzmeister, indem er sagte: »Lieber Herr, der Himmel ist mein Zeuge, daß ich aus Ihnen einen Kautschukmenschen machen möchte, aber der Fußboden erträgt solche Experimente nicht mehr. Dafür sollen Sie einen Anstand entwickeln, daß sich Kammerherren neben Ihnen schämen müssen.« Nachdem Herrn Wolfert mehrere Wochen hindurch aus einem abgegriffenen Exemplar von »Knigge's Umgang mit Menschen« die sanftesten Kapitel vorgelesen worden waren, schritt der Tanzmeister von der Theorie zu den praktischen Übungen. »Nett'l«, rief er in die Küche hinaus, »komm' herein, Anstandslehre wird praktiziert.« Frau Renzl erschien alsbald in ihren »Fleckerlpatschen« Hausschuhe aus Tuchresten., wischte sich mit der Schürze den Schweiß vom Gesichte und setzte sich ergebungsvoll auf einen Stuhl in die Mitte des Zimmers.

– »So, lieber Herr«, sagte der Tanzmeister, »der Himmel ist mein Zeuge, daß durch meine Methode der Anstand in Sie hineinfahren wird wie ein Blitz. Meine Frau weiß schon, was sie zu thun hat, und Sie stellen sich vor, daß sie die Prinzessin Reuß ist, verstehen Sie, die Prinzessin Reuß. Bei dem hohen Adel muß man anfangen, die übrige Menschheit läßt sich dann leichter behandeln. So, jetzt gehen Sie zur Thür ... Kompliment machen ... drei Schritte vor, wenn die Prinzessin Sie näher winkt ... so, ganz gut ... sie winkt wieder, also noch näher ... halt! nicht ganz auf den Leib ... nur immer Respektsdistanz einhalten ... so, der Himmel ist mein Zeuge, daß an Ihnen ein Kavalier verloren gegangen ist ... leicht vorgeneigt stehen und warten, was Prinzessin Ihnen sagen wird ... brav, alle Achtung!«

Herr Wolfert wartete auf die Ansprache, mit welcher ihn die Prinzessin beehren würde, in einer so lächerlich steifen und zwänglichen Haltung, daß dem Tanzmeister trotz dem aus geschäftlichen Rücksichten ausgesprochenen Lobe der blutigste Hohn aus dem einen Auge zuckte. Frau Renzl, die Prinzessin, schien jedoch ihren hohen Rang plötzlich vergessen zu haben; sie schnupperte einigemale in die Luft, erhob dann drohend den Arm und schrie zur offenen Küchenthür hin: »Marie, Sie Trampel, wann si' dö Eierspeis anbrennt hat, nachher setz' i Ihnen meiner Seel' das Pfandl auf!«

Mit einem heftigen Ruck löste sich der Anstandsschüler Wolfert bei diesen Worten aus seiner unbehaglichen Stellung und wütete fürchterlich: er lasse sich nicht zum besten halten; auf solche Art würde er noch das bißchen Anstand, das er besitze, verlieren; eine solche Prinzessin gäbe es nicht einmal in einer gefürsteten Kaffernfamilie; Herr Renzl sei ein Schwindler, und da bei ihm nichts zu lernen sei, so fühle er sich auch nicht veranlaßt, die genommenen Lektionen zu bezahlen. Damit stürzte Herr Wolfert ungeachtet der Proteste des Ehepaares Renzl davon. Da er wirklich nicht bezahlte, so brachte Herr Renzl gegen ihn die Bagatellklage puncto 5 fl. 50 kr. für elf Lektionen ein, worüber gerichtlich verhandelt wurde. Aus den beiderseitigen Angaben ist die obige Schilderung der für Herrn Wolfert so gänzlich erfolglosen Anstandslehre hervorgegangen. Als der Richter den Geklagten zur Zahlung verurteilte, sagte derselbe ärgerlich: »Einmal und nicht wieder – da bleib' ich lieber ein Rüpel!«

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