Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der gemüthvolle Wiener

(Ein Studienkopf.)

Die Hinrichtung war zu Ende und die achtbaren Männer entfernten sich. Nur Einer blieb zurück, stellte seinen Pelzkragen in die Höhe und weinte bitterlich. »Was weinen Sie, alter Herr«, frug ihn mitleidig ein Justizsoldat, »gehörte der Delinquent zu Ihren Freunden?« – »Nein,« versetzte der tief gebeugte Mann, »das nicht; ich weine im Namen der Humanität, weil man den Unglücklichen in einem solchen Schmutzwinkel gehenkt hat. Wer weiß, was sonst da geschieht ...« Damit warf der Menschenfreund noch einen feuchten Blick nach dem Galgen und entfernte sich, um in einem benachbarten Kaffeehause durch vier Stück Butterbrote und drei Schwarze mit Rum das gestörte Gleichgewicht in seinem Gemüthe wieder herzustellen.

Wir brauchten von ihm nicht mehr zu wissen, als die soeben citirte Aeußerung, um sein reifes, weises Urtheil zu ehren, das ihn bestimmt, die segensreiche Thätigkeit des Henkers stillschweigend anzuerkennen, und um uns für sein goldenes Gemüth zu begeistern, das sich dagegen aufbäumt, daß die Stätte, wo ein Mensch zum Galgen trat, jemals durch unziemliche Verrichtungen entweiht werde. Nicht die Art, wie, sondern der Ort, wo jener Missethäter ums Leben gekommen, hatte Herrn Jaromir Tieck Thränen erhabenen Unmuthes entlockt. Mögen seine Feinde und Neider immerhin den nichtswürdigen Verdacht hegen, Herr Jaromir Tieck habe sich blos darüber geärgert, daß er in jenen Winkel nicht weit genug vorzudringen vermochte – wir stellen uns an die Seite seiner zahlreichen Freunde, welche mit Recht nicht müde werden, ihn seit jener denkwürdigen Rührung als das herrlichste Beispiel eines gemüthvollen Wieners zu preisen. Seinen Freunden sind aber noch zahlreiche andere kleine Züge von ihm bekannt, die, zu einem Ganzen vereinigt, ein Charakterbild von edelster Menschlichkeit darstellen. So ist Herr Jaromir Tieck der Besitzer und Mehrer einer Sammlung von sogenannten »Urteln«, die bis zum Mittelalter hinaufreicht. Darunter befinden sich die Beschreibungen von armen Sündern, welchen nach gutem alten Brauch die Zunge herausgerissen oder die Hand abgeschlagen worden, ganz zu geschweigen von den zahllos vorhandenen Fällen der Räderung von unten aufwärts, oder umgekehrt.

Diese anregende Sammlung ist auch die Ursache, warum Herr Tieck bei keiner modernen Hinrichtung fehlt, denn es wirkt, wie er sagt, unendlich wohlthätig auf sein Gemüth, sich zu vergegenwärtigen, wie unangenehm es dem Delinquenten wäre, nach der alten Methode behandelt zu werden, während er unter der neuen die möglichste Schonung seiner Ehre und Schamhaftigkeit genießt. Wie ein Liebender Haarlocken und Briefe der Geliebten, so bewahrt unser gemüthvoller Wiener jedes neue »Urtel« nebst einem Stücklein von dem Stricke auf und legt es zu den übrigen theuren Erinnerungen dieser Art. Kein Stein deckt die Grabstätte der Gerichteten, keine Thräne wird ihnen nachgeweint, verwischt wären ihre Namen aus dem Buche der Menschheit, wenn Herr Jaromir Tieck nicht wäre. Er errichtet ihnen in seiner Sammlung ein Denkmal, er weint, wie wir gesehen haben, über den Winkel, wo sie gestorben, er bewahrt ihre Namen und Thaten auf unter dem Zeichen des Strickleins. O, dreimal begnadetes Gemüth, das sich an Dinge schmiegt, wovor uns verknöcherte Seelen zu schaudern pflegt!

Lasset eine Leiche exhumiren – das bang-erwartungsvolle Antlitz Jaromir Tieck's wird sich zuerst über den geöffneten Sarg neigen und sich dann abwenden, um die hervorstürzenden Thränen zu verbergen. Lasset einen ganzen Ochsen braten und das Volk jubelnd um den Spieß stehen – Jaromir Tieck wird in der ersten Reihe sein und stundenlang auf seinem Platze ausharren, aber nur um den frühen Hingang des hoffnungsvollen Rindes zu beweinen. Lasset eine alte Chaluppe abbrechen – auf den Trümmern sitzt am nächsten Tage Marius Tieck und trauert um seine verlorene Jugend. Lasset einen Hausmeister sein hundertjähriges Jubiläum feiern – Jaromir Tieck kennt ihn von Kindesbeinen an und wird euch unter Thränen lächelnd danken, sobald ihr bei diesem Anlaß auch seines Namens gedenkt. Würde der Schöpfer eines Tages alle Hauptstädte der Welt aufrufen und käme endlich zu Wien – Jaromir Tieck spränge auf und meldete sich: »Wien? Das bin ich, in meinem Lager ist Wien!« Und dann würde er mit nassen Augen Klage führen über die Verfolgungen, welchen er von Seite seiner Feinde ausgesetzt sei, und seufzen über das Aussterben des sogenannten gallbitteren Humors, dessen Meister der gemüthvolle Mann stets gewesen.

So unglaublich es nach dem Gesagten klingen mag, dieser wohlwollende, biedere, gemüthliche Mann gerieth eines Tages im Gasthause mit einem Herrn Simon Baschl in einen heftigen Streit. Herr Baschl behauptete nämlich, das wienerische Jodeln sei in der Schrift mit »Dullia« wiederzugeben, während Herr Tieck die richtige Aussprache, nämlich »Dulliä« verfocht und den Streit damit zu beendigen trachtete, daß er Herrn Baschl erklärte, darüber solle überhaupt nur ein eingeborner Wiener sprechen. Herr Baschl glaubte, diese Anspielung entsprechend zu pariren, wenn er Herrn Tieck einen Feldwebel bei der Antisemitenliga nenne, worauf zwischen den beiden Herren eine zornige Auseinandersetzung erfolgte, die wir in ihrem Interesse nicht weiter bekannt geben wollen. Es kam zur gegenseitigen Ehrenbeleidigungsklage, jedoch nicht zur Verhandlung selbst, denn beide Klagen wurden in Folge Ausgleiches zurückgezogen. Herr Tieck hatte in seiner unendlichen Gemüthlichkeit den ersten Schritt zur Versöhnung gethan, indem er dem Anwalte der Gegenseite thränenschimmernden Blickes erklärte, es sei ihm ganz gleichgiltig, ob jemand »Dullia« oder »Dulliä« schreibe. An dem heutigen Wien sei ohnehin nichts mehr zu verderben.

* * *


 << zurück weiter >>