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Eine Nacht-Börse

Wahrhafte Schilderung eines Ereignisses, welches siebzehn Injurienklagen zu Grunde lag.

Der sonst so stille Schottenring war plötzlich der Schauplatz – nein, so können wir nicht anfangen; das ist nur so eine angenehme Formel für Berichte über Sängerfeste, Raubmorde oder sonstige bemerkenswerte Ereignisse, welche in Provinzstädten vor sich gehen. Der Schottenring ist kein stiller Ort, die Börse weiß ihn ja so überaus anmutig während der Tagesstunden zu beleben. Aber so läßt sich's fassen: Der bei Nacht sonst so stille Schottenring war nach Eintritt der Dunkelheit der Schauplatz höchst aufregender Scenen. Dieselben entstanden dadurch, daß unter den Fittichen der Finsternis die Bilanz der Kreditanstalt in die Öffentlichkeit drang und unter den auf der Straße versammelten Börsebesuchern beträchtliche Verheerungen anrichtete. Die Zahl der Opfer ist vorläufig nicht zu bestimmen.

So stellte sich das Ereignis in seinen großen Zügen dar; die kleinen, in welche es zerfiel, waren unzählbar. Die Raschheit, mit welcher sie an dem Auge des unbeteiligten Zuschauers vorüberflogen, machte es nur möglich, die hauptsächlichsten herauszugreifen und im Gedächtnisse festzuhalten. Wenn ihre Wiedergabe vielleicht nicht in den richtigen fachmännischen Börseausdrücken erfolgt, so mag dieser Mangel verziehen werden. Wir verstehen uns nicht recht auf die Detailbeschreibung der sonderbaren Maschine, welche jetzt die Welt bewegt.

Um neun Uhr abends schon tauchten aus allen Richtungen Gruppen auf, welche teils vor den Kaffeehäusern und Restaurants, teils vor dem Redaktionslokale eines Journals auf dem Schottenringe, teils in den Alleen Aufstellung nahmen. Sämmtliche Anwesende schienen schwer an einem Geheimnisse zu tragen. Man sah äußerst sorgenvolle Gesichter und alle von Erwartung bewegt. Sämmtlichen Herren war ungemein heiß, welcher Zustand sich dadurch äußerte, daß sie den Hut in das Genick zurückschoben, sich den Schweiß von der Stirne wischten und in den Pausen, da sie nicht sprachen, höchst merkwürdige Töne ausstießen, welche ebenso sehr von physischer Ermattung als von tiefinnerer Beängstigung Zeugnis geben konnten. Die Gruppen verdichteten sich, bald wimmelte es förmlich vor dem Café zur Komischen Oper und die vor dem Redaktionslokal Versammelten nahmen eine immer drohendere Haltung an, welche, wie man nachträglich erfuhr, darauf berechnet war, den Abgesandten der Kreditanstalt, der die Bilanz bringen würde, in Schrecken zu versetzen und dann das kostbare Blatt gleich der Springwurzel im Märchen abzufangen. Die sehr zahlreich aufgebotene Sicherheitswache trug wesentlich dazu bei, den Zustand der Wartenden noch zu verschlimmern; denn suchte ein Häuflein sich ein wenig Ruhe zu gönnen und durch Stehenbleiben auszuschnaufen, so kam alsbald ein Wachmann herbei mit der Ermahnung, den Weg fortzusetzen. So mußten die Armen ruhelos fort und fort wandern gleich dem Ewigen Juden der Sage, womit durchaus keine Anspielung auf die Konfession der Wanderer verbunden sein soll.

Von Zeit zu Zeit schwirrten schreckliche Gerüchte umher, in deren Folge einzelne Gruppen unter Zeichen solcher Bestürzung auseinanderstoben, daß man fast fürchtete, diese Unglücklichen würden sich im nächsten Augenblicke wegen zerrütteter Vermögensverhältnisse auf irgend eine grausige Art aus dem Leben schaffen. Allein sie schienen sich immer irgendwo in der Nähe Beruhigung zu holen, denn nach kurzer Zeit kehrten sie zurück, steckten die Köpfe zusammen und ballten die Fäuste nach einem unsichtbaren Feinde, offenbar nach dem Unhold, der sie mit erlogenen Nachrichten geäfft hatte.

Mit einemmale, wie aus dem Straßenpflaster heraus, sprangen mehrere Gestalten behend über den Fahrweg mitten unter den Menschenknäuel vor dem Café zur Komischen Oper hinein und kreischten im Tone von Verzweiflung und Reue: »64!«

– »64!« wiederholten Hunderte von Stimmen in schauerlich wildem Chor und hundert kräftige Gestalten stürzten sich auf diejenigen, welche zuerst »64« gerufen hatten. Wir Zuschauer fühlten die entsetzliche Ahnung in uns aufsteigen, daß wir alsbald Zeugen eines Gesandtenmordes sein würden; denn offenbar waren jene kühnen Springer die Abgesandten der Wissenden, welche Botschaft von der Bilanz zu bringen hatten und nun von dem empörten Volke unbarmherzig in Stücke gerissen wurden. Allein man schonte die Opfer insofern, als sie bloß unter betäubendem Lärm in das Innere des Kaffeehauses geschleppt und dort allem Anscheine nach als Sklaven feilgeboten wurden; denn man umringte sie von allen Seiten und machte Anbote nebst allerlei nur den Besuchern des Sklavenmarktes verständlichen Glossen:

»– 64 ... 64½ ... 65 ... 64¾ ... 66 ... 68 ... 67 ... 64½ ... Zwei Millionen 800,000 ... – a Schand ... Was a Schand? A Einbruch, sag' ich Ihnen, auf mein Ehrenwort ... Was a Einbruch? A Massenmord, sag' ich Ihnen ... 62 ... 60 ... Ka gute Hosen verdient's Ihr Genovim ... aufgewachsen seid's Ihr vielleicht bei fünf Millionen ... 65 ... 65½ ... drei Millionen 100,000 offiziell ... Wo ist der Hochstapler, der das sagt? 64 ... 64½ ... u. s. w.

Ein kleiner schwächlicher Herr zetert schrecklich im Saale und erlaubt sich seine Meinung dahin auszusprechen, daß er sich und seine Habe unter den Botokuden sicherer fühle, als auf dem Schottenring zu so vorgerückter Abendstunde. Da sein Gezeter die Stimmung zusehends noch mehr verdirbt, wird er schließlich von mehreren Nachbarn hinausgeschleift und draußen durch die Bemerkung gebändigt, daß die ganze »Maiße« auch erlogen sein könne.

Das Geschrei wird immer ärger; man erhält zufolge der heftig ausgesprochenen Zahlen und fuchtelnden Hände denselben Eindruck wie vom Morraspiel in italienischen Osterien. Die Blutzeugen der Bilanz, jene Herren, die zuerst »64« gerufen, müssen inzwischen bereits verkauft worden sein; man sieht sie nicht mehr; an ihrer Stelle in der Mitte des Knäuels stehen andere Opfer der aufgeregten Volksmenge. Vergebens suchen sich in dem Tumult die besten Freunde.

– »Wasservogel!«

– »Turteltaub!«

– »Hintergedanken, giebst du?« Keine Antwort. Wie ein Bienenschwarm drängt alles mit einemmale wieder heraus, und da finden sich die Bekannten und Gesellschafter.

Man sieht, wie sich manche gerührt umarmen – sie haben in der Kontremine gewonnen. Andere flüstern sich süße, geheimnisvolle Dinge zu, die vermutlich baldigst eintreffen sollen, und wieder andere stürzen wutschnaubend, racheschwörend, Himmel und Erde zu Zeugen menschlicher Unverläßlichkeit und menschlichen Unverstandes aufrufend, fort in das Dunkel der Nacht, wo es am tiefsten ist.

Bald ist die Straße nur mehr dünn besäet mit Interessenten an der nächtlichen Bilanz. Das »Weiterfixen« (Herabtreiben des Kurses) geht in den umliegenden Lokalen vor sich. Man bespricht die Sache bereits mit Hohn.

– »Isidor Pulvermacher hat im Hotel de France den 71er (Kurs) heut' abend mit Champagner eingeweiht«, erzählt jemand mit lauter Stimme.

»Geh' hinein, mit was für a Getränk er jetzt den 64er einweiht«, erwidert ein Zweiter: »es werd' a Syphon sein.«

Vae victis!

* * *


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