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Die Opfer.


I.
Die Lehrerin.

Lehrerin ist sie. – Aus den guten Augen spricht
Geduldige Ergebung und der Frieden
Deß, der den Schmerz, das Mitleid kennt, die Pflicht.

Mit immer gleicher Liebe, ohn' Ermüden
Lehrt mühevoll der Andern Kinder sie,
Bereitet vor sie für das Loos hienieden.

In ihrem kalten Zimmerchen, wo nie
Die Flamme wonn'ger Seligkeit erhellte
Verschämter Armuth bitt're Sorg' und Müh',

Wo frohe Jugend nie die Brust ihr schwellte
Mit heiter'n Träumen, stirbt sie einst allein,
Sanft, zärtlich noch das Antlitz, das entstellte,

Auf ihrer Lippen veilchenfarb'nem Schein,
In ihren Augen, die schon halb verblaßt,
Wird noch das letzte Wort zu lesen sein,

Das mit ihr stirbt: »Ihr Kinder, aufgepaßt …«


II.
Die Mutter.

Als Wittwe mühte sie sich Tag und Nacht
Für ihre Tochter, für ihr höchstes Gut,
Ihr einz'ges, mit der hellen Augen Pracht.

Für sie ertrug sie Sorg' und Noth voll Muth,
Ihr Brot zu schaffen, scheut' sie keine Müh'n,
Gab sie ihr Leben hin, ihr Herzensblut.

Das Mädchen wuchs heran, wie Rosen blüh'n
Im wonn'gen Mai; von sanfter Mutterhand
So zart gehegt wie eine Königin.

Ihr holder Reiz ward eines Tags erkannt
Von einem Mann, der liebend sie erringt
Und sie als Gattin führt in fremdes Land.

Wenn nun der Regen an die Scheiben dringt
Des Zimmers, wo die Mutter ganz allein
Nachdenklich, schweigend ihre Zeit verbringt,

Regt sich ihr Mund, als athme Luft sie ein,
Allein sie denkt: mein Liebling ist beglückt …
Und bleich wie ein Gebild aus Marmorstein

Sie einen Segenswunsch zum Himmel schickt.


III
Die Verlobte.

»Die Berge und das Meer, sprach er zu ihr,
Muß ich jetzt zwischen uns're Küsse schieben,
O denk' an mich, indeß ich fern von Dir.

O wart' auf mich! … Nie soll Vergessen trüben.
Im Lauf der Zeiten, uns're Lieb' und Treu';
Die Trennung wird nur uns're Sehnsucht üben«.

… Sie wartete. – Es zogen rasch vorbei
Die Stunden, Monde; Jahre folgten Jahren,
Die eis'gen, ohne Licht und Blüthenmai.

Kein Blümchen lacht' in ihren dunklen Haaren
Und als der Lenz von ihrem Antlitz schwand,
Beflügelt nicht mehr ihre Schritte waren,

Als eine Runzel auf der Stirn sich fand,
– Höhlt doch der Regen selbst den Marmorstein –
Er endlich wieder vor ihr auferstand.

Allein der Küsse Gluth sie nicht erneu'n,
Kein Wonneschauer bebt durch ihre Glieder;
Sie sah den Herrn, die Sklavin er allein,

Und jeder sucht die theuren Züge wieder … –
Sie standen da, als hätt' der Blitz getroffen
Zwei Eichen, blickten starr zur Erde nieder

Und zwischen ihnen gähnt der Abgrund offen.


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