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Offenbach schlug die Trommel, flugs krochen die Kellergeister hervor, überschlugen sich in Sechzehnteln und stampften dann wieder in knappen Akkorden. Um das Herz einer Sängerin aber werben ein alter Geldsack und ein Dichter. Dann kommt Hoffmann und irrlichtert von Stella, die er heute wieder gesehen, so daß die alte Wunde aufbrach.

Karl Maria saß mit klopfendem Herzen und trockenen Lippen vor dieser Geisterwelt, die er seit der Prager Mondnacht allzugut kannte. Das Lied vom Zwerg Kleinzack rauschte auf, und der Junge glaubte, sein eigenes Leben vor sich zu sehen, ruhelos, arm und doch reich an Schönheit.

Im Andante ist die alte Liebe wieder da. Geduckt verschwindet der Zwerg Kleinzack.

In Karl Maria geschah das gleiche Wunder. Die Linde im engen Garten blühte wieder, Joseph Italiener hängte die kurzen Beine über den verrußten Efeu und ließ seine Geige klingen, die Miriam trieb ihr Stimmlein wie ein mutiges Rößlein und tanzte zwischen Lachen und Weinen. Was stille, treue Wesen der Kundry schob sich dazwischen und die Heimlichkeit der Nächte, in denen im »Blauen Herrgott« ein einsamer Bub der Musik gedient hatte, und dann wie hinter fernen Schleiern das Bild der Trix.

Auf der Bühne klagt Ernst Theodor Amadeus: »Drei Frauen im nämlichen Weibe, drei Seelen in einem einzigen Leibe: Künstlerin, Puppe und Kurtisane.«

Der undankbare Neffe Johann Sebastians machte schnell aus der armen Kundry eine Puppe und aus der seltsamen Trix, die ihr Spiel mit ihm und aller Welt trieb und eines anderen Frau war, eine Kurtisane. So rächte sich das beleidigte junge Blut. Nur die Miriam blieb, was sie war.

Coppelius bringt Brillen, durch die man die Welt, wie man will, schwarz oder weiß sehen kann. Karl Maria dachte an Andreas Katzenkopf, der alles weiß und licht sah, und an die Nacht an Goethes Gartenhaus.

Dann gleitet Olympia herein.

Karl Maria riß es empor. Und er warf sich nach vorn. Verzweifelt strich er über die Augen, als trage er selbst eine Brille des Coppelius.

Dort oben hüpfte wie ein Automat ein junges Weib.

Aber es war keine Puppe, sondern die Miriam Italiener.

Wie ein Silbervogel flog ihre Stimme auf, kletterte das künstliche Schnörkelwelk empor und schaukelte übermütig in den Ranken der schwierigsten Koloratur. Die dunklen Augen waren streng und starr geradeaus gerichtet, die Arme hingen schier krampfhaft herab, ihr ganzer lebenswarmer Leib schien in einen toten Mechanismus gepreßt. Nur die Triller schnellten daraus hervor, wie fein geschliffene Perlen. Ihre Stimme klang heller und reicher als je zuvor.

Schamröte färbte Karl Marias Wangen; jäh wuchs ein häßlicher Neid in ihm auf, der das Wunder dieses Wiederfindens verdarb. Die Miriam sang im Hoftheater, Karl Maria aber geigte in dunklen Seitengassen vor Spießbürgern und Handlungsgehilfen. Da kroch er ganz in sich zusammen, schloß die Augen und horchte nur.

Mit einer zierlichen Kadenz brach Olympia ab.

Karl Maria blickte auf. Die Miriam war fort. Er sprang auf und drängte sich durch die Leute, daß es eine kleine Verwirrung gab, hinaus in die Mainacht. Er rannte in den Park zu Goethes Gartenhaus, warf sich auf eine Bank und heulte laut trotz seiner achtzehn Jahre, weil alle Gottähnlichkeit, die er wie einen goldenen Mantel um seine Einsamkeit gehängt hatte, in nichts zerfiel. Hundeelend war ihm zumute. Meilenlang hinter der Miriam lief er dem Leben nach, dumm und trotzig, und zu nichts zu gebrauchen.

Noch in derselben Nacht bat er Andreas Katzenkopf, Weimar schnell zu verlassen, und als der Alte erstaunt nach dem Grunde fragte, schüttelte er nur verstockt den Kopf: »Ich kann dir nichts sagen. Es ist mein Unglück, wenn ich bleibe.«

»Zum Teufel, sei kein altes Weib!«

»Ich will aber fort.«

Und dabei blieb er.

»Es sind gute Einnahmen, und da können wir doch nicht deiner Launen wegen kurzerhand weg.«

»Dann gehe ich allein.«

»Vielleicht als Kirchweihmusikant?« höhnte ergrimmt Herr Andreas.

Sein Schüler aber packte seine Siebensachen. »Irgendein Theaterkapellmeister nimmt mich schon.«

Dunkel nur empfand er, was ihn forttrieb. Er wollte sein Elend nicht vor der Miriam spazieren führen, nicht der dürre Schatten sein, den ihr helles Wesen auf das Pflaster warf. Und dann hatte er Angst vor seinem Blut, das auf einmal heiß und süß war wie der Frühling ringsum, voll von alter Erinnerung mit einem neuen seltsamen Verlangen. Da riß er lieber aus.

Zum Abschied wanderte er noch einmal in den Park, wo er in jener Nacht so selig gewesen war und alles im rechten Geleise geglaubt hatte. Heute lag Baum und Wiese in der vollen Sonne. Zornig biß Karl Maria die Lippen aufeinander. Nun hatte er die langersehnte Freiheit und schleppte sie doch wie eine Kette, als großer Tor, der sich mit dem Leben nicht abzufinden wußte. Jetzt hieß es ganz bescheiden in einem Orchester unterkriechen, wie Joseph Italiener. Neidisch guckte er in den Garten vor Goethes kleinem Haus, wo der Frühling seine Pracht hatte. Aber der alte Geheimrat war tot und hatte seine Weisheit mit sich genommen.

Auf einmal kam ein Lied durch die Luft, ein ganz dummes, kleines Lied.

»Storch, Storch, Langbein,
Wann fliegst du zu uns herein,
Bringst dem Kind ein Brüderlein?«

Karl Maria kannte das Lied. Langsam wandte er sich um.

Da stand hinter ihm die Miriam Italiener und sang das Storchenlied aus ihrer Kinderzeit, als das Mädel, gar so lang und dürr, sich und die Mitwelt mit dem Jammer ihrer Häßlichkeit gequält hatte. Jetzt aber war sie hübsch und alles Storchenhafte von einer fast fraulichen Fülle besiegt. Nur in ihren Augen war noch die alte Nichtsnutzigkeit, das schwere Kinn stieß in die Luft, als müßte es unbedingt und allezeit recht bekommen. Der volle Mund trillerte den Kehrreim und klappte dann schnell und herb zusammen, als Karl Maria täppisch und wortlos blieb und nur ein erstauntes Lächeln aufbrachte.

Sie kam ganz dicht an ihn heran, warf ein paar Zornfunken aus ihren wilden Augen und legte ihm die Finger auf den Arm. Und dann war ihr Kuß auf seinem Mund.

Da tat er ihr Bescheid und ließ die Flämmchen in seinem Blut zu einem gefährlichen Feuer aufbrennen. Das Kinderspiel hob wieder an, nur daß es nicht mehr ein blasser und unbestimmter Wunsch, sondern ein Verlangen war, ein dumpfsüßes Erfülltsein.

Als er nun sein Schicksal erzählen wollte, schloß sie ihm die Lippen mit der festen kleinen Sand: »Ich will nichts wissen.«

Jeder Stunde gewann sie süßen Raub ab.

So wandelten sie durch den Park, heiter und wehmütig, in der seligen Mischung, die der schelmische Gott zusammenbraut.

Hin und da flog ein Stückchen Wirklichkeit dazwischen, wie: »Der dicke Hans ist mein Kammermädel« oder: »Ich geige im Tivoli«. Aber alles nur ganz nebenbei, als käme es einzig und allein darauf an, daß sie beide Arm in Arm durch diesen Frühling schlendern konnten.

»Mein schöner Bub« dachte voll Stolz die Miriam, und »Es ist wie im Märchen« sann der glückselige Karl Maria.

Als so die Wonne des Wiederfindens genugsam verkostet war, mußte Miriam eine kleine Bosheit los werden, die ihr schon lange locker auf den Lippen saß: »Bruder Joseph ist verliebt in deine Kundry.« Nur so leichthin, mit einem unmerklichen Spott in den Augen. Karl Maria schwieg, verwundert schüttelte er den Kopf, weil er nicht begriff, wie die Miriam ihn so bereitwillig küssen und gleichzeitig so gering über die Liebe ihres Bruders sprechen konnte, alles in einem Atem.

»Sie mag ihn nicht,« sagte er endlich würdevoll und schaute geradeaus in die flimmernde Sonne. War er denn besser als die Miriam? Hatte er nicht auch mitleidig gelächelt über Josephs Unsinn, der doch nur mit einer jammervollen Enttäuschung enden mußte? Er erschrak beinahe vor dem Stück Weltklugheit, das er schon in seinem Schnappsack hatte, ein hart verdientes Ding. Darum war er auch still von seinem Theaterbesuch, um die Eitelkeit der Miriam nicht zu kränken, die es ihm nie und nimmer verziehen hätte, daß er von ihrer Anwesenheit in Weimar gewußt hatte und doch nicht zu ihr gekommen war.

So blieb ihr Glück ungestört, und keiner dachte, was morgen sein würde. Von Karl Marias Plan, die Stadt noch heute zu verlassen, blieb es mäuschenstill. Trotzig warf er den Kopf auf, er war sein eigener Herr und konnte nach seinem Belieben handeln.

Auf dem Brücklein, das über die Ilm führt, bettelte er um einen weiteren Kuß. Er wurde ihm in Gnaden gewährt und zugleich das Versprechen erteilt, am Abend das Theaterchen im Tivoli zu besuchen. Miriam gab dem lieben Jungen einen Nasenstüber und lächelte verheißungsvoll. Ihr Leib straffte sich, ihr Atem ging rasch und warm. Im Schatten liefen Sonnengold und Blattgrün über ihr eigenwilliges Gesicht.

Vor dem Schlosse trommelte man den Mittag ein. Die Wache zog auf. Ein Offizier salutierte lächelnd der Miriam.

Karl Maria senkte finster den Blick. Da wußte er, daß er sie lieb hatte. Die Miriam aber war in stiller Freude, daß auch hier der Sieg ihr gehörte.

An diesem Abend geigte Karl Maria so innig und herzwarm daß er wußte, Hans Geßner hätte zufrieden gelächelt. Die Miriam saß in einem blauen, allzutief ausgeschnittenen Kleide an ihrem Tischchen, nippte Sekt und ließ ihren Kopf von einem Riesenhut mit schwarzen Straußfedern beschatten, der ihre erste Monatsgage glatt verschlungen hatte. Johanna Italiener hockte daneben und aß sich gründlich satt, wozu sie Augen, Hände und Kinnbacken gleichmäßig beanspruchte.

Als Karl Maria später zu den zwei Schwestern kam, tat die Miriam sehr erstaunt: »Fein, mein Junge. Aber was ist das für eine Geige?«

Einen Augenblick zögerte er in seiner nagelneuen Weltweisheit, dann aber verriet er das Geheimnis der Trix.

»Ach so, von der?«

Das sagte sie in der himmlischen Gerechtigkeit ihrer neunzehn Jahre und in der gekränkten Schenkseligkeit, die ihr Herz an den dummen Jungen zu vergeben wünschte.

Karl Maria verteidigte sein Recht: »Das ist ein liebes Geschenk.«

»Bitte, bitte!«

Nach einer Weile fragte Miriam ganz leise: »Hast du sie geküßt?«

»Nein.«

»Natürlich, du warst zu ungeschickt.«

Aber sie lächelte sehr vergnügt und legte unmerklich ihre Finger auf Karl Marias Hand, als wollte sie ihr plötzliches Eigentum festhalten.

Die rothaarige Johanna blickte aus runden Froschaugen mißtrauisch nach dem schlanken Gesellen, weil sie von Mutter Charlotte den gemessenen Auftrag hatte, die Miriam vor herzhaften Dummheiten zu behüten. Und nun schien so etwas just im schönsten Beginn. Das verdroß die fettleibige Jungfrau, daß sie mißgestimmt zu sticheln und über das Musikantenvolk loszuwettern anfing, als machte sie sich heimlich über den Leichtsinn und die Eitelkeit dieser Flitterwelt lustig und bezweifelte in ihrem nüchternen Sinn alles, wonach die andern die Hände ausstreckten. Geschwätzig in ihrer boshaften Häßlichkeit fragte sie geradezu: »Sag mal, Karl Maria, sieht bei deinem Umherzigeunern eigentlich Geld heraus?« So bewies sie den Sparsinn ihrer Mutter.

Miriam knabberte an einer Makrone: »Die Johanna haben sie mir als Sparbüchse mitgegeben.«

Und plötzlich warf sie der Schwester die Börse hin: »Zahle für mich! Aber mause nicht zu viel.«

Johanna, die voll Emsigkeit ein Sparkassenbuch von kleinen unerlaubten Ersparnissen, die sie der Verschwendung der Miriam abgewann, fett werden ließ, griff gierig danach und sandte dem Paar einen kummervollen und neidischen Blick zu. Ihre kurzen dicken Finger umklammerten das Geldtäschchen, als müßte sie sich daran schadlos halten. Das junge Blut aber lief in die Mainacht hinein. Die alte Vertraulichkeit kehrte wieder, wie einst bei der wunderlichen Fahrt auf den Gottesacker zum Grabe des alten Samuel. Vor einem Brunnen, wo ein Gänsemännlein das Wasser aus zwei Vogelschnäbeln niederrinnen ließ, blieben sie stehen. Ihr Schweigen hatte tausend Zungen.

Karl Maria, der wandernde Träumer, wurde stark und trotzig, Miriam aber hatte auf einmal Angst vor der nächsten Stunde, die doch voll guter Verheißung war. Sie steckte die Finger in den rauschenden Brunnen und sah den Tropfen zu, die kühl und lustig über ihre heiße Hand sprangen. Sie nahm sich vor, alles wie ein Schauspiel zu betrachten, in dem ihr Leib seinen eigenen Willen behielt, doch als der Junge bat mit leisen und lockenden Worten, die er in der Prager Mondnacht vor verschlossenen Türen zum erstenmal gestammelt hatte, flüsterte sie nur traurig: »Tu' es nicht, Karl Maria!«

Mit einer dummen Mädchenscheu, die der klugen Miriam sonst ganz fremd war, duldete sie dann seine Küsse.

Und plötzlich schnellte sie ihm, wie um heimzufinden aus dem Wirrsal, die blitzenden Tropfen ins Gesicht: »Ach Gott, nun schaut er gar bitter böse.«

Ihr Lachen kam unsicher aus ihrer heimlichen Bangnis. Da ergriff er ihre Hand und hielt sie fest: »Hab' mich doch lieb!« Sie gab keine Antwort, sondern wandte sich zum Park, der in schwarzen Schatten lag, weil schwere Wolken am Himmel hingen, daß der Mond nur selten sein vorwitziges Antlitz herausschieben konnte. Von den Grotten her pfiff der Wind und fauchte in das junge Grün. Die Bäume keuchten im Sturm. Und der Junge tat dasselbe, so saß ihm der wilde Wunsch in der Kehle.

Noch einmal rief die Miriam den Spott zu Hilfe: »Das ist ein Allegro, was?«

Mit beiden Händen hielt sie den kostbaren Federhut fest. Aber ihre Heiterkeit klang falsch. Zu übermächtig wurde der neue Zwang. Zuerst war es herzliches Mitleid mit Karl Maria, der sich selbst Hindernisse in den Weg türmte, über jeden Traum stolperte und Konzert und Erfolg um die blasse Frau im silbernen Kleid preisgegeben hatte. Wie schuldig dünkte sie sich in ihrer kühlen Gelassenheit, die jedes Pförtchen zu gastlichen Zimmern erspähte. Und wie sie einst, als Karl Maria als armer Lohnsklave seines Vaters todmüde seinen Kopf in ihren Schoß gebettet, sein Haar gestreichelt und ihn in Schlaf gewiegt hatte, auf dem lieben alten »Elefanten«, so trieb es sie nun auch in einer Art von Heimweh, dem Karl Maria in dieser Nacht ein Geschenk zu tun, so süß und heilig, wie sie nur eines zu geben hatte.

Der kühle Wind wehte Karl Marias heiße Worte fort, aber sie kamen immer wieder. Die Einsamkeit und der Frühling machten Miriam wehrlos. Und als jetzt Karl Maria alle Last von seinem Herzen warf und die Arme um sie schlang, neigte sie still den Kopf.

Kleinlaut sagte sie dann, als sie in der Falkenburgallee vor einem Häuschen standen, um das hohe Bäume im Wirbelwind wie Schattengespenster tanzten: »Da wohne ich.«

Draußen pfiff der Sturm und schleuderte Regenschauer wider das kleine Haus in der Allee, die nach Schloß Belvedere führt. Die alten Bäume ächzten und stöhnten vor der Gewalt dieser Lenznacht, die grausam und grimmig durch Thüringen fuhr. In dem Zimmer aber, das Miriams Heiligtum und mit allerlei geringen Andenken an ihre Kinderzeit ausgestattet war, sogar die aufgeklebten Rezensionen über das Ballett »Blaubart« und das welke Fliederkränzlein Karl Marias fehlten nicht, geschah ein Murmeln und Flüstern, so leise, daß die mißtrauische Johanna umsonst den roten Kopf ans Schlüsselloch legte. Wie eine Henne, der das Entlein ins Wasser entwischt, stand die dicke Wächterin vor diesem ärgerlichen Wunder.

Zwei Kinder hatten sich lieb.

 


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