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Am Morgen lief Karl Maria mit seiner jungen Freude ins Nachbarhaus zu Miriam. Aber sie war noch nicht von der Schule zurück. So setzte er sich neben den Großvater Italiener, einen dürren Greis, der noch Kaftan und Löckchen trug. Großvater Samuel besaß ein kleines Bänkchen, das er gewissenhaft der Sonne nachschleppte, um jeden Sonnenstrahl mit seinem frostigen Körper aufzufangen. Für Karl Maria war der gutmütige, etwas schmierige Samuel einfach der Märchengreis. Er erzählte wunderhübsche, kleine Geschichten, die er mühelos erfand. Nicht umsonst war er in seiner polnischen Heimat Hochzeitstroubadour und Witzmacher gewesen, der Tränen und Lachen mit gleicher Kunst hervorzwang. Hier, in der großen, fremden Stadt allerdings war es ihm schief gegangen. Er galt, wie sein Sohn, der bärenstarke Gideon, als ein Schlemihl, der im Tempel und in der Gemeinde etwas galt, im praktischen Leben aber stets einige Stunden später antrabte, nachdem schon die anderen in das Himmelreich des Rebbach eingegangen waren. Aber seine Herzensgüte lockte den kleinen Karl Maria, der mäuschenstill neben dem Alten hockte und es sich in der Sonne wohl sein ließ.

In dem ehemaligen Ghetto herrschte heute bewegtes Leben. Man stand vor der Osternacht. Feierlich angetan wandelte alles in den Tempel oder schritt in weisen Gesprächen durch die frühlingshellen Gassen. Mitten durch diese ehrwürdigen, festlichen Menschen tobte jetzt eine Rotte Schulkinder, voran ein kleines Mädel mit dickem, blondem Zopf.

Grimmig schwang Miriam die Schultasche und hieb damit auf die kleinen frechen Jungen ein, die höhnend von ihr Mazza verlangten. Karl Maria lief zu ihrem Schutz herbei, bekam einen Stoß, daß er taumelte, hieb aber wacker um sich, bis der alte Samuel sein Sonnenbänkchen als Waffe brauchte, wie einst Simson den Eselskinnbacken, und die kecken Christenknaben verscheuchte.

Lachend kehrte er dann wieder in den geliebten Sonnenschein zurück. Ganz rot und zerzaust stand Miriam vor ihm.

»Die dummen Kerle,« sagte sie wegwerfend und zog die kurze Oberlippe hoch, die zu ihrem starken Mund gar nicht recht paßte. Sie warf den Kopf in den Nacken und streichelte Karl Maria die Wangen, wie ein besorgtes Mütterlein: »Hast du's arg gekriegt von den Eseln?«

Er schüttelte den Kopf: »O nein, Miriam, gar nicht.«

Samuel sah den Kindern zu und lächelte still. Er freute sich, daß seine Enkelin aufrecht und keck durchs Leben ging auf ihren kurzen Beinchen, ganz anders als der Knabe, der nur Märchen hören wollte.

»Darf ich am Abend wiederkommen?« fragte Karl Maria. Er liebte diesen feierlichen Singsang, der an jüdischen Festen durch die alten Häuser ging; diese fremde Sprache, die in seltsamen Rhythmen an seine Ohren klang, und nicht zuletzt die Anhänglichkeit von Eltern und Kindern, die er daheim nicht kannte. Hauptsächlich aber kam er wegen Miriam, die dann tanzte und sprang und tausend Narrenspossen trieb. Auch spielte Joseph an solchen Abenden stets Violine, weil Großvater Samuel und Vater Gideon es so liebten, obschon die strenggläubige Frau Charlotte, die in ihren großen, fetten Händen die Zügel des Hausregiments hielt, solches Treiben Sünde nannte.

Und im Garten erzählte der Kleine dann Miriam ganz heimlich von der seligen Zukunft, die ihm eine Kindergeige bringen sollte. Sie klatschte in die Hände und sprang um ihn herum: »Du wirst besser spielen als der dumme Joseph!«

Karl Maria wußte zwar nicht, wie er besser spielen sollte als der rothaarige Joseph, der für ihn ein großer, unerreichbarer Künstler war, aber er lächelte geschmeichelt über ihr Vertrauen und half ihr, die ersten winzigen Heuschrecken zu fangen, die sie dann dem Singvogel brachten. Hatte die Amsel einige Heuschrecken verzehrt, legte sie los und sang, daß es eine Lust war. Bub und Mädel standen still und lauschten dem Schmettern und Rollen.

Die Familie Italiener saß beim Ostermahl. Großvater Samuel verstand es, die religiöse Grundstimmung durch vergnügte Witze in wohlige Behaglichkeit hinüberzuleiten. Sein treuester Schildknappe war sein ältester Enkel Jacques, Auslagenarrangeur in der Vorstadt, ein mageres, elegantes Bürschchen mit klugen, schwarzen Augen und beweglichen Händen, die immer etwas zu ordnen schienen. Frau Charlotte, die ihre üppige Rundlichkeit in ein gelbseidenes Festkleid gehüllt hatte, schleuderte Drohblicke nach Schwiegervater und Sohn, wenn diese die eintönigen Gebete des wackeren Gideon durch schnöde Witzeleien störten. Fünf andere größere und kleinere Italiener beiderlei Geschlechts zierten die Tafel, alle frischgewaschen und in den besten Kleidern. Neben Miriam saß als Gast der kleine Karl Maria, der Jacques' anzügliche Sticheleien wegen seines christlichen Bekenntnisses verständnislos über sich ergehen ließ und sich an den vielen süßen Speisen der guten Frau Charlotte gütlich tat.

Die Hausfrau und Gideon wie der alte Samuel genossen nur ungesäuerte Brote und die bitteren Kräuter, die an die Wehmut der ägyptischen Gefangenschaft mahnten. Gideon, der Schlemihl, der lieber in den Parks und auf den Straßen träumte, statt sein Trödlergeschäft zu betreiben, nahm seine religiöse Pflicht sehr ernst, vielleicht nur, weil seine Phantasie mit den alten Gewohnheiten gern spielte, tatenlos und versonnen, wie es in seiner Art lag. Feierlich sprach er über die vier Becher den Dank für die Gabe des Weinstocks und fragte den roten Joseph, was diese vier Becher zu bedeuten hatten. Joseph gab ungenaue Auskunft.

Frau Charlotte ward rot und zerkrümelte zornig Mazza.

Gideon sagte traurig: »Du weißt gar nichts, mein Sohn.«

Schuldbewußt senkte Joseph den Kopf, sein Vater seufzte und tat desgleichen. Denn Gideon hatte die schönen Einnahmen, die Joseph vor Jahren als Wunderkind mit seiner Geige erzielt, schnöderweise an der Börse verspielt. Und seitdem wagte er nicht, seinem Joseph Vorwürfe zu machen, wenn es auch mit dem Geigenspiel längst bergab ging, vielleicht deshalb, weil der gute Joseph wie sein Vater ein Träumer war und das Spazierengehen dem langweiligen Üben vorzog. Frau Charlotte aber fragte scharf: »Joseph, was ist eigentlich mit deinem Konzert in Laibach?«

»Das macht sich, Mutter. Gegen Ende April.«

»Und dann?« Frau Charlotte hielt streng auf Genauigkeit.

»Ich denke ins Operettenorchester des Bellevue-Theaters einzutreten.«

»Operettenorchester – hübsche Aussicht das,« murrte die Mutter und gab Jacques, der seinen Becher Wein verschüttet hatte, eins auf die Hand.

Gideon lächelte mild: »Reg' dich nicht auf, mein Gold.«

Die Hausfrau wollte entgegnen, aber die schlaue Miriam, die Ungemütlichkeit nie leiden mochte, kam ihr geschickt zuvor. Sie wies auf Karl Maria, der gerade ein riesengroßes Tortenstück im Munde stecken hatte, und erzählte wichtig: »Der will auch ein Geiger werden.«

Der Kleine schluckte verzweifelt seine süße Beute hinab und sah verlegen vor sich hin.

Der elegante Jacques fragte anzüglich: »Willst du nicht lieber werden, was dein Vater ist?«

»Nein,« antwortete das Kind sehr bestimmt.

Charlotte und Gideon wechselten einen vielsagenden Blick und schauten dann behaglich auf die Kinderschar.

Miriam verteidigte ihren Freund: »Er hat ganz recht. Er ist kein solcher Siebenschläfer wie der Joseph. Karl Maria wird ein Geiger und ich eine Sängerin. Dann heiraten wir. – Darf ich nicht singen, Mutter?«

»Nein,« erwiderte Frau Charlotte und schlug auf den Tisch. Aber Miriam ließ sich nicht beirren: »Gestern hab' ich zur Ermattinger in die Garderobe dürfen. Wie es da gut riecht, – viel besser als in deinem Tempel, Großvater.«

Samuel schmunzelte sehr heiter und schenkte Miriam ein ganz neues Geldstück. Sie tanzte vergnügt um den Tisch, bis sie wieder zum alten Samuel kam, dem sie einen langen Kuß gab. Ihr Mäulchen aber ging weiter: »Die Ermattinger hat auch nach dir, Joseph, gefragt. Sie erinnert sich noch an dich. Ob du noch so gut spielen kannst, will sie wissen. Was soll ich ihr sagen, Joseph?«

»Das ist lange vorbei,« antwortete trübselig Gideons Sohn.

Miriam legte Karl Maria die Hand auf den Mund: »Iß nicht so viel, Dummerl, du bist noch zu klein. Wenn du erst mal ein junger Herr bist, nehme ich dich zu meiner Ermattinger mit,« sagte sie huldvoll.

»Sind dort viele Geigen?« fragte der kleine Junge und biß Miriam in die Hand, die zwischen seinem Mund und der Torte lag.

Alle lachten.

Frau Charlotte aber hob die Tafel auf und trieb Mann und Kinder in den Tempel. Nur Samuel, der ein heimlicher Freigeist war, schützte Müdigkeit und sein Alter vor und blieb daheim. In stiller Behaglichkeit trank er alle Becher aus, weil er so die vorgeschriebene Vierzahl nach seiner Ansicht niemals überschritt. Dann öffnete er die Türen für alle, die in der Osternacht in dieses Haus kommen wollten, stellte den vollen Becher für den Propheten Elias zurecht und machte es sich im Lehnstuhl bequem. In Wirklichkeit hatte er keine Sehnsucht nach Bettlern und fremden Gästen, sondern nur nach der reinen, würzigen Luft dieses Frühlingsabends.

Er zog die Kappe über die Augen und faltete die Hände im Schoß. Solche Augenblicke hatte er in seinem langen Leben stets geliebt. Karl Maria sperrte Mund und Augen auf und harrte des Propheten Elias. Samuel öffnete noch einmal die schlaftrunkenen Augen: »Trink' den Becher aus. Kleiner! Dann erscheint dir der Elias.«

Voll heiliger Ehrfurcht tat Karl Maria, was der Greis ihm befahl. Aber er hatte noch nie Wein getrunken, und so erging es ihm wie einst dem braven Noah. Er sah plötzlich viele Propheten und Erzväter um sich, führte verworrene Reden mit ihnen, sang ein bißchen und zupfte schließlich gar den schlafenden Samuel am weißen Bart. Dann schlich er ins Nebenzimmer, wo Josephs Geige samt Bogen offen auf dem Bette lag, und begann abscheulich die Saiten auf und ab zu kratzen, als müßte er dem Propheten ein Einzugslied vorspielen. Da flogen jäh die Weingeister fort, und er mühte sich mit seinen winzigen Händen an dem ungefügen Instrumente. Der Prophet Elias mußte doch gekommen sein, denn ein paarmal gab die mißhandelte Geige einen wunderschönen, reinen Klang. Endlich übermannte den Kleinen die Müdigkeit, und er schlief, den Geigenbogen fest im Arm, einfach ein.

So fand ihn Samuel und trug das Kind hinüber zu seiner Mutter. Fräulein Martha öffnete, blickte dem Alten höhnisch ins Gesicht und schnitt eine Fratze. Franz Tredenius, dem unerwartetes Klingeln von Amts wegen an die Nerven ging, hieb die Tür hinter sich ins Schloß und schrie: »Hinaus mit dem allen Juden!«

Samuel lächelte gutmütig und wartete, bis Frau Lisbeth kam. Der gab er Karl Maria in den Arm und küßte ihn noch zum Abschied auf die Stirn. Vom Becher des Elias aber sagte er nichts.

 


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