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In das lustige Doppelspiel von Wolkenzug und Sonnenglanz, das dieser Märztag trieb, stürmten die Schüler des Grauen Gymnasiums fröhlich und traurig hinaus. Vor dem Tor stand ein riesenhafter Bursch mit schweren, ungefügen Gliedern und blickte suchend in die lärmende Schar. Zwei grundgute blaue Augen leuchteten in das Gewimmel der Schulfüchslein und die gewaltigen Tatzen, fuhren unsanft in das Getümmel, wenn Giacomo Williguth den Karl Maria Tredenius gefunden zu haben glaubte. Seit vier Jahren war ja der nicht mehr in den »Blauen Herrgott« gekommen. Und wie diese Jahre den dürren, überlangen Giacomo zu einem breitschulterigen Riesen emporwachsen ließen, konnte ja auch der Karl Maria ein ganz anderer geworden sein. Und der Zweck, der Giacomo heute vor dem Grauen Gymnasium warten ließ, trug die traurige Wahrscheinlichkeit einer solchen Veränderung schon in sich.

Da schlich ein Bub mit blau umränderten Augen ganz allein, schlapp und müde. Und jetzt erkannte der starke Williguth seinen Mann.

»Ich bin der Giacomo Williguth. Kennst du mich noch?«

Karl Maria blickte auf und lächelte fremd und ein wenig altklug.

»Wie ein junger Greis lacht der Bengel,« brummte Giacomo und schwang den schweren Bücherpack mit dem kleinen Finger zu sich herüber.

»Deine Mutter ist bei uns, und du kommst jetzt auch hin.«

»Was ist denn geschehen?« fragte verwundert der Bub.

»Mittag essen sollst du im ›Blauen Herrgott‹. Und viel schlafen, – – bei uns wird früh ins Bett gegangen,« antwortete Giacomo mit einem selbstgerechten Grinsen. Alle weiteren Fragen ließ er in täppischer Klugheit einfach unbeantwortet. In seiner robusten Gesundheit haßte Giacomo alle undurchsichtigen Lebensverhältnisse, und wie er seine Geschwister durcheinandertrieb und mit kräftigem Lob und Tadel lenkte als junger Patriarch, gedachte er es nun mit dem etwas aus dem Gleise geratenen Vetter Tredenius zu machen. Der hatte ungesunde Luft geatmet. Sein Vater war ein Lump, dem Giacomo alle Knochen zu zerbrechen wünschte, seine Schwester eine von denen, die der junge Riese in seiner Parsifaleinfalt gründlich verabscheute, kurzum, hier mußte einfach ein Schnitt getan werden. Vater Williguth im »Blauen Herrgott« würde die hochgeschraubte Wunderkindschaft schon zu einem tüchtigen Musiker umbiegen. So hatte der Familienrat vor zwei Stunden entschieden, als Frau Lisbeth ihre Sorge ihnen auf den Tisch warf, und Giacomo holte nun Karl Maria, der überhaupt nicht mehr heim durfte, in den »Blauen Herrgott«. Wie fein und weiberweich dieser Bub doch war, ganz anders als die kraftstrotzenden Kerle im alten Klösterlein. Und geigen konnte der wohl auch; – – die weiland erste Violine aus Williguths Hausorchester stieß bewundernd den Atem aus, wie ein junges Nilpferd. Da hatte der Alte mal ein richtiges Musikgenie in der Hand. Und die blonde Kundry hatte schon unter Freudentränen die zwei Mansardenstuben für Tante und Vetter instandgesetzt.

Karl Maria stemmte plötzlich die Arme in die Hüften und fragte mißtrauisch: »Warum soll ich auf einmal zu euch?«

»Deine Mutter will es,« sagte Giacomo trocken und schaute in die jagenden Wolken hinauf. Dem Knaben schlug Schamröte ins Gesicht, weil er an die letzte Nacht und an den zornigen Grafen Rothenwolff dachte. Hatte sein Vater wirklich etwas so Schlechtes getan? Aber wie konnte die Mutter davon wissen? Er hatte doch keiner Menschenseele etwas verraten.

Wie in ein schwarzes Schicksal trat er so in den freundlichen »Blauen Herrgott«. Die Mutter lief ihm entgegen und küßte ihn. Doch Giacomo stieß die Tür rasch auf und rief: »Da ist er.«

Sie saßen beim Mittagessen, und Tante »Affi« teilte gerade die Suppe aus. Trotzig stand Karl Maria unter den fremden Menschen, die Mutter hilflos hinter ihm.

Da erhob sich Johann Sebastian breit und wuchtig wie ein Schlächtermeister und sagte zum Empfang: »Kommt schnell! Die Suppe wird kalt.« Dann setzte er sich und band die Serviette vor.

So fing dies sonderbare neue Leben an. Niemand von den Williguth tat, als sei es merkwürdig, daß Karl Maria nun im »Blauen Herrgott« bleiben sollte. Frau Apollonia legte dem neuen Hausgenossen die besten Bissen vor, Kundry fragte leicht errötend, ob Karl Maria noch die Kastanienkette habe, die sie ihm einst durch Tante Lisbeth geschickt. Er nickte zerstreut und sah mit heißen Augen ins Leere. Er begriff nicht, was mit ihm geschehen war. Die Mutter saß beinahe glücklich neben ihrem Bruder, der ihr in derbem Trost die Hand drückte. Die dicke Tante »Affi« kniff vergnügt die Schweinsäuglein zu und fragte Karl Maria nach dem Grauen Gymnasium, das ihr Giacomo vor drei Jahren fluchtartig hatte verlassen müssen. Sie hielt Bildung für ungesund und freute sich königlich, daß ihre zwölf nicht die mindeste Anlage zu Gelehrten zeigten.

Da lächelte der junge Gewaltige: »Dem Mathematikprofessor hab' ich eins hinter die Löffel gegeben, daß er längslang auf dem Rücken zappelte.«

Die jungen Williguth lachten in heimlicher Ehrfurcht.

»Nun ist er Turnhilfslehrer an der Bürgerschule und Vorturner im Athletikklub,« berichtete eifrig die stolze Mutter.

»Geige spielt der Kerl auch, aber jammervoll,« fügte Herr Johann Sebastian tadelnd bei, brach aber sofort das Gespräch ab, das auf die Musik kommen wollte, und verbreitete sich behaglich über die ausgezeichneten Torten, die der dicke Robert, weiland Gymnasialschüler und jetzt Konditorgehilfe, an dienstfreien Sonntagen daheim anfertigte.

»Erinnerst du dich noch an den Robert, Karl Maria? Weißt du, das ist der entsetzliche Hornbläser,« warf Frau Lisbeth ein, in ängstlicher Sorge, ihren Jungen rasch und unmerklich in die neue Welt herüberzuziehen.

Er tat, als interessierte ihn dies alles, und war doch meilenweit davon entfernt. Nur die blonde rosige Kundry hatte er lieb. Die hatte ihn einst hier gepflegt, als er ihr die Puppe rettete und dabei in den Teich fiel. Und sie hatte ihm auch die alten Geigensaiten geschenkt, die Jacques Italiener dann auf die Zigarrenkiste spannte.

»Wo ist meine Geige?« fragte er plötzlich aus diesen Erinnerungen heraus.

»Oben liegt sie, bei deinen Schulbüchern,« tröstete erschrocken Frau Lisbeth.

Es war recht still.

Mit einem Ruck hielt alles im Schmausen ein. Mißtrauisch schob der Junge den Kopf zwischen die Schultern und blickte ringsum: »Wollt ihr mich nicht mehr geigen lassen?«

Da stand er schnell auf und lief hinaus, über den langen, ziegelgepflasterten Vorplatz in den Garten. Dort warf er sich in einen Haufen welker Blätter. Seine Starrheit wich einem haltlosen Weinen. Alles sollte nun zu Ende sein, aus für immer, das hatte er an den wohlgenährten, strengen Gesichtern der Williguth abgelesen; hier war er ein Gefangener, ein dummer kleiner Junge, den man kurz hielt und abends früh zu Bett schickte. Das eitle, zu früh geweckte Blut lief Sturm wider den Zwang, den Karl Maria in diesem alten Hause überall spürte. Und seine Mutter hatte ihn hierher gebracht!

Wie der Märzwind welke Blätter von der Erde aufblies und hoch durch die Luft wirbelte, so riß es dem Karl Maria Tredenius allerlei Hoffnungen in Fetzen, daß sie irgendwo tot und beschmutzt zu Boden fielen. Langsam richtete er sich auf; das feuchte Laub klebte ihm an Gesicht und Kleid, die Hände waren braun von der nassen Erde. Aber ihm jagten schnelle weiße Wolken, dann schwerfällige graue, zuletzt ganz winzige silberfarbene mit goldigen Rändern, und jetzt guckte blauer Himmel durch. Karl Maria sah andächtig empor. Nach langer, langer Zeit sprach er wieder zum lieben Gott, der ihn aus dieser Enge befreien sollte.

Leise Schritte trippelten heran, und hinter ihm sagte Kunigunde Williguth: »Sei doch nicht so traurig! Wir alle haben dich lieb. Und heut' abend gibt's Äpfel im Schlafrock, denke nur!«

Ihr Taschentuch fuhr in hausmütterlicher Sorge über sein bescheidenes Röckchen und putzte an den nassen Flecken. Er ließ sie geduldig gewähren. Noch immer wartete er in seiner gläubigen Kindersehnsucht auf ein rettendes Wunder, wie einst auf den Propheten Elias. Aber nichts dergleichen geschah. Da glitten die ausgestreckten Arme herab und hingen bleischwer am Körper. Geschäftig rieb die blonde Kundry an seinem Anzug weiter und seufzte tief vor Eifer. Jetzt packte ihn von neuem der Schmerz, daß alles zu Ende sein sollte. Und fast höhnisch verglich er die gute dumme Kundry mit der klugen Miriam. Sein Kindergesicht ward auf einmal alt und wissend. Ein häßliches Lachen flog in den Wind.

»Haben sie dir gesagt, daß ich ein schlechter Bub bin?«

»Nein, Karl Maria. Aber du sollst bei uns gesund werden, hat Vater gesagt.«

In gläubiger Zuversicht auf die Heilgewalt des »Blauen Herrgott« blickte sie ihm in die Augen, die er schnell und trotzig senkte.

 

An diesem ersten Abend in der Fremde blieb es kalt und frostig zwischen Mutter und Sohn. Karl Maria verbiß sich in seinen Groll und fragte nichts, und Frau Lisbeth war voll Dankbarkeit, daß sie nicht antworten mußte. Die ganze Wahrheit durfte sie ihm nicht geben, und die halbe hätte er ihr ja doch nicht geglaubt. So wichen sie einander aus.

Ganz unbewußt hielt eine feine Keuschheit den Knaben zurück, von Vater und Schwester zu sprechen. Er ahnte wohl, daß man ihn in dies Haus gebracht, weil er in der letzten Nacht bei den Tanten der Trix Geige gespielt hatte. Offenbar war das sehr schlimm, denn Graf Rothenwolff war so böse gewesen, und die Trix durfte ja auch niemals die freundlichen Tanten besuchen. Aber wie dies alles zusammenhing, blieb ihm dunkel. Er empfand alles Geschehene als ein großes Unrecht und grollte der Mutter. So kam es, daß er nur kalte, gleichgültige Worte für Lisbeth hatte, die um einen liebevollen Blick des Kindes bettelte, um dessen Wohl sie heute Mann und Tochter für immer verlassen hatte.

In der Nacht aber träumte Karl Maria von goldschimmernden Zimmern, von schönen Frauen, die ihn küßten, von süßen Leckerbissen, die man ihm zusteckte, und von zarten, wohlgepflegten Händen, die ihm Beifall klatschten. Plötzlich fuhr er auf, blickte unruhig in die Dunkelheit, faßte erstaunt die fremde, steife Bettdecke und nahm seine freundlichen Träume wieder hinüber in den Schlummer.

 


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