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Gundl Williguth empfand jetzt merkwürdig oft Sehnsucht nach Klassikervorstellungen und bat sich Karl Maria als Begleiter aus, weil die Gassen spät abends doch nicht sicher seien. Da Johann Sebastian klassische Bildung schätzte, rückte er mit dem nötigen Gelde heraus und verlangte nur, daß Kundry ihm genau und sachlich ihre Eindrücke berichte. Das arme Ding mußte nun krampfhaft Klassikerlektüre treiben, um dem strengen Vater wohlgerüstet gegenüberzustehen.

Durch diese Liebeslüge der blonden Gundl geriet Karl Maria tief in das Wunderland der Musik, wie nie zuvor. Jede Nacht nach einem Konzert trieb er sein Spiel im Musiksaal, bei Kerzenlicht und Geigenklang, in heimlicher Seligkeit. Davon ward seine Seele reich und beweglich, sein Körper aber arm und schlaff. Blaue Schatten lagen unter den brennenden Augen, die Haut war durchsichtig und blaß, als zehrte ein Fieber an seinem Leben. Doch seine Willenskraft trug ihn über alles hinweg. Und die jäh auflodernde Freude, die seine Tage hell und froh machte, wenn die nächtliche Heimlichkeit ihm volles Gelingen schenkte, täuschte sogar Frau Lisbeths wachsames Auge.

»Er hat viel Plage in der Schule,« seufzte sie, und die schlechteren Fortgangsnoten schienen ihr recht zu geben.

Mit dem Kindersinn seines Onkels hatte es Karl Maria noch leichter. »Der Junge ist eben tüchtig im Wachsen,« schmunzelte Johann Sebastian und begnügte sich, seinem Neffen die besten Bissen förmlich in den Mund zu stopfen und zwischen seine Musikstunden den Genuß dicker Butterbrote einzuschieben.

Und die Brieflein der Miriam, die jetzt regelmäßig eintrafen, waren guter Trost in aller Mühsal. Der Ehrgeiz des klugen Judenmädchens und ihr praktischer Tatsachensinn spornten den verträumten Karl Maria immer wieder zum Ausharren und Vollenden an.

Oft stand ein gutes Wort darin: »Ich bin stolz auf dich« oder: »Ich habe dich lieb.«

Rote Flecken brannten dann auf Karl Marias Wangen, und er fuhr fort, seine Nächte zum Fest zu machen. Die Tage freilich blieben bleich und leer. Auf rasches Fortschreiten folgte bleischweres Stillestehen, auf Nächte voll heißer Trunkenheit solche voll dumpfer Verzweiflung.

Als in einer solchen Geigernacht sein unreifer Knabensinn an Beethoven, den er trotz atemlosen Ringens nicht meistern konnte, elendiglich zerbrochen war und er Geige und Bogen zornig auf die Noten warf, hörte er plötzlich Schritte im Korridor. Schnell hielt er Nachschau und tappte suchend durch die langen Gänge, in denen die Nacht lag. Doch er fand nur Dunkelheit und Schweigen.

Eine Woche später aber kam wieder ein Rascheln an die Tür, die Karl Maria heute von innen verschlossen hatte. »Mäuse sind's,« dachte er gleichgültig und spielte weiter, umwarb vergeblich Beethovens Herbheit und kehrte mit trotzigem Entschluß zu seinen alten Italienern zurück. Stundenlang übte er Tartinis Variationen über eine Gavotte von Corelli, bis ihm der Bogen aus der Hand sank.

Ein fast frühlingshafter Februarmorgen kam an die festgefrorenen Fenster. Karl Maria drehte den Schlüssel im Schloß und ließ die Tür nach innen aufklappen. Vor ihm in der Türöffnung hockte auf einem Stuhl ein dunkles, unförmiges Etwas. Langsam kam Leben in die schwere Masse; ein lautes Gähnen schnappte durch die Luft; zwei Arme reckten sich wie Brechstangen und wirbelten dann im Dreschflegeltakt um den pelzverhüllten Leib.

Karl Marias Schrecken wandelte sich zu verlegenem Staunen, als endlich Giacomo Williguth in des Vaters Pelzrock stattlich und mächtig vor ihm stand.

Der Riese tat einen Blick auf die Uhr im Musiksaal und schüttelte mißbilligend den Kopf: »Windelweich sollte man dich prügeln, dummer Bub!«

»Du darfst mich nicht verklatschen, Giacomo.«

»So? Damit du's ruhig so weitertreiben kannst? Nein, mein Lieber, daraus wird nichts.«

Er zog den widerstrebenden Knaben ans Fenster und betrachtete mit väterlicher Sorge die welke Haut um Mund und Augen, den glanzlosen Blick. »Der Teufel hole eure ganze Musik!« brach er zornig los. »Kein vernünftiger Mensch ist mehr in der Klingelbude da zu finden. Mich will der Alte zu einem Posaunenbläser deichseln, Gott verdamme mich! Da hat er falsch spekuliert. Auf eure Seele und so weiter pfeife ich. Mir sind gesunde Muskeln lieber. Paß mal auf, du Windhund!«

Damit schlüpfte er aus Pelzrock und Pelzstiefeln und begann, nur in Hemd und Hose, dem verblüfften Karl Maria unheimliche athletische Kunststücke zum Besten zu geben. Mit einer Hand hob er einen schweren Tisch hoch über seinen Kopf, balancierte ein wuchtiges Musiklexikon auf der Spitze des ausgestreckten Zeigefingers, und schließlich stemmte er mit den Zehen des rechten Fußes gar die Baßgeige.

»Das ist Kraft,« sagte er dann befriedigt. »Mach' mir das mal nach! Aber natürlich, du hast Muskeln wie ein Weibsbild. Merk' es dir, mein Bürschchen: Diese Lärmhölle, in der mein absonderlicher Herr Vater des Teufels Großmutter anbetet, die er Musik nennt, bleibt von jetzt an jede Nacht verschlossen. Der Schlüssel liegt unter meinem Allerwertesten. Dort magst du ihn holen.«

Karl Maria faßte nach der Hand des Riesen: »Es ist meine letzte Freude. Laß mir sie doch!«

»Dazu habe ich dich zu lieb. Vater in seiner Hirnverbranntheit gäbe dir womöglich noch recht. Nein, mein Sohn, der Schüssel wird abgezogen.«

Als Giacomo den verzagten Ausdruck in den Knabenaugen sah, sagte er barsch: »Ein seelengutes Mädel wacht jede Nacht durch, wenn du hier deinen Spuk treibst. Verdienst du das?«

Verbittert kam die Antwort: »Die Kundry hat mich also verpetzt?«

»Nein, mein schönes Herrchen. Aber im Gang draußen habe ich sie neulich abgefaßt, stierend und zitternd, mitten in der Nacht. Da hat sie gebeichtet. Du dummer Junge, weißt du denn überhaupt, was die Gundl wert ist?«

Beschämt schlich Karl Maria davon.

Giacomo aber trat vor ein Bild, das den großen Johann Sebastian Bach darstellte, verbeugte sich höhnisch und brummte: »Du närrischer Kerl dort oben, du Orgelbronze, du willst im ›Blauen Herrgott‹ regieren? Die Gundl muß singen, der Tredenius muß geigen, und ich soll die Violine streichen und dazu die Posaune zu Gottes Lob blasen. Man sollte dir das feiste Gesicht einschmeißen, du bezopfter Chinese!«

Solche Früchte trug Johann Sebastian Williguths musikalische Erziehung an seinem Erstgeborenen Giacomo.

 


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