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Oktober war es.

Da schüttelte auch Johann Sebastian Williguth den Staub des Alltags von seinen Füßen und zog nach Frankfurt, voll süßer Hoffnung, im Bann seiner Musik. Dem großen Kinde schien es nach den langen Jahren der Verborgenheit eine Fahrt ins Märchenland, so daß er stumm und milde vor seiner Seligkeit stand und seine Bibelweisheit vollständig vergaß. So fand er auch kein rechtes Abschiedswort für Karl Maria. Nebst ein paar technischen Ermahnungen sagte er nur wohlwollend: »Jetzt ist es an dir, den Wert der strengen alten Meister dem leichtsinnigen Volk in Ohr und Sinn zu bringen.«

Schier allein bereitete sich der Junge zur Schlacht. Die Frauen um ihn hatten wohl milden Sinn und treue Hände, aber keine Geschicklichkeit in so weltläufigen Dingen, wie es das erste Auftreten eines jungen Geigers ist. Zudem fehlte jetzt auch im »Blauen Herrgott« das frohe Gesicht des starken Giacomo.

Klar und scharf schnitten die schwirrenden Geigentöne in die Stille des Hauses. Und am Klavier saß Tag um Tag Frau Lisbeth und half in treuer Liebe das Glück ihres Jungen schmieden.

So warteten die vom »Blauen Herrgott« auf das Schicksal.

 

Dann kam die Miriam das letztemal vor dem Konzert.

Übermütig saß sie auf dem Fensterbrett, hatte die Knie keck übereinandergelegt und ließ den armen Karl Maria ihre hübschen Beine bewundern, die nun gar nichts mehr mit Storchenstelzen zu tun hatten. Gönnerhaft blinzelte sie ihm zu, und er mußte an Martha denken und an deren verliebtes Spiel.

So tat er nach Männerart eine Phantasiereise, die Miriam aber wartete auf eine Liebesszene.

»Ach, bist du dumm, Karl Maria,« sagte sie schließlich beleidigt und sprang von ihrem Locksitz, »ein Himmelsgucker, wie der Joseph.«

Und das alles, weil er nicht bettelte vor ihrer neuen Schönheit. Weltfern lehnte er am Fenster, in der großen Bangigkeit vor der Entscheidung.

Sie lächelte hochmütig. »Du bist ein Hasenfuß. Nicht mal Besuche willst du machen. Ganz allein war ich bei allen Musikkritikern. Oft ließen sie mich stundenlang warten, aber ich setzte mich einfach hin und biß die Zähne fest. Hatte ich die Kerle nur erst vor mir, dann ging es schon. Weißt du, der eine hat eine häßliche junge Frau, die mir grimmige Augen machte, als ich vor ihr auftauchte. Was hab' ich da getan? Ausgelacht habe ich sie!«

Widerwillig zwang er sich zu einer geschäftlichen Frage: »Wie ist's mit den Karten?«

»Nicht schlecht. Mein Gott, beim ersten Konzert heißt es immer daraufzahlen. Macht nichts!«

Verzweifelt stieß er hervor: »Ich hab' solch dumme Angst, Miriam!«

Da schlich sie zu ihm hin und schmiegte sich fest an ihn.

»Ich will nie vergessen, wie lieb wir einander hatten.«

Ihre schwarzen Augen blickten fest und herrisch, als müßten sie den kostbaren Schatz dieser Kindheit vor aller Gier des kommenden Lebens verteidigen. Ihr Kinn sprang allzuschwer aus dem rassigen Mädelgesicht, und rechts und links liefen zwei ernste Falten zu den Mundwinkeln. Während ihre schlanken, festgliedrigen Finger Karl Marias Haar streichelten, flüsterte sie: »Ich will hinauf, und du sollst es auch.«

Er atmete schwer.

Sie aber klatschte in die Hände und tanzte durchs Zimmer, in dem Narrensturm ihrer Sinne: »Geige sie alle nieder, Karl Maria, alle!« Plötzlich bettelte sie ganz zaghaft: »Aber, bitte, spiele mich nicht tot! Hast mich ja lieb.«

Wehrlos und stumm stand der Junge vor diesen ersten Flügelschlag der Frauenselbstsucht. Miriam warf zornige Blicke um sich. »Wenn sie dir mehr klatschen als mir, – dann, ja dann hasse ich dich!«

»Ich muß Mutter und Schwester freikaufen.«

Trotzig ging sein Blick ins Dunkel. Wie Fieber brannte es in seinem Blut, Hitze und Frost, in jähem Wechsel. Heimlich betrachtete er die Miriam: Die siegt. Und ich?

 

Beim Nachtessen bat Karl Maria: »Laßt mich heute im Musiksaal schlafen. Ich habe oben doch keine Ruhe. Und wenn Ihr mein Geigenspiel hört, erschreckt nicht gleich!«

Die Williguth legten Messer und Gabel hin, rollten traurige und erstaunte Augen und priesen einhellig den Segen eines gesunden Schlafes. Frau Lisbeth aber entschied zugunsten ihres Jungen. Es war ja das erste Stück des Weges, den er von jetzt an allein zurücklegen mußte, und sie wollte ihm diesen Anfang nicht noch schwerer machen. In den Augen dieser Frau, die weder stark noch groß war, leuchtete eine Liebe, die in bangem Ringen erkannt hatte, daß Verzichten köstlicher sei als Besitzen.

Der künftige Mediziner Philipp Emanuel trug voll Weisheit beruhigende Pulver und Selterswasser herbei, die anderen bereiteten schnell für Karl Maria ein Bett. Einer brachte Kissen, der zweite schleppte eine warme Decke heran, Philipp Emanuel steckte neue Kerzen auf und mischte den heilsamen Trank.

»Das Licht ist gut, wenn man schlimme Träume hat.«

Und tat eine große Gebärde, als gäbe es keinen Zweifel.

 

Frau Apollonia heizte höchst eigenhändig den mächtigen Ofen, denn die frühe Novembernacht war wolkenschwer und kalt.

Dann mußte Karl Maria noch dicke graue Wollstrümpfe anziehen, während alle Williguth um ihn im Kreise standen und gefühlvoll sangen: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle 'naus?«

So zogen sie lärmend davon, voll Wichtigkeit in dem bescheidenen Schimmer, den Karl Marias Ruhm auch ihnen schenkte. Heimlich aber graulten sie sich, weil der Vetter ihrer satten Spießbürgerlichkeit doch ein wenig unheimlich vorkam. Und der Zuckerbäcker Robert, der noch schnell alle Ecken und Winkel des Musiksaales mit einer Kerze abgeleuchtet hatte, sprach ihnen allen aus dem Herzen, als er draußen flüsterte: »Jetzt kriegt er Gespensterbesuch.«

Karl Maria Tredenius war allein, wie ein Priester vor seiner ersten Messe.

Er saß auf dem bunt zusammengetragenen Bett und horchte auf das leise Kommen und Gehen im »Blauen Herrgott«.

Der Ofen glühte und brummte mit seinem Baß verdrießlich in die Finsternis.

Langsam schlief der »Blaue Herrgott« ein. Auch die tagüber schon einsamen Gassen sanken in Nacht und Stille. Nur Karl Marias Herz klopfte fort und fort, wie ein Uhrwerk im Dunkel.

Er trat ans Fenster. Wolkenschwer und sternlos hing der Himmel über Stadt und Land. Im Westen war ein gelbrotes Leuchten, das aber nicht von der längst versunkenen Sonne, sondern von den Lichtern der großen Stadt kam, die dort hinten begann, wo das stille Reich des »Blauen Herrgott« sein Ende hatte.

Karl Maria grüßte diese Lichter. Morgen trat er mitten unter sie und warb um ihren Glanz.

Dies »Morgen« stand wie eine schwarze Mauer vor ihm. Er streckte die Hände aus, als müßte er etwas niederringen, das ihm da aus der Dunkelheit entgegenwuchs.

Dann griff er nach der Geige.

Die Angst wollte er fortspielen, geriet aber immer tiefer hinein. Gelang eine Stelle, frohlockte sein Stolz, zerriß eine Harmonie, sank der Bogen in Zorn und Scham.

Es war eine Nacht voll Süßigkeit und Qual, wie damals nach Hans Geßners Konzert, als im Kerzenlicht die krausen Noten der Brahmspartitur vor Karl Marias Augen tanzten.

Viertelstundenlang lag er in stumpfer Müdigkeit auf seinem Bett, dann trieb es ihn wieder auf. Wie einer, der im Morgengrauen aufs Schafott muß.

Da knisterte es in die Stille.

Auf dem Fenstersims, der im schwachen Schimmer einer Straßenlaterne aus dem Dunkel schnitt, saß eine Maus, äugte neugierig in das schwarze Zimmer und lief geschäftig auf und nieder.

Voll kindischer Freude, daß er nicht ganz allein war, riß Karl Maria den Bogen über die Saiten. Ein kühnes Allegro des Veracini wogte auf. Voll und stark war der Ton, ohne Rücksicht auf den Schlaf im »Blauen Herrgott«.

Das Mäuslein spitzte die Ohren und machte tolle Kapriolen, wie um zu tanzen, und verschwand dann im Dunkel.

Karl Maria umklammerte seine Geige, als wäre sie das Sprungbrett zum Glück. Knarrend ächzte das Holz unter seinem Griff.

»Wenn ich dich zum zweitenmal zerschlage –.«

Doch er sprach den Satz nicht zu Ende, stand und wartete und sagte dann nur: »Du mußt!«

Und jetzt horchte er ganz still. Ein Rauschen ging durch sein Blut. Er schloß die Augen und ließ den Bogen die Saiten entlang laufen, schnell und leicht, in freier Phantasie.

Karl Maria vergaß, daß es morgen sein Schicksal galt, heute war er König in seinem Reich. Wie ein Rausch kam es über ihn. Voll und kühn sprang sein Ton durch die schweigsame Nacht.

Stück um Stück nahm er sein Programm vor, spielte jetzt leise und verhalten, nicht aus Rücksicht für den satten Schlaf der Williguth, sondern aus Scheu, sein neues Glück laut werden zu lassen.

In dieser Nacht war Karl Maria Tredenius ein großer Geiger.

Dann kam der Morgen.

Mit blassem Gesicht und trocknen Lippen stand Karl Maria im grauen Dämmer.

Der Rausch war fort. Langsam strich er über die Stirn. Alles in ihm war leer und ohne Glanz. Mit schrecklicher Gewißheit begriff er, daß der Tag ihm nicht wiederschenken konnte, was er so toll an die Nacht verschwendet hatte.

Er riß die Tür auf.

Im fahlen Dämmerlicht saß da eine Gestalt, auf einem Schemel eingeschlummert. Das Haupt war nach vorne gesunken und lag licht und schön auf der Brust.

»Gundl!« schrie er und rüttelte die Schläferin wach.

»Ach, Karl Maria, jetzt bin ich doch eingeschlafen. Mußt mir es verzeihen,« sagte sie schlicht.

Er fand kein Wort der Dankbarkeit. Beinahe zornig starrte er das blonde Mädel an, das wieder für ihn gewacht hatte, ein treuer Hausgeist.

»Darfst den andern nichts sagen,« murmelte sie und sah ihn scheu von der Seite an.

Er stampfte mit dem Fuß. »Ich mag dir nicht alles danken!«

»Das brauchst du auch gar nicht. Nur glücklich werden sollst du.«

Mit hochgezogenen Schultern stand er und lauerte.

»Was wird aus mir werden?«

»Ein großer Geiger, Karl Maria, um den ein dummes Mädel schon wachen darf.«

Sie küßte ihn leicht und schnell aufs Haar.

 


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