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Und Frühling war es, als Andreas Katzenkopf mit seiner Schar nach Weimar kam, allerdings ein thüringischer Frühling, der herber und spröder ist als weiter unten im Süden. Aber Sonntag war es, und ein blauer Himmel stand gar freundlich über der Stadt, in der deutsche Schulmeisterlein hinter ehrfürchtigen Brillen und frohe Weltfahrer aus innig erstaunten Augen eine der Wiegen kernhaften Deutschtums betrachten. Das Sachsenland ist gar reich daran. Da liegen die alten Klosterschulen, in denen der stolze neue Geist des Widerstandes wuchs, da ist Wittenberg, wo sich leider nicht das ganze deutsche Volk von den Ränken jenseits der Alpen schied, und da wogt gelbe Saat, wo deutsches Blut den Acker düngte.

Da stand jetzt Karl Maria Tredenius in seinem Kämmerlein und blickte in den Frühling hinaus, der jung und heiß und dumm war wie er selbst. Von der Jakobskirche dröhnte die Orgel, als ziehe Johann Sebastian alle Register und opfere seinem Bach. Ganz leise ging der Sonntagfrieden durch die engen Gassen. Im Zwingergarten, der, zwischen zwei alte Häuserchen gepreßt, sein bescheidenes Lenzfest feierte, sahen weiße und gelbe Augen gar andächtig ins Himmelblau, und die zwei oder drei knorrigen Obstbäume trugen Blütenschnee, daß Stamm und Ast wie Mohrenglieder aus dem weißen Hemde langten. Der Efeu kletterte die alten Feuermauern hinan, nur die Ramblers begnügten sich einstweilen noch mit froher Verheißung.

Karl Maria hielt Auslug und dachte an den »Blauen Herrgott«, wo jetzt der Oheim die Orgel spielte und die vielen Williguth leider Gottes schon Mittagsgedanken hatten. Und die Trix faulenzte jetzt wohl in ihrem Park und fing die erste Sonne auf. Hell und reich war diese Stunde und voll feierlicher Einkehr in sich selbst.

Am Abend lief Karl Maria durch die blaudämmerigen Gassen bis weit hinaus. Nebel flatterten vor ihm her. Und da schoß ein Wässerlein im Buschwerk. Der ungelehrte Geiger kannte nicht den Namen, aber er freute sich doch daran und ging dem Glucksen des Flüßleins nach. Im unruhigen Licht der Sterne trat eine Ruine aus dem frühlingsknappen Grün. Auf den Wiesen zogen die Nebel ihre Schleier, und dahinter am Berghang blitzten einige Lichter. Und er wußte: Dichter hatten hier gelebt, ihr irdisches Sein mit starken Wurzeln in diesen Boden gesenkt und mit den Armen nach den Sternen gegriffen.

Kreuz und quer ging dies alles durch Karl Marias Kopf, als er so die zerstreuten Stückchen seiner Gymnasiastenweisheit zusammensuchte. Überall gab es Lücken, und er schüttelte mißmutig den Kopf.

Hinter dem Nebel war ein milchiger Glanz, als klappte der Mond seine Nachtlaterne auf. Und da drüben stand ein weißes Haus mit hoher Dachkapuze. Auf dem Anger davor tummelten sich die Nebeljungen. Sehnsüchtig blickte Karl Maria hinüber. Ob da wohl einer ausruhte von mannigfacher Weltfahrt, wie er sie jetzt trieb? Demütig bat er die blaßschimmernden Sterne um ein wenig Glück, straffte die Muskeln und rannte wieder in die Nacht. Durch eine einsame alte Kastanienallee ging es, wo der Nachtwind das frischgrüne Laub zauste, bergaufwärts, bis vor ein gelbes Schloß. Durch eine solche Allee war er zum Hause der Trix gelaufen, die seine heißen Hände kalt von sich getan hatte. Der blieb nicht Sinn noch Zeit für einen Geigerjungen.

Ein neuer Stolz ward Herr über dieses Weh, und er wanderte wieder nach Weimar zurück. Schwarz wuchs die Jakobskirche aus dem matten Mondgerinnsel, und da grüßte das traute kleine Haus, von braunen Ranken umsponnen, aus denen bald leuchtende Rosen sprießen sollten. Auf dem Pflaster glitt ein zitteriger schmaler Schatten auf und nieder, wie mit der Schere als Silhouette geschnitten und von einer unsichtbaren Hand in Bewegung gehalten. Dürr und lang lief da ein Mensch vor dem Hause, zwei schwarze Spitzen flatterten hinterdrein, und daraus lugten ein blauer und ein gelber Flaschenkopf hervor. Ernst Theodor Amadeus hätte keine schnurrigere Gestalt ersinnen können, als sie in der Person Andreas Katzenkopfs hier leibhaftig auf und ab trabte.

»Da bist du endlich, mein Junge,« begrüßte er mit weitem Schwunge seines unheimlich hohen und ebenso schäbigen Zylinders Karl Maria Tredenius. Der riß erstaunt die Augen auf, als der Alte geheimnisvoll fortfuhr: »Weißt du, in welcher Stadt du bist? Vor vierzig Jahren war ich auch da, so jung wie du und so dumm wie du. Aber heute will ich wieder jung sein und dir von den Geistern von Weimar erzählen.«

Aus einem Winkel des Hauseinganges holte er Karl Marias Geigenkasten: »Nimm das mit, Bub! Die Pfaffen lassen Weihrauch dampfen und du deine Geige. Ist kein schlechter Ding.«

Wieder schritt der Bub mit dem alten Kind in die Nacht hinein. Der Mond war langsam höher geglitten und gab all sein Licht an die stille Stadt. Wieder stand Karl Maria auf der nebeldampfenden Wiese, die jetzt wie ein Teich brodelte und wogte, und drüben glänzte silberweiß das Haus mit der Dachkapuze.

»Hier wohnte Goethe,« sagte Katzenkopf und streckte feierlich beide Arme aus wie Meilenzeiger in die Ewigkeit.

»Die Geige ans Kinn!« herrschte er dann. »Denk jetzt an Mozart und los!«

Mit seltsam singender Stimme schritt er quer durch die nachtfeuchte Wiese, die Augen groß und leuchtend, ein deutscher Bettler im seligsten Traum.

Und er sang:

»Um Mitternacht,
Wenn die Menschen erst schlafen.
Dann scheint uns der Mond,
Dann leuchtet uns der Stern
Wir wandeln und singen
Und tanzen erst gern.«

Darüberhin flog die Guarneri, ohne Angst vor der schlimmen Feuchtigkeit der Nacht, und eine Jungenseele flog mit, brannte hell wie ein Irrwisch und tanzte mit Melodien aus Wolfgang Amadeus um die Wette. Aus dem G-Moll-Quintett griff er sie heraus, halb Schmerz und halb Lust. Und die Ilm rauschte den Grundbaß. Licht und Schatten unvermittelt nebeneinander, in Moll und Dur, aus einem Motiv entwickelt. Der Alte sang:

»Und wandeln und singen
Und tanzen einen Traum.«

»Solange wir Bettler Goethe und Mozart und Bach und alle die anderen haben, dürfen wir nicht verzagen,« murmelte Herr Andreas und besah seine nebelnassen Schuhe.

»Nun wollen wir ihm ein fröhliches Schmollis anbieten, dem alten Herrn mit der lichten Seele!«

Er zog eine blauköpfige Flasche aus seinem Rock und machte sich mit einem Pfropfenzieher zu schaffen. Dann trank er und neigte sich vor dem Haus im Mondlicht.

Und Karl Maria aus dem »Blauen Herrgott« tat ihm Bescheid.

Das weiße Haus glänzte durch den Nebel wie ein fernes Ziel. Karl Maria warf einen scheuen Blick auf den freudig bewegten Greis und murmelte, sodaß der Bacchusselige es nicht hören konnte: »Laß mich nicht werden wie Andreas Katzenkopf!«

Der kluge Geheimrat hätte dazu wohlwollend mit dem Kopf genickt.

Aufrecht und stolz im Gefühl seiner frisch erkämpften Sicherheit ging der Junge mit Katzenkopf über die dampfende Wiese, tiefer in den nächtlichen Park.

Herr Andreas aber schleuderte wohlgemut seine Lieder in diese Stille und trank dazwischen aus der blauköpfigen Flasche zur Herzstärkung. Mit taumelnden Schritten führte er den Jungen zum Borkenhäuschen, dessen braungraue Rinde mit Silberflecken übersät war. Nun kam die zweite Flasche daran, die mit dem gelben Kopf. Ins Trinken mischte er weise Worte und senkte seine geringe und krause Weisheit über die Großen von Weimar dem Knaben ins Herz. Von schönen Frauen wußte er mancherlei und von lustigen Nächten, als ein Tanzen und Wiegen über diese Wiesen gegangen war.

»Auch heute noch, mein Sohn, gibt's feines Frauenvolk in dieser Stadt. Ums Abenddämmern vor dem Theater habe ich eine gesehen, daß mein Herz wieder jung werden wollte. Brennheiße Augen und ein roter Mund. Und daneben ein dickes Ungetüm, häßlich wie Kaliban. Ach Gott, wenn du erst küssen könntest!«

Karl Maria lächelte leise, und seine Hände streichelten das braungraue Rindenwerk.

Herr Andreas aber erzählte von den geheimnisvollen Nächten, da Goethe in der Ilm badete und dem Monde zujauchzte, von der stillen Arbeit des Einsamen unter den Lauten wußte er freilich viel weniger. Doch er gab Bruchstücke aus dem »Faust« und Fetzen aus den Gedichten, wie es eben in seinem Kopf bunt durcheinanderlag, und hielt so heilige Nacht auf seine Weise.

Karl Maria tat manche Frage, die Katzenkopf unwillig von sich abschüttelte, derweil er doch nur bestrebt war, sein irres Leben durch das Treiben dieser Großen vor dem Jungen zu rechtfertigen. Als er gerade mit seiner Fistelstimme von der Sehnsucht sprach, die Goethe nach Italien getrieben, und die Pracht der oberitalienischen Seen, die er einmal geschaut, in hellen Farben ausmalte und zugleich seine Wanderschaft als die Erfüllung der gleichen Sehnsucht hinstellte, merkte er, daß Karl Maria eingeschlafen war, die Geige unter dem Rock versteckt, wie ein Kind wohl mit einem lieben Spielzeug tut.

Katzenkopf hockte sich daneben und deckte ihn mit seinem Leibe vor der Nachtkühle; er selbst schlief nicht, saß nur mit nachdenklichem Gesicht, als hätte er Furcht, diesen Jünger bald zu verlieren.

Der Morgen erst scheuchte die beiden auf. Wieder brodelten Nebel, die Sonne kämpfte dawider und ward Herr über sie.

Als sie nach der Stadt wandelten, todmüde und doch glücklich, gab der Alte Karl Maria einen scherzhaften Stoß: »Hast du sanft geträumt, Bub? Steck' diesen Traum in deinen Schnappsack und, hat dich der Kummer, krame darin.«

Karl Maria lächelte und ging in diesem Maimorgen wie einer, dem in Bälde ein großes Glück beschieden sein muß. Am Abend aber strich er die Geige im Tivoli zu den ausgelassenen Liedern seiner Genossen.

Einige Tage später kam er am Theater vorbei und las aus Langeweile den Zettel. Heute gab man »Hoffmanns Erzählungen«. Da sein Herz voll von Hoffmanns Spukgestalten und musikalischen Schattenbildern war, kaufte er ein billiges Billett und ließ Andreas Katzenkopf die Musik allein besorgen.

»Willst du uns untreu werden?« fragte der Alte und wackelte sorgenvoll mit dem Kopfe. Als er aber vernahm, worum es sich handelte, grinste er vergnügt: »Recht so, geh nur zum Hexenmeister! Ist seit kurzem tot, aber seine Musik hat ewige Leichtigkeit.«

Und er hoffte, daß diese musikalische Romantik den eigenwilligen Jungen ganz in seine milde Gewalt bringen werde.

 


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