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Still und gleichförmig flossen die Tage. Karl Maria blieb geduckt und verschlossen und kapselte sich allmählich in seine alte Traumwelt ein, wie eine Schnecke im Herbst in ihr Häuschen. Er lebte ein eigenes Leben für sich, von dem niemand wußte, und das ganz anders war als das laute, derbgesunde Treiben im »Blauen Herrgott«, viel reicher, bunter und tiefer. Nach seiner Geige aber griff er niemals, in einer seltsamen, bangen Scheu.

Er lernte sogar lachen und mit den anderen fröhlich tun, während sein Herz abseits wanderte in dunklen Gängen, in denen er allein sich zurechtfand. Onkel Williguths Heim galt als musikalisches Haus, wenigstens wurden hier Kinder geplagt und Instrumente mißhandelt, vom Klavier der kleinen Kundry bis zur mißtönigen Geige des starken Giacomo. Aber jetzt schwieg, auf Johann Sebastians gemessenen Befehl, jede Musik. Nur die Orgel des Hausherrn rollte ihre feierliche Wucht durch den »Blauen Herrgott«. Das Instrument des Gottesdienstes allein sollte den Hochmut Karl Marias in Demut wandeln und ihn zu reuiger Einkehr führen, nach der weisen Absicht Johann Sebastians, der allen Trotz und eitlen Weltkram aus der Seele des Knaben reißen wollte, jegliches Unkraut mit Blatt und Wurzel. Mahnend und vorwurfsvoll brausten die Fugen und Kantaten, und erbaulich setzte Vater Williguths mächtige Stimme das fort, was der Vox humana und der Vox angelica nicht hatte gelingen wollen. Statt in die Orgelmanuale griff er kräftig in Apostelgeschichte und Epheser und belegte seine Mahnungen an das störrige Weltkind Karl Maria mit trefflichen Worten des streitbaren Paulus, den er besonders liebte. Karl Maria sollte sein eitles frühreifes Virtuosentum von sich tun und zerbrechen wie ein Gefäß der Unehre, reuig zurückkehren zur edlen Kunst und göttliche Harmonie in sich trinken wie köstlichen Wein aus güldenem Becher.

Dieser Gedanke lenkte alles Tun der Williguth im »Blauen Herrgott«. Aber das Böcklein in der Herde hatte einen gar starren Sinn. So sorgten sie einstweilen nach Kräften für sein leibliches Wohl. Karl Maria mußte Milch trinken und viel spazieren gehen, immer in Begleitung einer Schar aus Johann Sebastians Nachwuchs. Gewisse Stunden waren für die Schulvorbereitung festgesetzt, und ein dreizehnjähriger Williguth, der als Vorzugsschüler glänzte und den höchst musikalischen Namen Philipp Emanuel trug, entfaltete dabei seinen jungen Pfauenstolz. So ward das abenteuerreiche Leben der letzten Zeit in sorgsam umzirkelte Kreise geschlossen, die immer enger und enger wurden und jede Sehnsucht allgemach erstickten. Zuerst war es ein trotziges Widerstreben, dann ein unfreudiges Gewährenlassen und schließlich ein traumhaftes Hindämmern, das eine feingliedrige Schattenwelt für Wirklichkeit und den Alltag für einen schlimmen Alp nahm. Wie eine Welle, die weltfremdes Zeug an eine einsame Insel spült, drang manchmal eine Kunde von außen in die alltägliche Behaglichkeit des »Blauen Herrgott«.

Zuerst kam ein Brieflein der Miriam, altklug und gesetzt, daß man merkte, wie Vater Gideon der kleinen Schreiberin über die Schultern geguckt hatte. Sie erzählte von einem neuen Ballett, in dem sie eine kleine, o leider wieder so ganz kleine Rolle habe, von ihrer Stimme, die wachse und stark werde, so stark, daß Mutter Charlotte sie mit dem Abstauber verfolge ob des Spektakels, von der Linde im Garten und dem alten Fliederbaum, der in voller Blüte stehe, und von dem lieben Amselpaar. Dann kam ein durchstrichener Satz, den Karl Maria mit vieler Mühe entzifferte: »Ob es dieselben Amseln sind, die dich geigen lehrten?«

Da litt es Karl Maria nicht länger. Er hatte ausgetrotzt. Mit dem Briefe in der Hand eilte er in sein Mansardenstübchen und kramte in der dickbauchigen Kommode mit den verschnörkelten Messingbeschlägen nach seiner Geige. Mit einem Triumphschrei riß er sie heraus und legte sie ans Kinn. Hastig warf er den Bogen auf. Einige Läufe jagten dahin, ein kunstvolles Stakkato und dann ganz leise wie Grillenzirpen ein Pizzikato.

Tief aufatmend ließ er die Geige sinken und blickte dankbar in den frühlingsblauen Tag hinaus. Mit einem Male stand Kunigunde Williguth im Zimmer. Zierlich trippelte sie auf den Vetter zu und fragte freundlich: »Hast du so hübsch gespielt, Karl Maria?«

Er nickte glücklich, faßte die erschrockene Kundry um die Mitte und tanzte wie toll mit ihr im Kreise.

»Ach Gott, wenn ich nur geigen kann, dann will ich schon im langweiligen ›Blauen Herrgott‹ bleiben. Ich hab' dich lieb, Kundry, du dummes Mädel!«

»Bin ich dir nicht zu dick?« sagte traurig die Kundry und beklopfte wehmütig ihre stattliche, wohlgerundete Leiblichkeit.

Wie ein Brummbaß polterte da Johann Sebastian in diese erste feine Dämmerstunde von Bub und Mädel. Er tummelte sein pädagogisches Steckenpferd im Kreise und zerriß die spinnwebfeinen Fäden, die diese Herzensseligkeit um Karl Maria spann.

»Dein Geigenspiel gedenke ich fortab zu leiten, lieber Karl Maria,« sagte er wohlwollend und griff nach Geige und Bogen. Scheu wich der Knabe vor ihm zurück.

»Wir müssen noch viel Unkraut jäten, mein Junge. Mit den brillanten Kinkerlitzchen hat es nun ein Ende. Die Musik soll dir ein Gottesdienst sein, kein müßiger Ohrenkitzel,« predigte er salbungvoll und lächelte zufrieden. Als Karl Maria an ihm vorüberhuschen wollte, hielt er ihn strenge fest: »Dageblieben, junger Herr! Ich will dich erst mal tief untertauchen in den heiligen Strom der Musik, ehe du Herr darüber sein magst. Von heute an bist du mein Schüler.«

Er streckte die Hand aus, als reichte er eine große Guttat dar.

»Wirst es mir noch einmal danken, Bub.«

»Er hat doch eben so wunderhübsch gespielt,« schmollte Kundry. Da schob sie der Riese unwirsch hinaus, schloß hinter ihr die Tür und wandte sich wieder zu Karl Maria: »Sie haben dich gestreichelt und geküßt, schönes Herrchen, ich aber will dich mit Ruten streichen, zu deinem Heil und zum Segen der wahren Kunst. Merke dir, mein Kind, das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden. So sollst du nicht lauschen, ob dein Spiel wirkt, sondern ob es heiß und heilig aus deiner Seele brennt. Die linke Hand regiert das Saitenspiel, und die ist dem Herzen zunächst.«

Mit großer Gebärde holte der wunderliche Mann von neuem aus: »Dein Vater hat dich an die Menschen verkauft, ich aber will deine Seele an die göttliche Schönheit verhandeln.« Er hob den schweigsamen Knaben zu sich empor und küßte ihn feierlich auf die Stirn: »Demütige dich, und Gott wird dich erhöhen.«

 


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