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Die arme Miriam, die immer länger und dürrer wurde, behandelte er in diesem Herbst sehr schlecht, trotzdem sie in ihrer kindischen Verzweiflung gefügiger war als sonst und ihre hübschen schwarzen Augen oft um ein gutes Wort bettelten. Ihr großer Schmerz war es jetzt, daß man ihr in einem Tierballett die Rolle eines Storches zugewiesen hatte. Diese offenkundige Heimtücke des Ballettmeisters kostete sie viele Tränen und manche schlaflose Nacht. Sie warf sich auf den Boden, schluchzte und strampelte mit den Beinen, und Frau Charlottens kräftige Hand mußte oft Ordnung schaffen. Auch die Schwestern und der gutmütige Joseph hatten manchen Strauß mit dem ungebärdigen jungen Ding auszufechten.

Eines Tages fand Karl Maria sie in dem Gärtlein. Sie saß auf der Bank unter der goldgelben Linde, hielt ein flaches rotes Plüschetui auf den Knien und war emsig mit ihren Fingernägeln beschäftigt. Sie hatte ganz heiße Wangen und schabte und feilte, daß es eine Art hatte.

»Was machst du denn?«

Sie blickte kurz auf, zog ein trotziges Gesicht und antwortete schnippisch: »Ich pflege meine Hände.«

Er setzte sich zu ihr und sah ihrer Arbeit zu. »Woher hast du das Zeug?«

»Mein ganzes Taschengeld ist draufgegangen.«

Stolz hielt sie ihm ihre Schätze vor die Augen.

Karl Maria lächelte überlegen. Die Mutter pflegte jeden Morgen seine Nägel, weil ein Geiger seine Finger haben mußte, aber so viel Kram, wie die Miriam da in ihrer Schachtel hatte, war einfach lächerlich. Mit dem Waschen nahm sie's wohl nicht so genau.

»Du hast aber schmutzige Ohren, Miriam,« sagte er gemütsroh.

Sie ward dunkelrot und stammelte: »Es kommt doch nur auf die Nägel an.«

Karl Maria lachte hellauf.

Plötzlich warf Miriam die schönen neuen Werkzeuge achtlos in den Sand, schlenderte scheinbar harmlos von der Bank weg, bückte sich nach einem Haufen welken Laubes und streute Karl Maria eine Handvoll goldener Lindenblätter ins Gesicht.

Flugs antwortete er mit gleicher Münze. Sie sprangen einander nach, haschten sich und rollten sich abwechselnd ins raschelnde Laub.

Auf einmal waren sie wieder gute Freunde, wie ehedem. Und Karl Maria stellte nach und nach die Morgenpromenade Am Wasserturm ein. Er hatte jetzt plötzlich so wenig Zeit.

Miriam aber ritt ein neues Steckenpferd. Sie begann zu singen. Überall, im Garten und im Hause, selbst auf der Gasse, daß alte, ehrwürdige Leute ganz sonderbar die Köpfe schüttelten. Frau Charlotte wußte kaum mehr, ob sie schelten oder das neue Talent ihres Goldkindes bewundern sollte. Denn seltsamerweise ward das kleine Stimmlein immer heller und reiner, je täppischer und reizloser der Mädchenkörper aufschoß. Offenbar hatte die Natur Mitleid und wollte der Miriam ein Geschenk geben für ihre arge Häßlichkeit.

»Kann ich's nicht gut, ich armseliger Storch?« schrie sie triumphierend und verschluckte ein paar Tränlein. Und mit heller Stimme sang sie drauflos:

»Storch, Storch, Langbein,
Wann fliegst du ins Land herein?
Bringst dem Kind ein Brüderlein?
Wenn der Roggen reifet,
Wenn der Frosch pfeifet,
Wenn die goldnen Ringen
In der Kiste klingen.
Wenn die roten Appeln
In der Kiste rappeln.«

Manchmal kam sie hochrot heim und flüsterte Karl Maria zu: »Heute hab' ich wieder der Ermattinger vorgesungen. Die hat Augen gemacht, hui!« Oft saß sie ganz allein im Garten, dem die Herbststürme den letzten bunten Schmuck raubten, faltete die Hände und bat ganz leise: »Wenn ich schon so häßlich bleiben muß, lieber Gott, lass' mich wenigstens sehr berühmt werden.«

So trieb sie ihr seltsames Wesen zwischen Lachen und Weinen.

Karl Maria zeigte geringes Verständnis für Miriams wetterwendische Art. Er hatte an jenem Septembernachmittag einen Blick in eine andere, buntere Welt getan und kam davon nicht los. Er rechnete sich schon zu den Großen und betrachtete die Miriam als dummes Mädel. Traurig war es allerdings, daß sie so mager und häßlich blieb trotz der vielen guten Bissen, die ihre Mutter ihr vorsetzte. Der storchbeinige Vielfraß schien eben gar nicht nach Frau Charlottens behaglicher Mündlichkeit zu geraten. Selbst Gideon setzte ein wenig Fett an, und Joseph und die kugelrunde, rothaarige Johanna, der dicke Hans genannt, die unermüdlich in Haus und Küche putzte und kochte, wusch und scheuerte, wetteiferten an gediegener Leiblichkeit sogar mit der Mutter. Nur Jacques tat es der Miriam nach und blieb dürr wie ein armer Hase nach einem schlechten Winter. Seine Adlernase stach scharf wie eine Messerklinge in die Luft, und was seine heimlichen Geschenke an Martha Tredenius verschlangen, ersparte er an seinem Schneider, der immer weniger Stoff für Jacques' elegante Kleider brauchte.

Unverdrossen trug Karl Maria dicke Briefe zur Schwester, aber meist kehrte er ohne Antwort zurück. Martha lächelte hochmütig und ließ die Schnitzel von Jacques' Liebesbriefen in den Wind flattern. Karl Maria zuckte nur mitleidig die Achseln, wenn Jacques eifersüchtige Fragen nach Marthas Treiben stellte.

Sie trieb es jetzt bunter als je. Daheim sah man sie kaum mehr. Nur das Mittagessen beehrte sie mit ihrer Gegenwart, weil sie da stets den Vater um Urlaub für den Abend anbettelte. Sie hatte auf einmal unendlich viele Freundinnen, mit denen sie in Theater oder Konzerte gehen mußte, natürlich auf Freibilletts, die einem klugen Mädel wie ihr nur so zuflogen. Und Franz Tredenius, wenn er nicht gerade in Geldnöten stak, hatte, wie mancher Leichtfuß, Sinn für den schmunzelnden Betrug an dieser armen Gotteswelt. Darum ließ er auch dem Mädel, dessen Flattersinn er wohl durchschaute, jede Freiheit, in der heimlichen, wenn auch nicht sehr ehrenwerten Hoffnung, durch eine gute Partie seiner hübschen, klugen Martha den gottverdammten Postdienst bald auf gute Art loszuwerden. Vater und Tochter besaßen eine gar gesunde Lebensgier, die nicht rechts und nicht links schaute, sondern bloß herzhaft geradeaus. Das Behagen, das Frau Lisbeth und ihr Bub in einsamen Stunden fanden, suchten die beiden anderen nur im Leben selbst, dem sie möglich viel Genuß abzugewinnen trachteten. So hielt Franz Tredenius Marthas Partei gegen die Mutter, bald schmunzelnd und vergnügt, bald hämisch und verbittert.

»Die Martha wird es wenigstens zu etwas bringen,« schrie er oft und hieb in dieser frohen Voraussicht dröhnend auf den Tisch.

Lisbeth schwieg dann, kreuzte die Arme und sah geradeaus.

Karl Maria aber begann allmählich der Schwester recht zu geben und heizte das Feuerlein seiner Selbstsucht an ihrer Lebensklugheit. Denn Martha brachte es wirklich zu etwas. War sie besonders gut gelaunt, durfte der Bruder in ihr Stübchen neben der Küche kommen, und sie zeigte ihm in der alten Kommode ihre heimlichen Schätze, die hübschen Geschenke aus dem Hause Vogelsang & Cie. und wohl noch von anderer Seite. Da gab es bunte seidene Unterröcke, seine Wäsche, leicht wie Seidenpapier, durchbrochene und gestickte Strümpfe in allen Farben, teuere Parfüms in wunderhübschen Kristallfläschchen, kurz, all den süßen Unsinn, um dessentwillen ein junges Ding sich mit Haut und Haar dem Teufel verkauft. Schier ein Wunder war es, welche Pracht sich in den Schubladen der alten Kommode barg. Der dumme Bub aber träumte von Prinzessinnen, hockte mit scheuen Augen auf dem abgeschabten Teppich und strich mit den feinen Geigerfingern ehrfürchtig über die knisternde Seide. Manchmal knöpfte er sogar als dienstwilliger Page Marthas zierliche Lackstiefelchen und fühlte sich sehr geehrt, daß er einer erwachsenen jungen Dame helfen durfte.

Frau Lisbeth konnte dieses Spiel nicht verborgen bleiben. So lief ein wortloser Kampf zwischen Mutter und Tochter um die Seele des kleinen Karl Maria. Aber Martha wich geschickt jeder Szene aus, war freundlicher als sonst, und ihr harmloses Lachen warf jeden Groll in Scherben. Frau Lisbeth wieder war ohne rechte Kraft zur Tat und wollte Karl Maria nicht wehe tun. Sie war ja Johann Sebastian Williguths Schwester, und alles frische Zupacken war in den 21 Jahren ihrer Ehe mit Franz Tredenius allmählich zag und scheu geworden, daß sie Glück und Bitterkeit in versteckte Winkel trug. Raffte sie sich aber, durch eine kecke Rede des Jungen gereizt, einmal auf, so riß ihr der allzulang erstickte Zorn das Wort vom Munde und machte es bitter und ungerecht, daß es sein Ziel verfehlte.

 


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