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Nun kamen und gingen die kleinen Briefe zwischen der Judengasse und dem »Blauen Herrgott«.

Nur Kundry wußte davon, und die schwieg.

Aber eines Tages erklärte sie dem erstaunten Vater, ihre Singstimme bedürfe der Ausbildung.

Zuerst lachte Johann Sebastian, dann dachte er lange nach.

»Gehör hat sie keines, und die Stimme ist vorläufig ein Zwirnfaden,« knurrte er schließlich, »aber Gott ist allmächtig auch im Geringsten.«

Und so bekam Kundry richtige Gesangsstunden. Mit eisernem Fleiß biß sie sich durch und strebte in verzweifelter Hartnäckigkeit ihrem Ziele zu.

Karl Maria beobachtete ihr Tun mit stillem Staunen. Wenn er den Eifer in den blauen Mädchenaugen sah, wußte er, daß das alles um seinetwillen geschah. Und in sein überlegenes Mitleid stahl sich ein wenig Stolz, daß die Gundl ihn so lieb hatte.

Johann Sebastian aber frohlockte. Brachte Gundl nach tagelangem, unermüdlichem Üben eine ihrer leichten Solfeggien halbwegs rein und richtig heraus, schien seiner stolzen musikalischen Hoffnung endlich Erfüllung zu wachsen. In hochtrabenden Worten verbreitete er sich schon über Kundrys Zukunft.

Eines Abends im Oktober erwischte Karl Maria die kleine Sängerin im dunklen Korridor. Er hielt sie fest und lachte: »Du dumme Gundl, du singst ja nur um meinetwillen!«

»Ach, was du alles weißt!«

So lief sie ihm davon und freute sich doch, daß er ihre geheime Absicht erriet. Vielleicht hatte er sie doch lieb.

In ihrer Frauenseele, die sich jetzt reckte und streckte wie ihr junger, starker Körper, war noch eines wach, von dem Karl Maria keine Ahnung hatte. Sie wollte ihm durch ihren Willen und Fleiß den Glauben an sich selbst wieder schaffen, ihm zeigen, wie man mit jungen starken Fäusten Kunst und Leben packen und meistern konnte. Es war jetzt Zeit, daß er ein großer Geiger wurde.

So unheimlich ernste Gedanken summten in Kundrys Blondkopf. Das träge, liebe Ding aus dem »Blauen Herrgott« wetteiferte mit der klugen Miriam Italiener. Es war ein schwerer und erbitterter Kampf, der ihr alle kindhafte Behaglichkeit nahm und sie mitten in das harte, gierige Leben drängte. Doch sie tat alles gerne in ihrer jungen Liebe, die nach Opfern geizte.

Nur Frau »Affi« seufzte schmerzlich hinter ihren Kochtöpfen, wenn Kundry wieder einmal vergessen hatte, die Enten zu füttern, oder in der Plättkammer, allwo sie wenig melodischen Stimmübungen oblag, die feingefältelte Brust eines Johann Sebastianschen Paradehemdes schnöde verbrannte. Nun hatte der Musikteufel ihrem bravsten Hauskind ganz und gar den Kopf verdreht. Es war ein Elend.

Auch geizig und profitsüchtig war Gundl geworden und sparte jetzt an ihrem knappen Taschengeld, wo sie nur konnte. Wie eine Mutter, die ihrem Kind ein Vergnügen schaffen will. Im Winter war sie endlich so weit.

Karl Maria saß allein vor dem Klavier. Die Petroleumlampe gab ein schwaches Licht, das bloß den gesenkten Knabenkopf scharf und schön aus dem Dunkel schnitt. Heiß und erregt flüsterte die Kundry: »Ich hab' etwas für dich. Morgen abend gehen wir zusammen.«

»Wohin denn?«

»Ins Hoftheater, zu ›Wallenstein‹.«

Als er gelangweilt dreinschaute, lachte sie vergnügt und sagte schnell: »Ist ja gar nicht wahr! In ein Dienstag-Konzert. Aber das wissen nur wir beide. Die andern sollen glauben, es ist der ›Wallenstein‹. Vater erlaubt uns ja noch keine Konzerte, damit wir nicht weltliche Mätzchen dort lernen.«

Sie machte kugelrunde Augen und streckte höchst unehrerbietig die Unterlippe vor. Es war ein pädagogisches Grundprinzip Johann Sebastians, daß seine Kinder nur Messen und Orgelaufführungen hören durften.

»Ja, hast du denn Karten, Kundry?«

»Freilich habe ich die!«

Und stolz zog sie ihren Schatz aus dem abgeschabten Geldtäschchen hervor.

Als sie fort war, zerriß Karl Maria einen begonnenen Brief an die Miriam und warf die Fetzen in den Ofen.

So zogen sie am nächsten Abend los, in Karl Marias erstes Konzert. Denn nicht nur Johann Sebastian haßte alles Sichinszenesetzen und fürchtete, den unreifen Geschmack seines Schülers zu verwirren, auch die Mutter hielt Karl Maria in ängstlicher Scheu allem, was ihn an ein eigenes öffentliches Auftreten mahnen konnte, sorgsam fern.

Unbeholfen saßen die Kinder ganz hinten auf ihren billigen Sitzen, und Kundry war sehr betrübt, daß ihre knappe Barschaft nicht zu besseren Plätzen gereicht hatte. Karl Maria atmete schwer. Die vornehme Welt rauschte in den Saal. Er sah manches bekannte Gesicht aus seiner Geigerzeit und kroch ganz in sich zusammen, um von niemand erkannt zu werden.

»Gib recht acht, damit du etwas lernst,« flüsterte die stets praktische Kundry.

Doch er hörte sie nicht.

Zwei Männer traten jetzt auf das Podium, zuerst ein dicker, glattrasierter Mann mit einem Violoncello, dann hoch und beweglich ein anderer mit einer Geige.

Das war Hans Geßner. Ein dritter saß schon vor dem Pianoforte.

»Das Brahmstrio in H-Dur,« flüsterte Gundl und schob Karl Maria das Programm hin.

Aber er schüttelte nur unwillig den Kopf.

Voll brauste das Klavier. Dann griff das Cello die Melodie auf. Wie das Horn Oliphant klang's, fern in Ronceval, im Sterben.

Und jetzt hob Geßner den Bogen.

Achtlos rannen die Tränen über Karl Marias Wangen, als süß und voll der Ruf der Geige kam.

»Ein Bettler bin ich,« flüsterte er und saß klein und kummervoll, maß seine Zurückgebliebenheit an dieser sicheren Vollendung.

Und dann ein schüchternes Glück, daß er jede Feinheit begriff. So klang ihm dieser Brahmsabend wie eine heilige Messe.

Arm und gering schien ihm sein bisheriges Tun. Zum erstenmal verfluchte er seine Jugend, die mit bunten Bällen tändelte und Zeit und Ziel verspielte.

So war dieser Abend süß und bitter zugleich. Meilenweit von dem stillen Werben der Kundry eilte Karl Maria in unbekanntes Land, an dessen Grenzen er einst schon gestanden hatte. Zuerst wollte er augenblicks zu Hans Geßner und ihn um Verzeihung bitten.

Aber er war feig und fürchtete das fremde Mitleid. Da ließ er es sein.

Als sie durch die sternklare Frostnacht heimgingen, griff er nach Gundls Arm: »Danke!«

Sie lächelte ihn fröhlich an.

Bitterkeit und Seligkeit trug er mit sich heim. Der Mutter erzählte er vom Wallenstein und wartete auf ihren Schlaf.

Dann schlüpfte er lautlos wieder in seine Kleider und huschte durch die sternhellen Korridore nach dem ehemaligen Refektorium der frommen Mönche, das jetzt als Musiksaal diente. In Wandschränken schliefen da alle Geigen, Klarinetten und Posaunen, alle die Lärminstrumente, mit denen Johann Sebastian und die Seinen Gott zu dienen meinten. An jedem Fach gab ein zierliches Täfelchen Instrument und Namen des Besitzers an.

Karl Maria trat, eine flackernde Kerze in der Hand, vor das Fach, das die Bezeichnung »Erste Violine, Karl Maria Tredenius« trug. Es war eine ganz gewöhnliche Schulgeige, die er da herausholte, aber in dieser Winternacht schien sie ihm doch ein köstlicher Schatz. Dann kramte er in anderen Schränken, unter staubigen Notenstößen, leise und vorsichtig, um den Schlaf des »Blauen Herrgott« nicht zu stören. Kleine Staubwolken stiegen auf, wenn ein Bündel wieder in den Kasten zurückfiel. Die Kerze warf ihren Flackerschein wie ein Schattenspieler an die weißgetünchte Wand. Nur die Holzgalerie, die rings um den Saal lief und zur Kapelle führte, lag in schwarzem Dunkel.

Dann hockte Karl Maria vor dem Klavier und hatte die Partitur von Brahms' H-Dur Trio vor sich aufgeschlagen. Mit brennenden Augen saß er so in dem kalten Saal und las; wenn ihn ein Notengespinst besonders packte, klimperte er ganz leise über die Tasten hin. Es wurde ein abgrundtiefes Tauchen in die Schönheit dieses Wunderwerkes, daß die Stunden wie Minuten hinglitten. Die Kerze flackerte zischend auf und erlosch. Er holte eine andere und brannte sie an.

Jetzt hatte er die Violinstimme vor sich. Nun galt es zu prüfen, was er konnte. Spielen, was Hans Geßner heute abend gespielt! Einen Augenblick stand Karl Maria still mit gefalteten Händen, in seiner Jugend heiliger Einsamkeit.

Zitternd hob er die Geige und strich sachte mit dem Bogen über die Saiten. Erschrocken hörte er den anschwellenden Ton, ein Schweben und Schwirren, so gut es die armselige Geige vermochte. Ängstlich dämpfte er sein Spiel. Aber die im »Blauen Herrgott« lagen satt in ihren Betten und hatten stets einen gottgesegneten Schlaf. Wie ein Zauberer, der Nachtspuk treibt, glitt der Arm mit dem Bogen an der Wand hin, im Schattenspiel wippte der Knabenleib.

Wieder kam die Entmutigung, das Ohr strafte Lügen, was die Hand tat. Hans Geßner hatte das anders gespielt. Aber Karl Maria ließ nicht nach. Wie ein Mönch mit seinem Gott rang er mit seiner Geige. Mit hohlen Wangen sah er den Morgen dämmern, aschgrau und müde, wie er selbst. Er schloß Geige und Noten weg und schrieb mit hastigen Buchstaben auf einen Zettel: »Liebe Miriam! Ich war gestern zum erstenmal in einem Konzert. Es war Hans Geßner. Ob ich es je zu etwas bringen werde? Aber das schwöre ich dir heute: Ich will ein Geiger bleiben.«

 


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