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An einem Märzabend hatte sich Karl Maria wieder einmal müde gegeigt. Lauter leichte, lustige Sachen, die kein Nachsinnen brauchten, sondern nur hurtig und schnell, wie lächelnde Mädchen, dahinhüpften. Er hatte jetzt eine Menge Walzer und Potpourris sich zurechtgelegt, weil seine Gönner es so liebten, ohne Rücksicht, daß er selbst nur mit halbem Herzen dabei war. Doch es reizte ihn, gleichsam nur durch Fingerfertigkeit den Leuten Behagen zu verschaffen, während er selbst auf einsamen Wegen wandelte, ganz angefüllt mit schwerer und ernster Musik.

Ein solcher Abend war nun allgemach zur Nacht geworden. Die schöne, lustige Hausfrau blinzelte schon schläfrig, der Hausherr selbst schlummerte in einer Diwanecke, hinter einer Riesenpalme verborgen. Einige Herren versorgten sich noch lässig mit Rauchwerk, dann gähnten auch sie. Karl Maria saß zwischen zwei ganz jungen Mädchen, die ihn bewundernd anblickten und mit ihm über Beethoven sprechen wollten. Er wußte aber nichts Rechtes von Beethoven. Darum war er froh, als zwei elegante Herren ihn in die Mitte nahmen und mit sich fortbrachten. Schlaftrunken taumelte er zwischen ihnen die Straße entlang.

Er mußte noch in ein Kaffeehaus, wo ihn sein Vater erwartete. Als seine Begleiter davon hörten, gingen sie mit ihm zu Franz Tredenius, der ihnen sofort gönnerhaft auf die Schulter schlug und voll Stolz rief: »Ist das ein zweiter Mozart oder nicht?«

Da die beiden Eleganten sehr viel getrunken hatten, schüttelten sie dem begeisterten Vater unter Glückwünschen die Hand, was sie am hellen Tage und bei nüchternem Kopfe gewiß nicht getan hätten. Vater Tredenius warf sich gehörig in die Brust und versicherte die beiden »Barone« seiner unwandelbaren Ergebenheit. Karl Maria schlief in einer Fensterecke. Das Terzett aber trank Schnäpse in unendlicher Zahl. Dabei lachten sie unmäßig, umarmten einander fast und erzählten sich Weibergeschichten, die niemals zu Ende kamen, weil sie eben gar so komisch waren. Endlich hatte der ältere »Baron« einen turmhohen Einfall, was nach Mitternacht stets ein gefährlich Ding ist.

Franz Tredenius schrie zuerst: »Herr, was denken Sie von mir?«

Aber es klang nicht besonders einschüchternd, weil seine Stimme recht unsicher war und sich meckernd überschlug.

Der Mann mit dem Einfall ließ nicht locker und warf schließlich seine dicke Brieftasche auf den Marmortisch.

Da war Franz Tredenius mit einem Male nüchtern. Er nickte kurz und weckte Karl Maria: »Hast Glück, Bub, darfst heute noch einmal spielen.«

Das Kind rieb die schweren Lider und stammelte: »Ich möchte schlafen gehen.«

»Schlapper Kerl!« grollte der Vater und traf den jungen, dummen Ehrgeiz ins Fleisch.

»Wo soll es denn sein?« fragte Karl Maria und griff schon nach seinem Geigenkasten.

»In Arkadien!« lachte der ältere »Baron« vergnügt.

Der andere ward etwas verlegen und sagte barsch: »Bei schönen Frauen, kleiner Kerl!«

So ging er wieder in die Märznacht hinaus, die duftend und würzig war wie frisch umbrochener Ackerboden. Unsicher flackerten die Sterne, unter denen Karl Maria mit schleppenden Schritten dahintappte, müde und willenlos, wie eines der Kinder, die dunkler Drang einst ins heilige Land trieb, süßen Wahnsinns voll. Der Nachtwind fuhr barsch und emsig durch die Gassen und fegte allen Unrat vor sich her, auch den Himmel kehrte er rein, damit die Sonne in einigen Stunden alles blitzblank fände.

Karl Maria gähnte. Dann ging ein frühreifes Lächeln um seinen Mund. Zu schönen Frauen wollten sie ihn führen, und er trug die Zaubergeige. Sein Herz begann mit Siebenmeilenstiefeln vorauszulaufen, so schwerfällig und matt auch der Körper hinterdreinschwankte. Bald lag ein stilles Haus vor ihm, dunkel und ernst, nur im dritten Stock leuchtete eine lange Reihe roter Fenster.

Eine breite, teppichbelegte Treppe ging es hinauf, vorbei an großen Türen mit nüchternen Schildern. Kontore und Kanzleien, die einsam schliefen. Das Haus schien unbewohnt. Im dritten Stock wieder eine große Tür mit kühl geschäftsmäßigem Porzellanschild: »Salon Coralie, Modes, Chapeaux«.

Ein kleines Vorzimmerchen mit Bambusmöbeln, bunte Modejournale unordentlich auf einem Tischchen, Festungen von Hutschachteln, bis zur Decke getürmt. Durch eine Glastür schob man Karl Maria in einen großen, hellgetäfelten, schlecht beleuchteten Raum, dessen Einrichtung fast nur aus Spiegeln und kleinen roten Samtstühlchen bestand. In Reih und Glied standen unendlich viele Haubenstöcke, angetan mit kostbaren, kühn geschwungenen Riesenhüten, deren Reize je ein Bogen weißen Seidenpapiers zu verhüllen suchte. Papptäfelchen mit geheimnisvollen Zeichen baumelten lustig herab.

Die kleinen Stühlchen aber waren mit Pelzen und einzelnen schüchternen Uniformmänteln bedeckt, Galoschen, winzige Pelzstiefelchen und Zylinderhüte standen kreuz und quer auf dem hellen Spannteppich; an Wandhaken und Fensterklinken hingen Stöcke und Regenschirme mit ein paar Säbeln in friedlichem Verein. An einer Tür mit dem Schildchen »Atelier« vorüber ging es jetzt durch eine andere, die den Vermerk: »Privatwohnung« trug. Und plötzlich stand Karl Maria geblendet und ganz betäubt in einem goldig schimmernden Salon, mitten in lautem, lachendem Stimmengewirr. In die weiß getäfelten Wände waren allerlei kecke mythologische Bildchen eingelassen, zartes goldenes Rankenwerk flocht die Zwischenräume ineinander. Die Decke aber war eine einzige Spiegelfläche und warf das bunte Treiben im Salon verkürzt und grotesk verzerrt zurück.

Und da sah Karl Maria Tante Coralie, die wirkliche Trixtante Coralie, in tiefausgeschnittenem pfaublauen Ballkleid und mit hochfrisiertem Haar vor dem Klavier sitzen. Heiter und unverdrossen trommelte sie lustige Märsche, und ein sehr junger Herr mit einem Monokel stand hinter ihr und pfiff kunstvoll die Melodien mit.

Fräulein Emilie, in gleicher Pracht wie ihre Schwester, hatte einen Kneifer auf der kurzen Nase und notierte eifrig in ein großes Buch, was ein aristokratisch aussehender älterer Herr ihr ansagte: »... Drei Couverts für morgen nach der Oper, Timbales à la Nantua, Truite saumon à la régence, ... Sie wissen, ... Geflügel, ... na, also alles, was dazu gehört, für halb zwölf den Bakkarat-Tisch.«

»Austern, Herr Legationsrat?«

»Keine Spur! Mein Magen – – Aber daß der St. Emilon die richtige Temperatur hat, allerschönstes Fräulein Emilie – –.«

Er machte eine Tanzmeisterverbeugung.

Ob das der Koch ist, dachte Karl Maria in seiner Verschlafenheit und vergaß ganz, sich zu wundern, daß er urplötzlich mit den Tanten der Trix beisammen war.

Lachend und lärmend traten noch drei Mädchen ins Zimmer, alle in Balltoilette und weiß und rosa geschminkt wie Puppen.

»Sssss – st,« blies Fräulein Emilie und nahm den Kneifer ab, »heute ist der Rothenwolff da. Er hat Pech beim Trente-et-Quarante. Macht keinen solchen Lärm, sonst wird er wild.«

»Ach was, heut' hat er ja einen Prinzen mit, soll der zahlen!« schnappte eines der Mädchen zurück.

»Haltung, mein Kind,« tadelte Dame Emilie, »du bist hier nicht im Atelier.«

Karl Maria machte der Zurechtgewiesenen eine sehr höfliche Verbeugung, fast so schön wie vorhin der Herr Legationsrat.

Es war ein unendlich vornehmes Haus.

Der Salon war viel großartiger als bei der alten Gräfin mit der Lorgnette, und sicher gab es dahinter noch eine Reihe von Märchenzimmern. Scheu und vorsichtig tat Karl Maria einen Blick durch eine kleine, dickwattierte, in der weißen Täfelung halb versteckte Tür, die gerade offen stand. Er sah ein großes Zimmer mit dunklen Teppichen und tiefgebräunten Jagdbildern. Und da saßen mit todernstem Gesicht viele sehr vornehme alte und junge Herren lautlos und gemessen an kleinen grünen Tischen und spielten Karten. Es war so ruhig wie in einer Kirche. Ängstlich, weil die Damen gar so viel Lärm machten, drückte Karl Maria die kleine Tür wieder ins Schloß.

Gerade warf Tante Coralie knallend das Klavier zu, dehnte die Arme und seufzte ein wenig. Der junge Herr hinter ihr küßte sie schnell in den Nacken. Karl Maria ward dunkelrot und schämte sich für die arme Trix, deren Tante sich von einem fremden Herrn küssen ließ. Denn Fräulein Coralie war doch bestimmt nicht verheiratet, oder hatte sie sich eben jetzt verlobt?

Er stand noch ganz verdutzt, als ein wunderhübsches junges Mädchen die kleinen weißen Hände faltete, deren Fingerspitzen unter den rosig polierten Nägeln von viel tausend Nadelstichen ganz schwarz waren, und wie ein Kind bettelte: »Schöner kleiner Bub', spiel uns was Lustiges!« Alle klatschten in die Hände, und Karl Maria hob schon den Bogen. Einen dummen Walzer warf er ihnen hin, dann noch einen, und so fort. Er hatte die Augen halb geschlossen, daß er gar nicht sah, was um ihn vorging. Ihm war's, als geigte er ganz allein für die kleine Trix. In sein Spiel klang das Stampfen schneller Tanzschritte und das leise Rauschen von Frauenkleidern. Da ließ Karl Maria die verhaßten Walzer und riß kurz und scharf seine geliebte Wassersonate an. Aber sie tanzten unbekümmert weiter und merkten gar nicht, daß es nun eine schwermütige Weise war, die gar nicht zu ihrer lauten Fröhlichkeit paßte. Karl Maria spielte sich immer mehr in sein Märchenreich und hörte nicht das Lachen der tanzenden Paare.

Mit einem Male polterte eine zornige Stimme: »Wer hat das Kind hierher gebracht?«

Karl Maria hielt noch immer die Augen geschlossen, halb aus Müdigkeit, halb aus Furcht vor dem ergrimmten Baß.

Wieder fragte die böse Stimme: »Wer hat diese Gemeinheit begangen?« Jetzt antworteten andere Männer, Frauen kicherten drein, doch die erste zornige Stimme hielt aus wie ein Orgelpunkt.

» Sie sind der Vater? Aha!«

Ein verlegenes Husten, Papier raschelte in eiligen Fingern. Karl Maria rührte sich nicht. Er wußte, jetzt gab man seinem Vater Geld. Und die Trix würde davon hören! Die Geige ließ er sinken und begann zu weinen.

»Da sehen Sie, Prinz, Bakkarat um ein Kind. Pfui Teufel!«

»Du gehst schnell heim, Bub,« sagte dieselbe Stimme, aber jetzt ganz sanft und freundlich. Aus tränennassen Augen blickte Karl Maria auf und erkannte den Grafen Rothenwolff. Ein kleiner junger Mann mit großen mandelförmigen Augen und tiefbrauner Haut stand daneben und lächelte Karl Maria hilflos und mitleidig zu.

»Ist die Trix auch hier?« flüsterte er.

»Nein,« donnerte der Graf, und eine dicke Ader lagerte auf seiner Stirn.

Gott sei Dank, dachte Karl Maria. So konnte sie von seiner Schande nichts erfahren.

»Sie soll nicht wissen, daß ich hier war.«

Graf Achaz strich ihm übers Haar, zog eine seltsame Grimasse und nickte dann.

Der Salon war jetzt ganz leer. Nur Vater Tredenius stand mit unbehaglichem Lakaiengesicht am Fenster und trank aus einer Flasche.

»Machen Sie, daß Sie weiterkommen!« fuhr der Graf den sektseligen Postoffizial an und öffnete die Tür.

»Danke,« stammelte Karl Maria und lief in heller Scham voraus.

Fahl kam das erste Morgenlicht durch die Gassen.

»Weißt du, wo du warst?« fragte der Vater. Seine Stimme war rauh und verdrossen.

»Bei den Tanten der Trix,« flüsterte Karl Maria, und seine Augen gingen kindergläubig dem lichtgrauen Streif im Osten entgegen.

»Nichts weiß er und träumt irgendeinen Unsinn.« Franz Tredenius lächelte zufrieden. Sein Gewissen warf Ballast aus und stieg alsogleich wieder frisch und frank in die Welt des Leichtsinns empor. Das stattlich runde Sümmchen in seiner Brieftasche hatte jeden üblen Beigeschmack verloren. Nach einer Weile kehrte jedoch der Katzenjammer zurück.

»Sag' der Mutter nicht, daß du bei diesen Tanten warst!«

Verständnislos blickte das Kind den seltsamen Vater an, der ihm stets verbot, von seinen Wanderfahrten zu erzählen. Denn die kleine Lüge mit dem angeblichen Schulausflug im September hatte er längst der Mutter gebeichtet und Verzeihung dafür erbettelt. Und er durfte jetzt ruhig von der hübschen Trix plaudern, viel lieber als von seinen abendlichen Geigereien. Mutter haßte das nächtliche Herumtreiben, und jetzt kam er gar erst um das Morgengrauen heim. Karl Maria begann zu stieren. Gebückt trabte er dahin, blaß und farblos wie der dämmernde Morgen. Das Bild der Trix versank, trübe Alltags- und Schulgedanken schlichen heran, Drohblicke der Professoren und schadenfrohes Kichern der Mitschüler. Der Zwang des engen Lebens schloß allen Tand wieder weg, wie eine Mutter dem unartigen Kind die Spielsachen fortnimmt. Ein grämliches Schimmern huschte über die schlafende Welt. In Franz Tredenius war wilder Grimm über den Hochmut des Grafen, doch ein ödes Gefühl der Scham kroch nach und ließ nicht von ihm. Er blickte sich um, als liefe ihm die Schande nach. Weit zurück ging ein großer Mann im Aschgrau der Dämmerung. Wie ein Schatten schlich er hinter Vater und Sohn. Franz Tredenius stutzte und schlug einen Haken, der Verfolger tat das gleiche. Aber Karl Maria merkte nichts davon. Das Haustor klappte hinter den beiden ins Schloß.

Der Mann kam heran. Nachdenklich blieb er stehen. Dann nickte er schwermütig in den Morgen hinein und verschwand in der noch dunklen Judengasse.

 


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