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Der Oktober war für die Kinder Italiener stets ein froher Monat, weil man da Laubhütten feierte, überall roch es gut nach süßen gefüllten Fladen und frischem Obst, man durfte am Wein nippen und erhielt Datteln, Apfel und Nüsse. Im Gärtlein stand Hütte an Hütte, bunt geputzt, das dünne Laub raschelte, wenn man in die Laube trat, fromme Gebete erfüllten das sonst so stille Fleckchen Erde mit lautem Singsang.

Untertags aber hockten die Kinder allein in den raschelnden Laubhütten, bewarfen sich mit welkem Laub, aßen im Übermaß zur Feier des Festes und spielten die besten Leckerbissen im Mariandlspiel aus. Das war so aufregend wie ein richtiges Hasardspiel. Von den acht schmalen Feldern eines achteckigen Kreisels, der auf einem dünnen, spitzen Beinfüßchen stand, waren sechs genau wie Dominosteine ausgestattet, mit mehr oder weniger schwarzen Punkten; die siebente Fläche war ganz leer, und ihr gegenüber trug die achte das Bildchen einer bunten kleinen Marketenderin, der »Mariandl«.

Voll Spieleifer drehten die Kinder den Kreisel, der schnurrend tanzte und stets nur auf eine der acht Seitenflächen fallen konnte, wenn er zur Ruhe kam. Die oben liegende Fläche galt und zeigte Gewinn oder Verlust an. Man spielte um Feigen, Datteln und Nüsse, die Knaben auch um Federn oder Briefmarken.

Kam die »Mariandl« obenauf zu liegen, so bedeutete das den höchsten Triumph, und der glückliche Gewinner heimste von allen Seiten ein. Miriam trieb dies Spiel mit Leidenschaft. Selbst Gideon und Jacques fanden daran Gefallen und ließen den Kreisel wirbeln, wie dies Miriam im Ballett tat, nur spielten die Männer um Geld. Miriam saß mit der Sparbüchse, einem grünen Affen mit gewaltigem Bauch, daneben und bettelte um milde Gaben.

Das kleine Mädel hatte sich überhaupt langsam in den Mittelpunkt geschoben. Voll Stolz blickten Eltern und Geschwister auf den Karton, der unter Glas und Rahmen drei Zeitungsausschnitte zeigte, die Miriams Tanz im »Blaubart« lobten. Darüber hing ein welkes, verstaubtes Kränzlein, das leise raschelte, wenn der Wind durchs Zimmer strich.

Karton und Kranz hingen über einem alten, unendlich tiefen und breiten Sofa, das die Kinder den »Elefanten« nannten. Das Ungetüm war vielleicht hundert Jahre alt, hatte hohe dünne Füße von Kirschholz in blanken Messingschuhen und war mit einem weißen, braungestreiften Baumwollstoff bespannt. Miriam schlief auf diesem Sofa. Des Nachts schob man einfach drei Stühle mit dem Rücken vor den »Elefanten«, damit ein schlimmer Traum Miriam nicht zur Erde bringen konnte. Zu dem Untier gehörte auch ein kreisrundes Fußbänkchen in ganz gleicher Ausstattung, das aber merkwürdigerweise nicht »der junge Elefant«, sondern die »Schildkröte« hieß und abwechselnd als Puppenbett und als Reitpferd dienen mußte. Prasselte an den Tagen des Laubhüttenfestes der Regen vom Himmel und ließ die Hütten einsam und leer, krochen die Kinder auf den geduldigen Rücken des »Elefanten«; sie trugen Palmen und Weidenzweige in der Hand, die ja auch zu diesem Feste gehörten. Um einen Fuß des Sofas war eine Leine geschlungen, die eines der Kinder, das auf der »Schildkröte« ritt, in die Hand nahm. So konnte der »Elefant«, nach dem Kinderglauben, nicht mit den Kleinen ins Meer rennen.

Die Leine hielt meist der kleine Karl Maria, den Miriam den Negersklaven nannte und zum Dank für seine Dienste mit Datteln und Feigen fütterte. Manchmal bekam auch der »Elefant« süße Kost, und manchmal wurde er geschlagen, wenn er dumm war.

Der gutmütige Joseph spielte wohl auch den Kindern auf, und sie tanzten zu seinen Melodien, die Buben wie kleine Bären, die Mädchen wie Elflein, die Palmzweige in der Hand. Auch Karl Maria brachte seine Zupfgeige mit. Er hatte den Sommer über fleißig weiter gelernt von den Bienen, den tanzenden Mücken und von dem guten Amselpaar. Auch in der Schule, wo er seit dem September das Buchstabieren trieb und mit Schiefertafel und Griffel hantierte, träumte er fort und fort von seiner Geige. Aber zum Glück half die gute Mutter nach, und Karl Maria hatte einen hellen Kopf, der neben der Schulplage Zeit und Freiheit für die süße Heimlichkeit behielt. An diesem Laubhüttenfest aber spielte er zum erstenmal öffentlich und mit großer Würde vor den Kindern Italiener. Selbst Joseph hörte ihm bewundernd zu, wie er ein winziges Stückchen Melodie beweglich hin und her bilanzierte, noch plump und ungelenk, aber tatenfroh und sehnsüchtig. Die häßliche Zigarrenkiste mit Onkel Williguths alten Saiten tönte wirklich, weil in Karl Marias Fingerspitzen Musik saß. Manchmal, wenn so der Bogen über die Saiten strich, horchte Joseph hoch auf, weil hart und unvermittelt aus dem kindischen Klimpern plötzlich ein Stückchen echter Melodie anklang, kräftig und süß, wie ein Mittag im Hochsommer. Die Augenbrauen zusammengekrampft, daß dicke Längsfalten auf der Stirn lagen, den Mund fest geschlossen, den Blick ganz nach innen gerichtet, spielte der Kleine auf seinem lächerlichen Instrument. Verzweifelt hielt er die paar Takte fest und suchte sie immer reicher zu verschlingen. Gelang dies nicht, seufzte er und legte die Geige ans Ohr, um zu lauschen, wie ein Arzt, der ein krankes Herz behorcht.

»Wie ein Affe!« lachte die Miriam, die stolz und einsam auf dem »Elefanten« thronte. Karl Maria sah die hübsche Freundin verlegen und vorwurfsvoll an; ihm hing sein Leben an diesem Spiel, und die Miriam lachte darüber. Trotzig packte er seine Schätze ein und wandte sich zur Tür. Da lief ihm die Miriam nach, faßte ihn am Arm und rief: »Bleib' da, Dummer!! Ich hab' dich ja doch lieb, wenn ich auch schon eine richtige Ballerine bin und du erst ein richtiger ABC-Schütz!«

»Ich brauche dich überhaupt nicht,« gab der Gekränkte zurück.

Doch sie ließ ihn nicht. Wie eine kleine Katze schmiegte sie sich an ihn, schnurrte vertraulich und spann ihn wieder in den alten Bann.

Noch immer etwas gekränkt, bestieg er mit ihr zum Zeichen der Versöhnung den »Elefanten«, Geige und Bogen im Arm. Miriam löste übermütig ihr Haar und ließ es wie einen goldenen Schleier um sein Gesicht wehen, daß er ins Märchen kam und unversehens einschlief. Sie aber lächelte und freute sich ihrer Macht. Wie aus weiter Ferne kam der Lärm aus dem Garten, wo jung und alt das Fest feierte. Miriam küßte den Schläfer, legte ihre Arme um ihn und hockte dann ganz still auf dem braun- und weißgestreiften Riesensofa, wie eine kleine Mutter. Schließlich schlummerte auch sie ein, bis Frau Charlotte ins Zimmer trat und die Kinder zum Abendessen in den Garten rief. Auch Karl Maria ging mit, obwohl er wußte, daß er für sein Ausbleiben und seinen Ungehorsam vom Vater Schelte und Schläge zu erwarten hatte.

Es war eine milde, fast warme Nacht, die sich aus dem August in den Oktober verirrt hatte. In den Lauben, deren Blattwerk schon welk und verstaubt niederhing, blitzten rote und blaue Lampions. Und bei diesem Märchenlicht saßen die Judenfamilien in dem engen Gärtchen, dicht aneinander gedrückt, und schmausten. Großvater Samuel nahm die Miriam auf den Schoß und fütterte sie mit den besten Bissen.

Nachbarn kamen herbei und plauderten, die Kinder liefen nach dem Essen im Halbdunkel hin und her und trieben allerlei Spiele. Lustige Schreie flogen auf und duckten sich schnell wieder, wenn ein zahnloser Alter sein Mahnwort dazwischen warf. Wie ein blaues, goldbesterntes Tuch lag ein Stück Nachthimmel über den hohen, düsteren Feuermauern.

Joseph strich die Geige, das junge Volk wirbelte im Tanz und stampfte in dieser Herbstnacht den letzten grünen Rasen zugrunde. Im welken Fliederbaum orgelte der Nachtwind. Die Linde warf ihre goldenen Blätter wie Dukaten unter das fröhliche Volk.

Großvater Samuel saß jetzt ganz allein. Nur Karl Maria blieb bei ihm, die Miriam lief und sprang mit den Kindern. Frau Charlotte erwog mit zwei Nachbarinnen eifrig die Solidität einer Partie, die man der einen für ihre Tochter angetragen hatte, und Gideon spielte in der Nachbarlaube Karten.

Da faßte Karl Maria sich ein Herz und holte seine Geige.

Gutmütig lächelte der alte Samuel und strich dem Buben übers Haar: »Na, spiel' mir auf!«

Er lehnte sich in den Schatten zurück, daß ein rotes Lampion seinen Schimmer über den langen weißen Bart warf, während das runzelige Antlitz ganz im Dunkel versank. Das blaue Lampion am Laubeneingang zischte auf und erlosch.

Der Wind säuselte durch die raschelnden Blätter und ließ Goldstreifen und Papierblumen nicken, dann hob langsam die Geige an, ganz leise und still.

Wie aus weiter Ferne kam die Greisenstimme: »Du kannst es aber, Büble.«

Der rot beleuchtete Bart ging im Sprechen auf und nieder.

»Er ist ein alter Zauberer,« dachte Karl Maria und geigte emsig weiter.

Lachen und Rufen machte den nächtlichen Garten laut und froh.

Großvater Samuel seufzte zufrieden: »Schön ist das.«

Der Junge nickte geschmeichelt und zupfte an Onkel Williguths Saiten. Langsam sank der weiße Bart in den Schatten und bewegte sich nicht mehr.

»Schläfst du, Großvater?«

Keine Antwort.

Jetzt erlosch auch das rote Lampion mit leisem Zischen. Nur die Sterne guckten durch die Lücken des Blätterwerks.

Karl Maria aber packte die Angst. Er faßte den alten Mann am Ärmel. Wieder blieb es still.

Da schlich er mit der Geige dicht zu Samuels Ohr und geigte los. Als sich auch jetzt nichts regte, fuhr das Kind in jähem Schrecken mit der Hand ins Dunkel, bis es ein kühles Gesicht traf.

»Frierst du, Großvater?«

Plötzlich stand ein Unbekanntes vor Karl Maria, still und groß. »Großvater Samuel!«

Er ließ Bogen und Geige sinken und faltete die Hände. Dann zog er sein Jäckchen aus und legte es dem alten Samuel über die regungslosen, froststarren Hände.

»Er friert ja,« murmelte Karl Maria.

Still saß er dann bei dem Toten, während draußen Lärm und Lachen klang, das Stampfen der tanzenden Füße, übertönt von Josephs Geige. Als endlich Gideon, hochrot vor Freude über seinen Kartengewinn, in die dunkle Laube trat, sagte eine feierliche Kinderstimme: »Großvater Samuel ist erfroren.«

 


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