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Vier glückliche Jahre wanderte er so hin, geleitet von dem guten Joseph, der allmählich den Schmerz um sein verpfuschtes Geschick über den schnellen Fortschritten seines kleinen Schülers vergaß. Im Technischen namentlich lief Karl Maria mit Sturmschnelle vorwärts; die schwierigsten Passagen hauchte er nur hin, er wagte es kühn, Terzen zu flageolettieren, er spielte zweistimmige Sätze pizzicato und zugleich eine Melodie mit dem Bogen. Alles Schöne dieser Welt lief durch seine Ohren ein und aus. Dabei wuchs sein Körperlein und streckte sich, er wurde ein ranker Junge mit großen dunklen Augen und einem blassen Gesicht, das Ebenbild seiner Mutter. Nur der Mund ward breit und voll, darin glich er dem Vater. Der gute Joseph, der in diesen vier Jahren noch fetter und bescheidener geworden war, hatte seine helle Freude an der Schönheit und Kunstfertigkeit Karl Marias. Noch immer blieb die Geige bei der Familie Italiener, noch immer hielt er seine Musik vor Vater und Schwester geheim. Manchmal kam die Mutter zur Geigenstunde und hörte ihrem Liebling zu, in einer stolzen Freude, in der viel heimliche Angst war. Dann warf der Bub das dunkelbraune Haar aus der Stirn, drückte die Geige unters Kinn und spielte besser denn je. Gleichmäßigkeit in der Arbeit war seine Sache eben nicht; in der Schule und im Geigen zeigte er sich eigenwillig und selbstherrlich. Von voller Kraft sank er oft in hilflose Schwäche. Dann wollte ihm nichts gelingen, er saß tagelang störrisch in verlorenen Träumen, weinte bitterlich und nannte sich einen armen Schlucker, bis er sich plötzlich aufraffte und wieder seinen Weg lief, mit blitzenden Augen, in siegesfroher Gewißheit.

Heute hatte Karl Maria einen Glückstag, kinderleicht fiel ihm sein Geigenpensum, das im Grunde eine recht harte Nuß für seine Jahre war. Joseph saß am Klavier und blickte durchs offene Fenster in den feinblauen Septemberhimmel, über den eine frische Brise weiße Lämmerwolken trieb. Die ersten welken Blätter warf der Wind ins Zimmer und wehte sie dem dicken Joseph ins Haar, worin sie hängen blieben wie rote und gelbe Schmetterlinge. Karl Maria sah das bunte Laub über das Klavier tanzen und lachte leise. Kleine luftige Geister flogen da in roten und gelben Hemdchen durchs Zimmer. Ihm dämmerte die erste Kindheit wieder, als die Linde im Judengärtlein ihm ihre Herzen in den Schoß warf und der alte Fliederbaum das lustige Volk in den violetten Kleidchen beherbergte. Ein Wiegen und Wogen glitt die Geigensaiten entlang, wie Binsen am See sich neigen, wenn der Wind landwärts stiegt und den Plumpen braunen Köpfen Nasenstüber gibt. Karl Maria träumte sich in die alten Märchen, die Großvater Samuel auf seinem Sonnenbänkchen ihm und der Miriam erzählt. Das wilde kleine Lappenmädchen kutschierte im Renntierschlitten; auf dem Machandelbaum sang der verwunschene Vogel so überirdisch süß und traurig, daß die schmausenden Eltern stutzten und dem Schwesterchen das Herz brechen wollte. Und dann wogte das Meer, und die kleine Seejungfrau weinte, weil die alte, alte Großmutter, die zwölf Austern in der Schwanzstoffe geklemmt tragen durfte, ihr doch keine unsterbliche Seele geben konnte. Der Meerkönig aber zürnte und wühlte schäumenden Gischt auf und drohte der Kleinen, sie zur Muhme im Wasserfall zu schicken, wo sie all ihr Lebtag die dummen Lachse hüten müsse. Karl Maria sah die flachen Fischaugen und das nasse grüne Schilfhaar des Alten, seinen Fischschwanz, der die Wellen peitschte, und seine Froschhände, mit denen er Korallen und Wasserlilien brach. Dann ging es hinunter in den tiefen Grund.

Das Klavier lief der Geige nach, verhalten und bescheiden, als rauschte nur das Schilf in den Märchensommerabend. So kam der kleine Junge ganz von selbst aus seinem traumhaften Sinn mitten ins Wesen der einzigen Geigensonate, die Joseph Italiener vor Jahren voll zuversichtlicher und unbekümmerter Kraft in krause Noten geformt, ehe der Schlendrian und die voreilige Behaglichkeit nach dem ersten Erfolg sein Fünkchen Genie verdarb. Es blieb ganz still im Zimmer, als das Stück zu Ende war. Nur der Herbstwind summte die letzten Akkorde nach. Dann eilte der Bub zu seinem Lehrer, schmiegte sich an den plumpen Gesellen und sagte nur: »Das war schön!«

Der gute Joseph tat das Dümmste, was er tun konnte, weil er eben ein Schlemihl war, hielt kein Maß in seiner Bewunderung und rief: »Das habe ich nie gekonnt. Unberufen, Karl Maria, du bist ein Genie.«

Wie Gift drangen diese Worte ins Blut, daß Karl Maria sofort den Kopf zurückwarf und fragte: »Darf ich dein Stück nicht bald vor den Leuten spielen?«

Joseph merkte die heranschleichende Gefahr. »Nein, Karl Maria, noch lange nicht. Schau, ich habe zu früh mit den Konzerten begonnen, das tut nicht gut. Man wird eitel und lernt nichts mehr.«

Doch das Wunderkind lachte trotzig: »Ach was, vielleicht ist das bei mir ganz anders!«

»Bist ein schlimmer, hochmütiger Bub,« brummte der hilflose Lehrer und freute sich doch, daß sein von aller Welt vergessenes Werk hier so machtvolle Auferstehung fand.

Karl Maria blickte keck zu ihm empor. »Joseph, ich will ein großer Geiger werden.«

Von der Tür her fragte die Stimme der Miriam: »Kann er denn eigentlich schon etwas?«

Würdevoll, wie eine kleine Dame, trat sie heran, die klugen schwarzen Augen nachdenklich zum Bruder aufgeschlagen, die kleinen Fäuste herausfordernd in die Hüften gestemmt, wie dies Frau Charlotte Italiener immer tat, wenn ihr Gatte zu teuer ein- oder zu billig verkaufte.

Zwölf Jahre war nun die Miriam. Hoch aufgeschossen, ungraziös und dabei dürr wie eine Wildkatze; das hübsche Gesicht sommersprossig und in voller Wandlung vom Kind zur Jungfrau. Die alte, zierliche Miriam war tot und die neue noch lange nicht fertig. Das gab dem wilden Ding einen rassigen Reiz.

Als Joseph seinen Schüler lobte, nickte die Miriam sehr herablassend, hing aber doch ihren Blick in heimlicher Bewunderung an die junge Schönheit des Freundes. Plötzlich stampfte sie zornig mit den Füßen und zischte: »Du bist schön, und ich, ich werde alle Tage häßlicher! Warum nur?«

»Aber, Miriam!« tadelte Joseph.

Karl Maria streichelte ihre Hand. »Bist du aber dumm, Miriam.«

Da heulte sie los, verbarg ihr Gesicht in der Schürze und seufzte gar jämmerlich: »Alle sagen's im Theater. Und in der Quadrille muß ich jetzt ganz hinten tanzen, weil ich zu große Füße habe! Wenn ich bloß so fett sein könnte wie die Mutter!«

Der Joseph schmunzelte über dies erste kleine Frauenleid. »Na, Schwesterleben, ich geb' dir gern von meinem Speck ab.«

Doch sie fuhr ihm mit allen zehn Fingern ins Gesicht und kratzte, daß er ihr die Hände grob herabschlagen mußte. Gleich darauf kam der Katzenjammer, und sie bat ganz demütig um Verzeihung: »Ich kann nichts dafür. Ich bin so unglücklich!«

»Ich hab' dich lieb, Miriam,« sagte der schöne Karl Maria feierlich.

Sie ließ sich eine Weile trösten, dann aber machte sie sich mit einem Ruck los, kreuzte die mageren Arme und sagte verbissen: »Pass auf, ich werde noch ein ganz großes Tier, wie die Ermattinger, und wenn ich Tag und Nacht hungern müßte.«

Sie warf gnädige Blicke um sich, als hätte sie schon jetzt ihre Gunst zu verschenken, und reckte dann jäh nach alter Miriam-Art die Zunge heraus: »So, Joseph, jetzt kannst du mich ins Theater führen, es ist Zeit für mich. Adieu, Karl Maria!«

Er wollte ihr noch die Hand geben, doch sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Karl Maria versorgte nachdenklich seine Geige, legte die Noten zusammen und schloß das Klavier. Nein, die Miriam, das war eine. Regen und Sonnenschein dicht nebeneinander. Dummes Mädel! War sie denn wirklich so häßlich und er –?

Dunkelrot und scheu blickte er sich um und huschte vor den Spiegel. Mit geheimem Zittern schlug er die Augen auf. Das war also der Karl Maria Tredenius, Schüler des grauen Gymnasiums Klasse I. B, dem die kleinen Stadtschülerinnen bewundernd nachguckten, wenn er stolz und lässig an ihnen vorüberschritt.

»Arme Miriam,« flüsterte er, lächelte und machte seinem Ebenbild eine lange Nase. Dann sank er ins Grübeln zurück. Warum konnte er nicht immer so gut spielen wie heute? Oft ging es gar nicht. Sein kleines Gehirn arbeitete heftig. Jeden Takt, der ihm noch im Ohr klang, prägte er sich ein. Blumen schwammen im Wasser, – das hielt er krampfhaft fest. Und dann erlosch die Sonne, Regen tropfte und klopfte. Er summte die Noten.

Da steckte Jacques Italiener den geschniegelten Katzenkopf ins Zimmer: »Bist du da, Karl Maria?«

Jacques trug einen engen, tadellosen Leibrock und eine schöne blaßblaue Krawatte, das fahlblonde Haar war kunstvoll gescheitelt. Längst war er ja nicht mehr Auslagenarrangeur, sondern erster Verkäufer in seinem Modewarengeschäft, eine erstklassige Kraft, nach der schon die Konkurrenz auslugte. Aber Herr Jacques zögerte noch. Die neue Stelle war nur durch Einheirat zugänglich, und einstweilen hatte er mit der Liebe noch anderwärts genug zu schaffen.

Langsam und würdevoll schritt er auf den kleinen Geiger zu: »Kann man sich auf dich verlassen?«

»Ja,« sagte Karl Maria eifrig, der es Jacques nicht vergaß, daß er ihm zu seiner ersten Zigarrenkistengeige verholfen hatte.

»Du sollst Amors Bote sein,« erklärte der gebildete Jacques im Tonfall eines beliebten jugendlichen Heldenspielers. Er besuchte der Toiletten halber fleißig die großen Theater.

Karl Maria aber, der gerade in der Schule amo, amas, amat konjugierte, lächelte geschmeichelt.

»Diesen Brief,« fuhr Jacques fort, »gibst du deinem Fräulein Schwester.«

Der Bub lachte laut los.

»Was lachst du so blöd?« fauchte der erste Verkäufer von Vogelsang & Cie.

»Was brauchst du der Martha Briefe zu schreiben, wenn du sie schon hundertmal im Garten geküßt hast und ihr immer Pakete bringst?«

»Klatscht die Martha vielleicht?«

»Nein. Aber glaubst du, daß wir blind sind, die Miriam und ich? Etsch!«

»Dummer Bub!«, schrie Jacques wütend, lenkte aber gleich mit rotem Kopf ein: »Also, wirst du den Brief deiner Schwester zuverlässig in die Hand geben? Es braucht niemand davon zu wissen.«

»Ja,« antwortete Karl Maria und fühlte sich doch als großer Sünder vor seiner guten Mutter. Aber damit wagte er dem kecken Jacques nicht zu kommen. Und sein gelungenes Geigenstück machte ihn heute so froh, daß er aller Welt etwas Liebes tun wollte.

Jacques reichte ihm ein Geldstück, aber Karl Maria warf es ihm vor die Füße: »Was glaubst du denn?«

Der freigebige Jacques Italiener lächelte dumm, hob sein Geld sorgsam auf und nagte ärgerlich an den Schnurrbartenden.

 


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