Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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4. Tycha und Epipolä

Wir haben also auf einem verhältnismäßig kleinen Raum die wichtigsten Bauwerke des alten Syrakus beisammen gefunden. Geht man nun nordwärts längs des Aquädukts hinauf, so breitet sich eine wüste Felsenebene aus, welche die Straße von Catania durchschneidet. Hier lag Tycha, einst volkreich und mit vielen Gebäuden besetzt, vom Tycheion, dem Tempel der Glücksgöttin, so benannt. Dieses Viertel stieß nördlich ans Meer beim Hafen Trogilos und schloß weiter die Stadt auf dem nördlichen Rand der Felsenhochebene, stark ummauert. Westlich endigte Tycha gegen das feste Epipolä. Cicero nennt dort ein Gymnasium (amplissimum) und viele Tempel; aber heute sieht man nichts als Gräber im Boden, horizontal eingehauen und noch mit der Umreifung für die Platte versehen. Oft finden sich Wagengeleise durch solche Grabvertiefungen unterbrochen, ein Beweis, daß diese Gräber sehr späten Ursprungs sind.

Die Wanderung durch Tycha oder von Neapolis her, auf der Floridiastraße nach Epipolä, dem letzten und höchsten Stadtteil, der ganz ins Land hinein liegt, ist sehr beschwerlich, mag man sie zu Pferd oder zu Fuß unternehmen. Denn sobald man nach Epipolä kommt, muß man über wüstes Getrümmer von Kalkfelsen auf einer entsetzlich steinigen Straße fortklettern. Epipolä nahm nämlich den höchsten Punkt der Felsenhochebene ein und endigte mit dem Hügel Euryalus in der scharfen Spitze des ganzen Dreiecks, während unter dem Euryalus ein zweiter Hügel, das Labdalon, lag. Beide erkennt man noch heute als die untrüglichen Wahrzeichen dieser alten Festungsstadt; sie heißen jetzt Belvedere und Mongibellisi.

Das Labdalon bauten die Athener unter Nikias, um von hier die Stadt zu beherrschen; sie hatten sich überhaupt in Epipolä festgesetzt, bis sie von den Syrakusiern unter Gylippus daraus vertrieben wurden, welche dann, wie Diodor sagt, die Mauer auf der ganzen Höhe von Epipolä niederrissen. Seitdem wird das Labdalon als Kastell nicht mehr erwähnt. Dionys ließ durch den Bau seiner berühmten Mauer auf der Nordseite von Epipolä, welche 30 Stadien, fast eine deutsche Meile lang war, jene alten Werke abtragen. Diese Mauer war mit vielen Türmen besetzt und ihre Quadern so dick, daß sie nicht erstürmt werden konnte. Ob Dionys auch Kastelle auf dem Labdalon und dem Euryalus errichtet habe, wird nicht gesagt, nur erfahren wir, daß jenes Hexapylon, durch welches die Römer in die Stadt eindrangen, auf der Nordseite von Epipolä lag, und ohne Zweifel stand in derselben Mauer auch der Turm Gallagra, den die Römer während des Dianenfestes zuerst erstiegen. Was nun heute als Labdalon gezeigt wird, jene ungeheuren Quadern von drei bis vier Meter Länge, jene Fundamente von Türmen, die Gräben, die unterirdisch in den Fels gehauenen Gänge, bewies mir, daß hier ein Fort gestanden, welches sorgsamer angelegt wurde, als es die Athener zum Zweck der Belagerung konnten getan haben. Nach altgriechischer Weise sind die riesigen Quadern ohne Mörtel aufeinandergesetzt; namentlich bilden sie noch an einer Stelle eine höchst imposante Masse. In dem lebendigen Felsen selbst fand ich gleich Katakomben große Galerien von neun bis zehn Fuß Höhe und acht Fuß Breite ausgehauen; sie bilden mit ihren Korridoren und unterirdischen Räumen eine zweite sehr ausgedehnte Festung. Die Höhe dieser Gänge hat die Annahme veranlaßt, daß hier die Reiterei ihre Station hatte. Wahrscheinlich verband sich die unterirdische Festung durch Ausfalltore mit der Stadt und dem Feld. Auch hier beweist der gänzliche Mangel an Gewölbbau und die allenthalben geradlinige Struktur der Gänge den griechischen Ursprung.

Man sieht nun von den Quadern des Labdalon in die fürchterliche Steinwüste von Epipolä hinab; überall erblickt man teils ungeheure Steine von der Dionysischen Mauer, teils Ruinen der Kastelle, teils den jähen Absturz der Kalkfelsen. Auch hier befinden sich Latomien; es sind die wildbizarren Steinbrüche, worin Dionys den Philoxenus einsperrte, und wo dieser seinen Kyklopen dichtete. Von hier holten viele Städte Baumaterial; ein großer Teil der Festungswerke in Syrakus wurde aus den Trümmern der Dionysischen Mauer erbaut, und als der wahre Verwüster des alten Syrakus ist eigentlich Karl III. von Neapel zu betrachten. Sieht man nun die unendlichen Steinmassen, so muß man über die Fülle des schönsten Materials erstaunen; dieser Reichtum an Stein, der durch das Eisen so leicht zu bearbeiten ist, machte die Ausbreitung von Syrakus erst möglich, wie die ganz ähnliche Beschaffenheit des neapolitanischen Gesteins das Anwachsen Neapels und seiner Vorstädte ungemein erleichtert hat.

Weiter hinauf führt ein rauher Weg nach dem Euryalus, der Endspitze der syrakusischen Felsebene. Der melodische Name tönt schön und schwermütig in dieser Wüste. Ein elender Ort hat sich jetzt am Fuß des Kalkfelsens angesiedelt; oben steht ein Telegraph. Keine anderen Reste sieht man dort als eine Zisterne und altes Gemäuer von zweifelhaftem Ursprung. Daß hier ein Kastell gestanden, lehrt die Lage des Hügels, da er das ganze Stadtgebiet Syrakus überherrscht. Es ist ungewiß, ob Dionys das Fort Euryalus erbaute; zur Zeit der athenischen Belagerung wird es nicht genannt. Dagegen war es von großer Bedeutung als Marcellus Syrakus bestürmte. Nachdem er nämlich schon Tycha und Neapolis in seine Gewalt bekommen hatte, blieb der Euryalus, welchen Livius Hügel und Burg nennt, in seinem Rücken und bedrohte seine Stellung. Er selbst war in den Mauern jener Stadtteile so gut wie eingeschlossen, und da Hippokrates und Himilkon von der Landseite heranzogen, um sich in den Euryalus zu werfen, lief er Gefahr, zwischen ihm und Achradina gänzlich abgesperrt zu werden. Die uneinnehmbare Burg übergab endlich Philodemus auf Kapitulation, weil ihm die Hoffnung des Entsatzes geschwunden war.

Heute heißt der Hügel mit Recht Belvedere, wegen der köstlichen Aussicht, die er gewährt. Denn von seiner Spitze überschaut man das herrlichste Gemälde. Den Horizont schließt vorwärts die große Linie des ionischen Meers, rückwärts «die himmlische Säule» des Ätna, großstilisierte Gebirgsketten ziehen sich landeinwärts in flimmernden Lichtern, und die Ostküste der Insel mit den prächtigsten Golfen und Vorgebirgen liegt, bis weit über Agosta und wo sich Catania im Duft verliert, vor den Blicken aufgetan. Vor sich sieht man über die ganze syrakusische Ebene, welche drei Stunden weit bis zur Orthygia sich herabsenkt. Denkt man sich dies ungeheure Gebiet mit dem alten Syrakus bedeckt und noch den Golf von Landhäusern und Ortschaften umkränzt, so muß der Anblick einer so großen Stadt, die sich als eine Riesenpyramide landwärts hinaufzog, gleichsam in vier Stockwerken oder Stadtstufen sich erhebend, über alles Vorstellen großartig gewesen sein, und hier scheint die Angabe, Syrakus habe in seiner Blütezeit eineinhalb Millionen Einwohner gezählt, nicht übertrieben.

Einer syrischen Steinwüste gleich breitet sich nun diese Ebene bis zur Insel hin, welche ins Unscheinbare sich verliert. Nur südwärts vom Felsenrand der Neapolis lacht eine immergrüne Niederung, und man kann dort den Lauf der Quelle Cyane und des Anapus verfolgen. Dorthin wollen wir noch hinübergehen.


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