Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Wie prächtig ist der Volskerwald! Ich sah nie zuvor eine solche Wildnis voll poetischen Lebens. Hier ist das Land der Elfen und Feen, und im tiefsten Dickicht in einer grauen Höhle schläft der alte Saturn mit langem silberweißem Bart. Ich bewunderte die herrlichsten Baumphänomene; die Buche mit ihrem in den blauen Äther greifenden Wipfel gleicht an Farbe ganz und gar dem Felsgestein, auf dessen sanftem Grau die Moose haften. Manchmal schien es, als wäre dieser riesige Baum nur die organische Fortsetzung des Felsens selbst, auf dem er stand.

Wir sprangen an einem schönen Ort von den Pferden und warfen uns ins Gras. Ringsum standen Brombeersträucher mit ihren reichen Früchten bedeckt und boten uns die Nachkost zu einem ländlichen Frühmahl. Nicht weit davon ein grüner Teich, von Schilf und Gras umwoben, in einer träumerischen Versunkenheit. Wie schön muß es hier zu streifen sein, wenn der Mond hoch droben durch die Buchenwipfel wallt und alle Elfen über dem blumigen Grund ihre Ringelreihen tanzen.

Endlich öffnete sich der Wald an dem südwestlichen Abhange, wir kamen auf die andere Seite des Gebirgs, und plötzlich war mir wie einem, dem man die verbundenen Augen löst, daß ihn ein wunderbarer Anblick überrasche. Vor mir lag das strahlende Schauspiel der Maritima, das weite pontinische Sumpfland, ein in sanftesten Farben glühender Teppich, das von der Sonne vergoldete Meer, die fernen Ponza-Inseln in seiner strahlenden Flut, das Kap der Circe, der Turm Astura, die Linea Pia, das Kastell Sermoneta zu unsern Füßen. Der Anblick dieses Gemäldes, eines der schönsten, welches Italien überhaupt besitzt, war, da wir eben aus dem Walddunkel hervorgekommen waren, so überwältigend, daß ich dafür weder damals ein Wort fand, noch heute eines habe. Man hatte mir in Rom gesagt, daß der Ritt über den Kamm des Volskergebirgs und dann der Blick von der Höhe auf die Sümpfe und das Meer das Schönste sei, was der Wanderer weit und breit genießen könne, und man sagte mir nicht zuviel. Ich will jedem Reisenden raten, dies einzige Schauspiel sich nicht entgehen zu lassen, wenn er im Römischen sich befindet.

Wir erreichten nach sechsstündigem Ritt den kleinen Ort Norma. Er steht auf der luftigen Fläche einer hohen, an manchen Stellen schwindelnd steil abstürzenden Bergwand, seitwärts von den zyklopischen Trümmern des uralten Norba. Norma, Norba, Ninfa sind hier die märchenhaften Wesen, die man überall nennen hört, die man aufsucht, und deren dichterische Namen diese Berge mit einem phantastischen Hauch von Mythen umgeben. Norma, Norba, Ninfa, Cori, Sermoneta, welche melodischen Namen, wie reizen sie nicht die Phantasie!

Als wir in das Gasthaus zu Norma traten und der Wirt uns in das Zimmer führte, aus dessen Fenstern all die Herrlichkeit der Maritima übersehen wird, fiel unser Blick tief unten am Rande der Bergwand und gerade unter uns auf einen großen Ring wie von efeugrünen Mauern, und darin lagen viele wunderliche Hügel, die alle von Blumen gebildet zu sein schienen. Graue Türme stiegen daraus hervor, Ruinen, alle grün umhängt, und mitten durch diesen seltsamen Kreis sahen wir einen silbernen Quell forteilen, die Pontinischen Sümpfe durchziehen und in einem lichtstrahlenden See fern am Meeresstrand verschwinden. Ich fragte erstaunt, was jener rätselhafte große Blumenkranz und Kreis mit den vielen grünen Hügeln dort unten sei. «Nympha, Nympha!» sagte unser Wirt. Nympha! Das also ist Nympha, das Pompeji des Mittelalters, diese im Pontinischen Sumpf versunkene Stadt und Geisterwelt. Wir werden sie heute am Abend durchwandern, wenn die sanfte Selene sich über die grauen Zyklopensteine Norbas erhebt.

Wir hielten im Gasthaus ein gutes Mittagsmahl und eine erquickende Rast; dann durchschritten wir den kleinen Ort, um Norba zu besuchen. Norba ist der altvolskische Name der Stadt, und erst später entstand daraus Norma, ich weiß nicht in welcher Zeit. Zum erstenmal begegnete er mir so am Anfang des 8. Jahrhunderts, wo der griechische Kaiser Konstantin V. dem Papst Zacharias zwei Grundstücke Nymphas et Normias schenkte, die dem Staat angehört hatten. Schon damals war also (denn so muß ich annehmen) die volskische Stadt Norba verlassen, und in ihrer Nähe mußte sich Normia oder Norma bereits angesiedelt haben.

Die Ruinen des alten Norba liegen nur wenige Minuten seitwärts von Norma entfernt. Sie bestehen aus den noch bedeutenden Überresten der Burg und der zyklopischen Mauern, welche jene umgaben. Die Arx lag auch hier auf einer Felsenfläche, die, schon von Natur befestigt, nach der Seite der Pontinischen Sümpfe in schwindelerregender Steile abwärts fällt. Doppelte Mauern umgeben das innere Viereck der Burg. Noch führt ein altes Tor hinein, an dessen einer Ecke sich eine runde Masse von Zyklopensteinen in einer Höhe von 36 Fuß wie ein Pfeiler oder Turm erhebt. Die Mauern haben bisweilen eine Höhe von 40-50 Fuß und bieten ein gewaltigeres Ganzes dar als die in Segni. Sie umziehen in langen Linien den steilen Kalkberg; oben aber auf einer Felsenfläche, welche zu einem ebenen Viereck abgearbeitet worden ist, sieht man noch drei aus Zyklopensteinen aufgebaute große Fundamente, auf denen einst vielleicht die Heiligtümer der Stadt oder andere Gebäude der Burg standen,

Wenn man sich einen solchen Bau, sei es Tempel oder Haus, im Verhältnis zu den Zyklopenmauern selber denkt, so muß er von einem großartigen, obwohl schweren und düsteren Charakter gewesen sein. Wir können uns eine Architektur der Art, wenn auch nur aus der Ferne annähernd, etwa aus dem Tabularium Roms wiederherstellen, welches einer Zeit angehört, die an die volskische und etruskische Bauepoche grenzt. Denn es ist irrig, anzunehmen, daß jene sogenannten Zyklopenmauern einer fabelhaften Urzeit angehören. Von ihnen bis zum Mauerbau der sogenannten servischen Zeit in Rom war nur ein Schritt zu tun, wie ich dies schon bei Alatri bemerkt habe.

Eine antike Zisterne, einige unterirdische Gemächer und Grotten: dies ist alles, was außer der Akropolis und den Mauern vom alten Norba sichtbar blieb. Mir fiel es auf, daß man nirgend Grabmäler oder Loculi in den Felsen bemerkt, wie in den alten Städten Etruriens oder in jeder antiken Stadt Siziliens; und namentlich sind es die sizilianischen Städte, welche wie Syrakus, Leontium, Agrigent und Enna eine erstaunliche Menge von Felsengräbern enthalten. In Norba sah ich deren keins, doch ist es möglich, daß sie meinem Blick entgingen. Das Volk in Norma nennt übrigens die alte Stadt Civita la Penna, und ich kann mir nicht erklären, wie dieser Name hierhergekommen sei. Denn aus dem Spanischen scheint er abzuleiten, wo Pegna oder Peña Felsen bedeutet. Der Name Felsenstadt ist passend für das mythische Norba, welches Herkules erbaut haben soll.

In späteren Römerzeiten hing Norba dem Marius an. Es wurde deshalb von Emilius Lepidus, dem General Sullas, belagert; er drang mit Hilfe von Verrätern in die feste Zyklopenstadt, aber die verzweifelten Einwohner stürzten sich selbst, wie die Bürger Numantias, in die Flammen ihrer Häuser. Vielleicht blieb Norba schon seit jener Zeit in Ruinen; wenigstens kennt sie schon Plinius als verödet.

Oben auf der Arx ist das Panorama der Maritima überaus herrlich. Deutlich wird der ganze Ufersaum des Meeres erkannt, welcher von Antium bis zum Kap der Circe bei Terracina reicht; selbst weiterhin werden Ostia, Pratica und Ardea und viele Strandtürme sichtbar, die sich einsam wie Obelisken am Meer erheben. Diese Wachttürme wurden seit dem 9. Jahrhundert gebaut, als die Sarazenen anfingen, die Küste Italiens zu überfallen, und noch heutigentags ist ganz Italien, sind alle italienischen Inseln an ihrem Saum von solchen malerischen Türmen umkränzt. In jedem liegen etwa fünf Mann Artillerie, welche alte, wunderlich aussehende Kanonen hüten, die nun schon seit Jahrhunderten verrostet sind. Lamoricière, der neue Generalissimus der päpstlichen Armee, hat die Kanoniere aus den Türmen nach Rom gezogen und auch die Feldschlangen abholen lassen, die dort auf den Plattformen ins Meer hinausgähnten, wo nun statt der Sarazenen Garibaldische Freischaren heimlich zu landen versuchen.

Dort sehe ich einen Turm am Meeresstrand schimmern, wo der dunkle Wald ganz nahe herbeikommt: es ist das berühmte Schloß Astura. Eine Meile weiter ein anderer Turm: Foceverde, von dem Fluß so genannt, der dort aus der versumpften Waldeswildnis ins Meer fließt. Weiterhin ein Turm an einem großen See; dessen Wasserfläche leuchtet wie fließendes Gold, und ringsum zieht sich dichter grüner Wald. Eine geisterhafte Stille umfängt dort den Wandersmann; er steht wie in eine fremde Welt versunken am See und blickt den Fischadlern zu, die darüber hinkreisen, oder dem fieberbleichen Fischer, der auf dem schwankenden Nachen schwebt, oder dem halbnackten Blutegelsucher, der dort sein Wesen treibt. Das ist Turm und See Fogliano, einst im Altertum Clostra Romana, wo Lucullus eine Villa besaß. Der Nymphäus, jener reißende Bach, den wir durch die grünen Ringe von Nympha fortstürzen sehen, ergießt sich in jenen See; wir können seinem Lauf durch das ganze pontinische Sumpfland bis dahin folgen. Weiter neben ihm wird der Lago de' Monaci sichtbar, dann der Lago di Crapolace, endlich der große See von Paola mit seinem Turm, und nicht weit von ihm steigt das Kap der Circe inselartig auf.

Wer die Pontinischen Sümpfe nicht auf der Via Appia bis nach Terracina durchreist hat, macht sich die irrigste Vorstellung von ihrer Natur, indem er nur an ekle Moräste denkt. Es gibt dort freilich Sumpf und See genug, aber sie liegen in Wäldern und Büschen versteckt, wo das Stachelschwein, der Hirsch, das wilde Schwein, der Büffel und das halbverwilderte Rind umherstreifen. Im Mai und Juni ist das pontinische Land ein Meer von Blumen, die, so weit das Auge reicht, sich über die Gefilde ergießen. Im Sommer ist es ein Tartarus, wo das blasse Fieber umherschleicht und die armen Hirten oder Ackerleute auf den Gehöften plagt, die dort ausdauernd ihr Brot erwerben.

Je näher am Meer, desto mehr Wald, und wir sehen ihn von Norba aus deutlich sich bis zum Kap der Circe fortziehen. Es reihen sich von der Tibermündung her aneinander die Wälder von Ostia, von Ardea, von Nettuno, Cisterna und Terracina. Mitten in ihrem Dickicht oder an ihren Säumen liegen einzelne Gehöfte, hauptsächlich für den großen Viehbestand bestimmt, aber auch Ackerwirtschaften; so Conca, Campo Morto, Campo Leone, Tor' del Felce und andere. Wo der Wald nach dem Innern zu aufhört, ziehen sich endlose Wiesen hin, dann festes Ackerland, und wir sehen deutlich die von Pius VI. erneuerte Appische Straße die Maritima durchschneiden. Wir sehen an ihr Cisterna, den größten Ort in den Sümpfen, woneben im Altertum Tres Tabernae lag, und weiterhin For' Appio, das alte Forum Appium.

Kein Jahrhundert ist imstande gewesen, die Pontinischen Sümpfe auszutrocknen. Julius Cäsar hatte diesen Plan, aber er starb, ehe er an die Ausführung desselben ging. Die römischen Kaiser, so verschwenderisch in Bauten jeder Art, taten nichts dafür; es ist daher merkwürdig genug, daß erst unter einem Barbarenkönig, dem Erben oder Eroberer Roms, unter dem großen Theoderich sowohl die verfallene Appische Straße hergestellt, als ein Teil der Sümpfe bis Terracina ausgetrocknet worden ist. Noch heute liest man die Urkunden jener rühmlichen Tat eines Goten auf zwei Inschrifttafeln in Terracina. Unter den Päpsten war es erst Sixtus V., ein Mann von praktischem Römergeist, welcher die Austrocknung der Sümpfe wieder unternahm, und ihm folgte darin mehr als zwei Jahrhunderte später Pius VI. Dieser Papst stellte die Via Appia (von ihm Linea Pia genannt) wieder her, zog den großen Kanal neben ihr, ließ andere Kanäle ausgraben, verwandelte einen Teil der Sümpfe in ackerbares Land und erwarb sich dadurch ein bleibendes Verdienst um diesen Teil der Maritima.

Wir steigen von der Zyklopenburg Norbas nach Nympha hinunter, denn diese verlassene Stadt liegt tief zu deren Füßen, schon am Rande der Sümpfe, und man gelangt zu ihr entweder auf der bequemen im Zickzack hinabführenden Straße Normas, oder man sucht sich selbst einen Pfad auf dem steilen Niederhang des Bergs von Norba. Da wir flink zu Fuße sind, wählen wir den letzten Weg, und es geht mit «Donnergepolter» über die Felsen im Sprung hinab.

Da ist Nympha, die märchenhafte Ruine einer Stadt, mit ihren Mauern, Türmen, Kirchen, Klöstern und Wohnungen halb versunken im Sumpf und begraben unter dichtestem Efeu. Wahrlich, dieser Ort sieht reizender aus als Pompeji selbst, dessen Häuser umherstarren wie halb zerfallene Mumien, die man aus der vulkanischen Asche emporgezerrt hat. Aber über Nympha wogt ein duftiges Meer von Blumen; jede Wand, jede Mauer, jede Kirche, jedes Haus ist mit Efeu verschleiert, und auf allen Ruinen wehen die purpurnen Fahnen des triumphierenden Gottes des Frühlings.

Es macht einen unbeschreiblichen Eindruck, in diese Efeustadt einzuziehen, in den begrasten, blumenbedeckten Straßen, zwischen ihren Mauern umherzuwandeln, wo der Wind in den Blättern spielt, keine Stimme schallt als der Schrei des Raben im Turm, als das Rauschen des schäumenden Bachs Nymphäus, das Lispeln des hohen Schilfs am Weiher, und das melodische Singen und Säuseln der Halme ringsumher.

Blumen wimmeln durch alle Straßen, sie ziehen in Prozession nach den verfallenen Kirchen, sie klettern auf alle Türme, sie liegen lachend und kichernd in allen öden Fensterräumen, sie verrammeln jede Türe, denn drinnen hausen Elfen, Feen, Wassernymphen und tausend reizende Geister der Fabelwelt. Gelbe Kamillen, Malven, duftige Narzissen, graubärtige Disteln, die einst hier als Mönche gelebt hatten, weiße Lilien, die im Leben fromme Nonnen gewesen waren, wilde Rosen, Lorbeersträucher, Mastix, hohe Farren, die Klematiswinde und der Brombeerstrauch, die roten Fuchsschwänze, die wie verzauberte Sarazenen aussehen, die phantastische Kaperblume in den Ritzen der Mauern, der duftige Goldlack, die Myrte und die würzige Menthe, ganz von Gold starrende Ginster, und nun der dunkle Efeu, der alle Trümmer überwallt, der über die Mauern sich ergießt in grünen Kaskaden – ja, man wirft sich in dies Meer von Blumen, ganz trunken und vom Duft berauscht, und das reizendste Märchen hält die Seele umfangen.

Noch stehen die Mauern der Stadt aufrecht: sie umziehen sie in einem großen Ringe, aber sie sind überall von Efeu dicht bedeckt, nur hie und da taucht aus ihm eine zerbröckelte Zinne und ein viereckiger zerbrochener Turm hervor. Die Stadttore sind nicht minder von wildem Wein, Efeu und Brombeergestrüpp verrammelt und verbarrikadiert, als fürchteten die Blumen in Nympha einen Feind, der von draußen eindringen wollte, wie ehemals die Sarazenen, oder das Soldheer Barbarossas oder des Herzogs von Alba und der Colonna. Sie haben sich hinter Efeuwällen verschanzt; vielleicht sind es nachts die wilden Schwärme von Meteoren und Irrwischen im Pontinischen Sumpf, welche die verzauberte Stadt belagern oder stürmen, um die Blumengeister drinnen in ihre Sümpfe zu entführen.


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