Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Ravenna

1863

Seit dem August des Jahres 1863 geht die adriatische Zweigbahn von Castel Bolognese nach Ravenna. Man gelangt jetzt in diese berühmte Stadt von Bologna aus über Imola, Lugo und Bagnacavallo in wenig mehr als drei Stunden; und so ist eine der merkwürdigsten Städte des Altertums und Mittelalters, die bisher vom Menschenverkehr abgelegen und in einer nur mühsam erreichten Einsamkeit halb verschollen war, mit dem allgemeinen Leben neu verbunden worden.

Die Städte Italiens stellen fast durchweg die zwei großen Epochen der Geschichte dieses Landes in ihren Denkmälern dar: das römische Altertum und das christliche Mittelalter. Nur Ravenna ist das Monument des Überganges aus der einen Epoche in die andere, und deshalb von unvergleichlichem Wert. Das römische Kaisertum in der Zeit seines Falles unter die Germanen, die erste Gründung des germanischen Königtums in Italien auf den Trümmern jenes Römerreiches, die sechzigjährige Herrschaft der Ostgoten und die ihr folgende, zwei Jahrhunderte umfassende Despotie der Byzantiner, alle diese Epochen haben in jener einen Stadt ihr Theater gehabt und noch zahlreiche Denkmäler ihrer Geschichte in ihr zurückgelassen. Wer nach Ravenna kommt und diese Monumente so alter Zeit sieht, Grabmäler des fünften und sechsten Jahrhunderts, Kirchen strahlend von Musiven ebenderselben Zeit, wird von ihnen fast so ergriffen wie von den Resten Pompejis. Und in der Tat, Ravenna ist das Pompeji der gotischen und byzantinischen Epoche.

Die oft fast unversehrte Erhaltung dieser Denkmäler ist einem Wunder gleich zu achten, wenn man sich vorstellt, welche wilde, verwüstende Jahrhunderte darüber hinweggegangen sind. Sie erklärt sich für das frühere Mittelalter aus dem glücklichen Umstande, daß es den Langobarden nicht gelang, Ravenna den byzantinischen Exarchen zu entreißen. Erst im Jahre 727 oder 728 vermochte der König Liutprand dort einzuziehen, in einer Zeit, wo jene furchtbaren Krieger bereits von der Kultur gezähmt waren. Weder er noch sein zweiter Nachfolger auf dem langobardischen Thron, Aistulf, vergriffen sich an den Monumenten dieser berühmten Stadt. Nur Classe, eine Vorstadt, mochte durch Liutprand zerstört worden sein.

Lange Zeit war Ravenna Sitz der byzantinischen Verwaltung Italiens, von wo aus das tief herabgekommene Rom wie eine Provinzialstadt regiert wurde. Sie genoß daher ab und zu der Fürsorge selbst byzantinischer Kaiser, welche dies Kleinod ihrer italienischen Länder anfangs mit Eifersucht hüteten. Als später mit dem Falle des Langobardenreiches und des Exarchats der Papst in Rom ihren Besitz auf Grund der Pippinischen Schenkungen beanspruchte, erhoben sich gegen diese Ansprüche die Patriarchen oder Erzbischöfe der Stadt. Sie machten sich zu Herren der Romagna, setzten sich an die Stelle der Exarchen und behaupteten, in hartnäckigem Widerstande gegen den Primat der römischen Kirche und unter den Privilegien der Kaiser, lange Zeit die Herrschaft über Ravenna. Sie wetteiferten mit den Päpsten und mit Rom, indem sie die ehemalige Kaiserresidenz vor dem Verfalle schützten und mit immer neuem Schmuck versahen. Diese noch durch Handel mächtige und volkreiche Stadt war daher zweimal die Nebenbuhlerin Roms, nämlich in der letzten römischen Kaiserzeit und der ersten Epoche des sich bildenden Papsttums im Sinne der kirchlichen Suprematie.

Die Erinnerungen an so große und tragische Ereignisse des römischen Verfalls und der Völkerwanderung, an die Epoche des Stilicho, Attila, Alarich und Genserich, oder an die Gotenherrschaft, deren unsterbliche Charaktergestalt Theoderich noch das heutige Ravenna zu beherrschen scheint, die Vorstellung ferner von dem Untergange dieser Goten und ihren gigantischen Todeskämpfen, aus denen Totila und Belisar, Tejas und Narses heldenhaft emporsteigen, sodann das fast mythisch gewordene Dunkel der byzantinischen Epoche unter den Exarchen, welches nur sparsam durch einige Chronisten erhellt wird: alles dies verleiht Ravenna einen Reiz, der mächtig aufregt, wenn man sich der Stadt nähert und ihre braunen Türme aus der stillen, sumpfigen Ebene hervorragen sieht.

Wie wird eine Stadt aussehen, welche das Denkmal solcher Zeiten und Taten ist? Sie wird finsterer und melancholischer erscheinen als das hochgetürmte Bologna, welches wir nur eben verlassen haben. Aber auch hier erfahren wir, daß die Wirklichkeit sich zur eingebildeten Vorstellung immer ironisch verhält, und daß diese eine gewisse Zeit braucht, um sich zu reinigen und der reellen Gestalt der Dinge ganz mächtig zu werden. Die Enttäuschung ist groß. Hundert andere Städte des historischen Italiens, selbst kleine Kastelle in den Gebirgen sehen auf den ersten Blick geschichtlicher, mittelalterlicher und überhaupt monumentaler aus als dies gotische und byzantinische Ravenna. Erst wenn man dessen Denkmäler aufsucht und darin umherwandert, fühlt man das Wehen des Hauchs alter Vergangenheit in solcher Macht, wie etwa nur in Rom allein, wo der geschichtliche Geist freilich ein universaler ist, während er in Ravenna nur einer Periode angehört, aber diese ist hier einzig vertreten und ausgedrückt.

Hier sind überall totenstille Straßen, meist von kleinen Häusern aus moderner Zeit, doch geräumig und in der Regel geradlinig gebaut, weil die Stadt auf einer Fläche liegt. Eine träumerische Versunkenheit in sich selbst, eine melancholische Verkommenheit. Auf den Plätzen hie und da wunderliche Säulen des Mittelalters, Schutzpatrone tragend; hie und da das sitzende Standbild eines um die Stadt verdienten Papstes, nachdenklich in sich versunken, vom Alter geschwärzt. Jede Spur der großen Epoche des guelfischen Mittelalters in Palästen oder bedeutenden Kirchen, wie sie andere Städte in so großer Fülle darbieten, ist verschwunden. Nur dann und wann ein stumpfer und gesenkter Turm oder Paläste verödeten Ansehens, doch erst aus dem fünfzehnten und späteren Jahrhunderten. In dieser Stille zahlreiche Kirchen, äußerlich in halbverfallenem Zustande, mit uralten ihnen getrennt zur Seite stehenden Glockentürmen aus einfachem und rohem Ziegelbau. Einige modern restauriert, andere in unversehrtem, eigentümlichem Stile der Gotenzeit. Alle eher von kleinen als von großen Verhältnissen; keine durch Gestalt imponierend, wie ein Dom von Pisa, Siena oder Orvieto; aber innen mit byzantinischen Mosaiken bekleidet und mit figurenreichen Kompositionen geschmückt, welche einer Kunst angehören, die sonst in aller Welt nur wenige Denkmäler aufzuweisen hat. Diese uralten Kirchen scheinen wie verzaubert in unserer Gegenwart dazustehen. Sie sind es, welche die Geschichte jener Vergangenheit festhalten, und die heutige Stadt Ravenna ist kaum mehr als ihr musivisch ausgelegtes Grab.

Die Überreste des alten Ravenna der Römer sind auffallenderweise ganz verschwunden. Classe und Cäsarea, einst bedeutende Vorstädte, welche mit großen Bauwerken erfüllt waren, liegen im Sumpf versenkt, und kaum eine Spur gibt von ihrem Dasein Kunde. Ravenna war einst das Avignon der römischen Kaiser. Als Honorius im Jahre 404 aus Furcht vor den andringenden Goten seine Residenz von Rom in diese Stadt verlegte, welcher damals Sümpfe, Flüsse und das Meer eine große Festigkeit gaben, verstärkte er ihre Mauern und baute sich vielleicht selbst eine kaiserliche Residenz. Wo diese oder wo der Palast der Galla Placidia und jener Valentinians III. standen, weiß man nicht mehr, obwohl man ihren Ort bezeichnen will. Antonio Zirardini, ein Rechtsgelehrter Ravennas und Archäolog ersten Ranges, schrieb im Jahre 1762 sein treffliches Buch über die antiken Bauwerke seiner Vaterstadt (degli antichi edifizi profani di Ravenna), welches noch heute das beste Werk über diesen Gegenstand ist; aber seine mühsamen Forschungen vermögen nur wenig Licht über das alte Ravenna zu verbreiten. Honorius erlebte im dortigen Kaiserpalast den ersten Fall und die Plünderung Roms durch die Westgoten Alarichs, und starb dort auch im August 423. Er wurde indes neben dem S. Peter in Rom begraben. Für uns beginnen die historischen Monumente Ravennas mit dem Mausoleum seiner Schwester Galla Placidia, einer der merkwürdigsten Frauengestalten aus der Epoche des Falls des römischen Kaiserreichs, deren Schicksale mit diesem selbst tief und tragisch verflochten sind. Die Tochter Theodosius' des Großen lebte im Cäsarenpalast von Rom als ein Mädchen von 21 Jahren, während Alarich die Hauptstadt der Welt belagerte, eroberte und plünderte. Er führte sie gefangen mit sich nach Kalabrien, und bald darauf mußte die Tochter und Schwester von römischen Kaisern sich in Narbonne mit Alarichs Nachfolger Ataulf vermählen. Sie folgte ihrem germanischen Gemahl nach Spanien, erlebte dort dessen und ihres Sohnes Theodosius Tod, und wurde darauf unter Mißhandlungen empörender Art ihrem Bruder Honorius nach Ravenna zurückgeschickt. Er zwang sie hier, dem General Constantius ihre Hand zu geben, welchem sie zwei Kinder, Valentinian und Honoria, gebar. Als auch Constantius gestorben war, wurde Placidia von ihrem Bruder nach Byzanz verbannt, von wo sie nach des Honorius Tod mit einer griechischen Flotte wiederkehrte, um ihren jungen Sohn Valentinian III. auf den Thron des Abendlandes zu setzen und als seine Vormünderin lange und unglücklich das Reich zu regieren. Sie starb in Rom im 61. Jahre ihres vielbewegten Lebens am 27. November 450. Mit ihrem Sohne Valentinian III., welcher fünf Jahre später in Rom ermordet wurde, erlosch der kaiserliche Stamm des großen Theodosius überhaupt. So ist die Geschichte des Unterganges der Familie des Theodosius zugleich die vom Fall des römischen Reichs und das Grabmal der Placidia, eins der merkwürdigsten Monumente der Welt, gleichsam das Mausoleum des römischen Reichs der alten Imperatoren. Man betritt diese kleine, düstere, von schönen Mosaiken bedeckte Gruft mit einem Gefühl historischer Pietät, welches in solcher Stärke weder das Mausoleum des Augustus noch das Grabmal Hadrians in Rom erwecken kann. Die unglückliche Fürstin wollte in Ravenna begraben sein, welches sie liebte und mit vielen Kirchen geschmückt hatte, nicht in Rom, wo ihr ganzes Lebensschicksal in der Blüte ihrer Jugend durch die schreckliche Katastrophe der eroberten Stadt eine so düstere Richtung hatte nehmen müssen. Sie hatte sich ein Grabmal bauen lassen und dieses als eine Kapelle den Heiligen Nazarius und Celsus geweiht. Es liegt nicht fern von der berühmten Kirche S. Vitale, in unmittelbarer Nähe von S. Maria Maggiore, in einem Straßenviertel so ärmlichen Aussehens, daß man schwerlich einen so kostbaren Schatz darin erwarten wird. Zur Zeit als Placidia dies Mausoleum baute, lag in jener Gegend wahrscheinlich ihr eigener Palast.

Wenn man diese Gruft der letzten Kaiserdynastie Roms mit den pomphaften Mausoleen früherer römischer Imperatoren oder selbst nur alter Senatorenfamilien vergleicht, so erkennt man an den bescheidenen Dimensionen wie an ihrem Charakter den Unterschied der Zeiten. Sie ist ganz vom christlichen Geist durchdrungen und in der Tat eine Kapelle in lateinischer Kreuzesform, nur 15 Meter lang und 12,6 Meter breit. Eine Kuppel wölbt sich über ihr, mit Mosaiken bedeckt, wie die Nischen und Bogen, und ein mattes Zwielicht fällt durch kleine Fensteröffnungen ein. Fünf Sarkophage stehen im Mausoleum, zwei kleinere sind in die Seitenmauern des Eingangs eingefügt, drei große aus griechischem Marmor, von plumper und bildloser Gestalt, füllen die drei Nischen aus, die durch die Kreuzesform gebildet sind. In der Hauptnische gegenüber dem Eingang steht die größte Urne; sie ist sieben Fuß hoch, sehr einfach und auffallenderweise ohne Schmuck heiliger Darstellungen in Relief. Es ist kein Zweifel, daß in ihr die Schwester des Honorius bestattet war. Die ravennatische Tradition erzählt, daß sie in diesem Sarkophag, auf einem Thron von Zypressenholz in kaiserlichen Gewändern sitzend, sich jahrhundertelang erhielt, und spätere Geschichtschreiber Ravennas berichten, daß erst im Jahre 1577 diese seltsame Gruftgestalt zu Asche ward. Neugierige Kinder hatten eine brennende Kerze in die Öffnung des Sarkophags geschoben, worauf die Grabgewänder in Flammen aufgingen und das Traumgebild der Placidia zerfiel.

Wer in den übrigen Sarkophagen bestattet liegt, weiß man nicht anzugeben; wahrscheinlich umschließen die beiden größeren die Reste des Generals Constantius und seiner und der Placidia Tochter, der unglücklichen Prinzessin Honoria, die sich dem furchtbaren Attila verlobt hatte. Nach einem Leben voll abenteuerlicher Leidenschaft hatte sie in einem Kloster Ravennas verschmachten müssen. Die Meinung, daß Honorius in einem jener Sarkophage bestattet liege, ist sicher irrig, denn dieser Kaiser, welcher in Ravenna starb, wurde im kaiserlichen Mausoleum am S. Peter begraben, wie die Historia Miscella es ausdrücklich erwähnt, und dort hat man noch in später Zeit, als dieses selbst verschwunden war, den Sarkophag seiner Gemahlin Maria, der Tochter Stilichos, aufgefunden. Und auch dieser berühmte Feldherr gehört wenigstens im Tode Ravenna an, denn hier ist er ermordet worden.

Die Musive des Mausoleums sind sehr merkwürdig wegen ihres hohen Alters. Da sie vor das Jahr 450 fallen, gehören sie zu den ältesten der christlichen Kunst überhaupt. Sie stellen, außer gut komponierten Arabesken, Einzelfiguren von Propheten und Evangelisten und die zweimal wiederholte Figur des Heilands dar. An ihr ist sowohl hier als in den ältesten Kirchen Ravennas die schöne, ganz jugendliche und bartlose Gesichtsbildung auffallend. Die jugendliche Vorstellungsweise des Heilands ist das früheste und ursprüngliche Christusideal, denn erst später fixierte sich jener greisenhaft finstere, abschreckende Typus des Christusantlitzes, welches man als byzantinisch zu bezeichnen sich gewöhnt hat. Daß dies irrig sei, kann Ravenna beweisen. Wenn irgendwo in Italien, so mußten hier vor allen andern Städten byzantinische Mosaizisten arbeiten, und namentlich haben sie in der Epoche Justinians ohne Zweifel in Ravenna gearbeitet. Und doch werden wir selbst noch in S. Vitale, dessen Mosaiken etwa 100 Jahre später als jene im Mausoleum der Galla Placidia gefertigt wurden, denselben jugendlichen Typus des Heilands wiedersehen, welcher so wenig byzantinisches Wesen hat, daß er vielmehr dem ursprünglichen Ideal der Katakombenmalerei ähnlich sieht. Der zweite, fast dämonische Typus Christi findet sich aber wunderbarerweise schon auf dem Triumphbogen von Sankt Paul zu Rom, welchen dieselbe Placidia zur Zeit des Papstes Leo I. (440-461) mit Musiven geschmückt hatte, wie es noch heute daselbst die Inschrift besagt (Placidiae pia mens operis decus...). Der Heiland, welcher dort in einem Brustbild übermenschlicher Größe dargestellt ist, trägt schon einen Ausdruck von wahrhaft furchterregender, greisenhafter Düsterheit. In Rom arbeiteten damals keineswegs byzantinische Künstler, sondern Mosaizisten aus der alten Kunstschule, welche bei den Thermen tätig gewesen waren, und dieses abschreckende Christusideal muß daher nicht byzantinischer, sondern römischer Auffassung angehören.


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